Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit 2004 haben wir in Sachsen ein Integrationsgesetz, aber noch immer sind Teile davon nicht umgesetzt. Da geht es mir wie Herrn Gerlach: Das macht mich unzufrieden.
Eine zentrale Schwäche dieses Gesetzes will die GRÜNEFraktion durch eine Novellierung beseitigen. Im März haben wir deshalb ein Änderungsgesetz eingebracht, das ebenso wie der Antrag der Linksfraktion heute die Barrierefreiheit zum Ziel hat. Wir wollen mit unserem Gesetz bzw. der Novellierung erreichen, dass die Verwaltungsverfahren auch auf der kommunalen Ebene barrierefrei sind. Derzeit trifft das nur auf Verwaltungsverfahren der Landesbehörden zu. Ein Teil dieser Aufgaben wurde aber im Zuge der Verwaltungsreform an die Kommunen abgegeben und wäre damit in Zukunft nicht mehr verpflichtend barrierefrei.
Der Antrag der Linksfraktion am heutigen Tag kann dazu eine sinnvolle Ergänzung sein. Deshalb unterstützen wir Ihr Aktionsprogramm „Barrierefreies Sachsen“.
Aber – darauf ist Herr Wehner schon eingegangen – Barrierefreiheit ist mehr als ein Aktionsprogramm. Barrierefreiheit muss in unserem alltäglichen Leben Fuß fassen; es muss ein Lebenskonzept werden, und die erforderli
Der vorgelegte Antrag ist recht umfassend. Andererseits werden auch mit einem solchen Antrag immer Lücken bleiben, solange wir Programme sozusagen als Krücken brauchen. Wie lange dauert es noch, bis wir selbstverständlich unseren Alltag so organisieren, dass es keine unüberwindbaren Barrieren für Menschen mit Handicap mehr gibt? Ist das eine Vision? Ich meine: Beginnen wir! Barrierefreiheit ist ein politisches Mainstreamingkonzept; das heißt, dass eine inhaltliche Vorgabe zum zentralen Bestandteil bei allen Entscheidungen und Prozessen gemacht wird. Genau das brauchen wir an dieser Stelle.
Barrieren entstehen zum Beispiel oft dort, wo es wenige, lückenhafte oder gar keine Informationen gibt. Informationen sollten umfassend und barrierefrei veröffentlich werden, besonders, wenn sie Menschen mit Behinderungen betreffen.
Ein Beispiel, das ich an dieser Stelle schon oft genannt habe, ist die Homepage des Sozialministeriums. Frau Orosz, Sie hatten mir das letzte Mal gesagt, man findet Herrn Köhler auf dieser Homepage – ich muss Ihnen sagen, ich habe es gestern Abend wieder versucht. Suchen Sie den Sächsischen Behindertenbeauftragten, und Sie werden ihn nicht finden; und eine eigene Homepage, die barrierefrei zugänglich ist, auch nicht. Behindertenbeauftragter – Fehlanzeige! Bericht des Landesbehindertenbeirates über dessen Arbeit und Ziele – Fehlanzeige!
Eine Mitarbeiterin der Fraktion hat diese Woche im Ministerium angerufen und sich nach Mitgliedern des Landesbehindertenbeirates erkundigt. Die Auskunft war: Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das sagen darf. Und sie hat mit einer Mitarbeiterin gesprochen, nicht mit einer Praktikantin. Wenn man diese Suchfunktion benutzt und „Landesbehindertenbeauftragter“ eingibt, dann wird einem Folgendes ausgegeben: In Sachsen wird die Funktion des Behindertenbeauftragten vom Sächsischen Landesbeirat für Behindertenfragen wahrgenommen. In dieser Funktion unterstützt und informiert er auch die kommunalen Behindertenbeauftragten und Behindertenbeiräte. – Also, Herrn Köhler habe ich nicht gefunden; das habe ich gestern Abend zum wiederholten Male versucht.
Deshalb: Ein Aktionsprogramm tut not. Aber die Integration von Menschen mit Handicap wird nur gelingen, wenn es nicht bei einem Aktionsprogramm bleibt, sondern wenn die wirkliche Öffnung und Offenheit der Gesellschaft für Menschen, die anders sind, gelingt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Stellen Sie sich doch einfach mal vor, Sie wären Rollstuhlfahrer, Sie
würden auf dem Lande wohnen, es wäre schönes Wetter und Sie hätten den Wunsch nach einem kleinen Ausflug. Da Sie wegen Ihrer Behinderung nicht Auto fahren können, also per Bahn. So kurzfristig und spontan dürfte Sie ein derartiger Wunsch schon von vornherein gar nicht erst übermannen, denn Sie hätten in der Hoffnung auf schönes Wetter Ihren Reisewunsch bereits zwei bis drei Tage vorher telefonisch bei der Mobilitätszentrale der Deutschen Bahn in Schwerin anmelden müssen. Dabei hätte es Ihnen schon passieren können, dass Ihr Reisewunsch sofort als unrealisierbar abgetan worden wäre, weil einer der genutzten Bahnhöfe nicht behindertengerecht ist oder der gewählte Zug nicht kompatibel mit der Bahnsteighöhe ist.
Diese Klippe überwunden zu haben hieße noch lange nicht, dass der Reisewunsch Realität werden müsste, denn es könnte sein, Sie stehen auf dem Bahnsteig, aber die für den Rollstuhl benötigte Rampe ist gerade mal wieder nicht im Zug oder es steht kein Personal zur Verfügung oder die Bundespolizei ist gerade nicht im Einsatz, um Ihnen in den Zug zu helfen.
Ich spreche nicht von Einzelfällen; es ist Rollstuhlfahrern oft genug passiert – zu oft. Würden Sie in der kleinen ostsächsischen Stadt Löbau wohnen, hätte sich Ihr Wunsch, nach Dresden zu fahren, von vornherein erledigt – zumindest seit die Deutsche Bahn auf Privatisierungskurs ist –, denn dadurch ist auch auf dem Löbauer Bahnhof sämtliches Personal abhanden gekommen – mit fataler Wirkung für die Behinderten. Der Bahnsteig Richtung Dresden ist nur durch einen Fußgängertunnel zu erreichen und damit ein unüberwindbares Hindernis für Rollstuhlfahrer.
Den ebenfalls bestehenden und über die Gleise führenden niveaugleichen Zugang zum Bahnsteig dürfen Sie bei Strafe nicht mehr benutzen, weil das zuständige Personal abhanden gekommen ist. Der letzte Fahrdienstleiter lässt noch mit seinem auch heute noch sichtbaren Aushang „Bin weg!“ herzlich grüßen.
Damit sind Sie faktisch von Fahrten in Richtung Dresden ausgeschlossen. Den Gleisübergang mit Schranken zu sichern, würde 150 000 Euro kosten – so die Bahn. – Tja, bei den Gehältern ihrer Manager kann sich das die Bahn natürlich nicht leisten.
Das gleiche Problem existiert übrigens auch in Zittau, in Bautzen, in Bischofswerda und in Görlitz. In Görlitz gibt es zwar zu jedem Bahnsteig einen Aufzug – diese Aufzüge aber dürfen aufgrund ihres Alters nur vom Bahnpersonal bedient werden. Das ist zwar wenigstens tagsüber noch vor Ort, aber ohne Voranmeldung geht natürlich trotzdem nichts.
Zum 01.02.2009 besteht außerdem die Gefahr, dass das restliche Personal auch noch abgezogen wird, weil der Bahnhof Görlitz seit 01.01.2008 nur noch in der Bahnhofskategorie 5 eingeordnet ist. Zurzeit wird versucht, wenigstens das Personal zu halten und zu hoffen, dass der
Einbau der Aufzüge förderfähig ist. Allerdings steht dem wieder die zu geringe Zahl der Reisenden entgegen.
Doch zurück auf den Löbauer Bahnhof! Dieser hält für Behinderte noch weitere, demütigende Details bereit. Als Rollstuhlfahrer haben Sie hier das Vergnügen, bei Wind und Wetter, also auch im Winter und bei Zugverspätungen, im Freien auszuharren. In das Gebäude kommen Sie ohne fremde Hilfe gar nicht erst hinein. Vor dem Haupteingang sind Stufen – ein unüberwindliches Hindernis. Der Eingang auf der Rückseite wird durch eine extrem schwer zugängliche Tür gesichert, die ein Rollstuhlfahrer allein gar nicht erst öffnen kann. Die Fahrkartenautomaten sind für Behinderte schwer bedienbar, weil sie zu hoch angebracht sind, und die Displays blenden.
Zu all diesen unerfreulichen Dingen habe ich mit mehreren Vertretern der Deutschen Bahn wiederholt Gespräche geführt. Gebracht haben sie bisher alle nichts. Wegen der Zuständigkeitsaufspaltung in Deutsche Bahn, Deutsche Bahn Service & Station, Deutsche Bahn Regio usw. reagierten alle hilflos und mit dem Verweis auf fehlende Finanzen. Für die Durchsetzung des Rechts der Behinderten auf ein selbstbestimmtes Leben fühlte sich gar keiner zuständig, ganz im Gegenteil.
Es ist interessant – besser gesagt: bedrückend –, dass sich mit der Post ein weiteres Großunternehmen offensichtlich im Zusammenhang mit der Privatisierung nicht mehr um die Barrierefreiheit schert. Mitte der Neunzigerjahre zog die – damals noch staatliche – Post in ihre neugebaute und behindertengerechte Poststelle ein: niveaugleich, mit Automatiktür und für Rollstuhlfahrer bequem zu befahren. Diese Poststelle hat sie im Vorjahr aus Kostengründen aufgegeben. Den Postdienst hat eine private Agentur übernommen, ein paar Eingänge weiter und mit drei Stufen vor der Eingangstür. Rollstuhlfahrern wird gnädigerweise das Recht gewährt, am Hintereingang zu klingeln, um sich bemerkbar zu machen.
Dies alles ist übrigens im Zusammenhang mit einem Stadtrundgang der besonderen Art deutlich geworden, der im Sommer des vergangenen Jahres in Löbau stattfand. Zu diesem hatte ich einen Rollstuhlfahrer, Vertreter des Blinden- und Sehbehindertenverbandes, einen fast Gehörlosen sowie wegen ihres Alters gebrechliche Menschen eingeladen. Anliegen des Rundgangs war es, den Stand der Barrierefreiheit in der Stadt aus der Sicht Behinderter zu ermitteln sowie Anregungen und Hinweise für Verbesserungen zu erhalten. Da sich Vertreter zuständiger Behörden sowie der aufgesuchten Einrichtungen sehr rege beteiligten und ebenso die regionalen Medien großes Interesse zeigten, konnte dieses Ziel erreicht und darüber hinaus die Öffentlichkeit für dieses Thema weiter sensibilisiert werden.
Da glücklicherweise nicht die gesamte Stadt von unter Privatisierungsdruck stehenden Großunternehmen dominiert wird, gibt es jenseits von Post und Bahn eine ganze Reihe positiver Erfahrungen. So ist die gesamte Innen
stadt für Rollstuhlfahrer gut zu erreichen, denn es gibt abgesenkte Bordsteinkanten und ein gleiches FußwegFahrbahn-Niveau. Ebenso sind viele Eingänge zu Geschäften bereits behindertengerecht.
Doch auch hier gibt es viele hinderliche Details, die einem Nichtbehinderten entweder gar nicht auffallen oder in ihrer gravierenden Bedeutung nicht wahrgenommen werden. Einige möchte ich nennen.
In der Innenstadt sind viele Fußwege und Straßen mit sehr buckeligem Pflaster versehen, deren Nutzung für Rollstuhlfahrer eine Tortur ist. Ebene Rollspuren wurden nicht angelegt; sie wären vom Denkmalschutz auch nicht genehmigt worden – schade, denn diese kämen auch Eltern mit Kinderwagen sehr entgegen.
Für Blinde sind auf dem Fußweg stehende Bänke, Pflanzkübel, Fahrradständer und Werbeträger große Hindernisse. Doch auch hier kann abgeholfen werden, wenn der Weg entlang der Hauswände frei bleibt. Blinde orientieren sich nämlich so. Es gibt in der gesamten Innenstadt keine einzige Gaststätte mit einer behindertengerechten Toilette, nicht einmal in neu gebauten Einrichtungen.
Das Rathaus bleibt Rollstuhlfahrern generell verschlossen, da es keinen Fahrstuhl gibt. Allerdings ist das Technische Rathaus behindertengerecht saniert worden und gut erreichbar.
Als Reaktion auf den Rundgang wurde inzwischen eine Hinweistafel angebracht, welche darüber informiert, dass Mitarbeiter bei Bedarf in das Technische Rathaus kommen.
Die Geldautomaten in der Sparkasse sind für Rollstuhlfahrer zu hoch angebracht. Für Blinde ist die Kundenhalle mit den mitten im Raum stehenden Geldautomaten und Tischen zu unübersichtlich. Die Sparkasse sicherte zu, beim nächsten notwendigen Ersatz eines Geldautomaten ein behindertengerechtes Modell aufzustellen. Ebenso gibt es inzwischen an den Schaltern Halterungen für Gehhilfen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Dies alles sollte Sie zu zweierlei anregen. Erstens. Schärfen Sie Ihren eigenen Blick für die Belange Behinderter! Ich kann Ihnen sehr empfehlen, in Ihrem Wohnort oder Wahlkreis ebenso Behindertenrundgänge durchzuführen. Sie werden Erstaunliches und von Ihnen noch nie Wahrgenommenes feststellen. Sie werden ebenso feststellen, dass sich sehr viel von dem, was Behinderte von einem selbstbestimmten Leben ausgrenzt, mit eigentlich geringem Aufwand beseitigen lässt. Es geht um das Überwinden der Barriere in den Köpfen derer, die das Glück haben, nicht behindert zu sein. Sie sollten diesen Umstand als Verpflichtung gegenüber denen wahrnehmen, denen solches Glück nicht beschieden ist. Aber Sie können auch einfach mal egoistisch an sich selbst als zukünftig alte und möglicherweise gebrechliche Menschen denken; denn viele Erleichterungen kommen auch diesen zugute.
Zweitens bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag. Allein mit der Sensibilisierung Nichtbehinderter
ist das Problem natürlich nicht zu lösen. Dazu bedarf es enormer gesamtgesellschaftlicher Anstrengungen. Ich glaube, dass an den vielen Beispielen deutlich geworden ist, dass noch viel zu tun ist.
Wird weiterhin von den Fraktionen das Wort gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Dann bitte ich jetzt die Staatsministerin.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Antrag soll die Staatsregierung ersucht werden, ein großangelegtes Aktionsprogramm unter dem Titel „Barrierefreies Sachsen“ aufzulegen und damit den Gedanken der Barrierefreiheit im Freistaat Sachsen zu unterstützen.
Der Gedanke der Barrierefreiheit findet sich nicht nur in diesem Begriff, sondern in allen Lebensbereichen wieder. Ich denke schon, dass in der Antwort der Staatsregierung deutlich geworden ist, wie umfangreich die Bemühungen der letzten Jahre waren, aber auch, wie viel es noch zu tun gibt.
Erstens verkennt der Antrag, der ausdrücklich auf die neuere Gesetzgebung des Behindertengleichstellungsgesetzes des Bundes und des Sächsischen Integrationsgesetzes Bezug nimmt, dass in den zurückliegenden 18 Jahren sächsischer Behindertenpolitik bereits viel erreicht worden ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir uns auf dem Erreichten ausruhen; Herr Krauß hat das schon deutlich hervorgehoben. Es gibt in der Tat noch viele Hindernisse, die behinderten Menschen die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erschweren oder sogar unmöglich machen. Auch hier gilt es, als politische Verantwortungsträger – nicht nur auf der Ebene der Staatsregierung, sondern auch auf der kommunalen Ebene – im Laufe der nächsten Jahre die eine oder andere Sache gemeinsam zu schultern. Gerade angesichts der technischen Entwicklung stellt sich die Frage nach Barrierefreiheit immer wieder aufs Neue.
Zweitens. Der Abbau von Hindernissen ist eine ständige Aufgabe, der wir uns in allen Lebensbereichen immer wieder stellen müssen. Es ist an der einen oder anderen Stelle sehr schwierig, mit einem vorgeschriebenen Plan die Dinge der Zukunft aufzuzeigen. Eine dynamische Entwicklung der Gesellschaft verlangt natürlich auch eine dynamische Begleitung der von Ihnen genannten Aufgaben in den unterschiedlichen Lebensbereichen.
Der Antrag suggeriert darüber hinaus, wir müssten uns jetzt zehn Jahre lang um den Abbau bestehender Barrieren bemühen; dann wäre das Ziel, das wir gemeinsam verfolgen, erreicht. So einfach, meine Damen und Herren Antragsteller, ist es aber nicht. Der Prozess des Abbaus
oder der Vermeidung von Hindernissen muss, wie soeben schon formuliert, ständig vorangetrieben werden.
Lassen Sie mich das an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Vor 20 Jahren war die Barrierefreiheit des Internets noch gar kein Thema. Es wäre wahrscheinlich auch niemand auf die Idee gekommen, das irgendwo festzuschreiben. Das Internet gab es schlicht und ergreifend nicht in der Form, in der wir es heute kennen. Heute, 20 Jahre später, ist das Internet eines der wichtigsten Kommunikationsmittel. Gerade Menschen mit Behinderung finden hier eine Möglichkeit, auf ganz neuen Wegen an der Gesellschaft teilzuhaben. Vergleichbare Entwicklungen können in Zukunft immer wieder auftreten.