Protocol of the Session on November 14, 2012

nen Lage und der Lage unseres Landes im Sinne dieses Gedankenguts führt. Dieser Geist, der hinter solchen Einstellungen steckt, atmet auch in Gesetzen, die die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen einschränken. Deshalb müssen wir die Einschränkung dieser Bewegungsfreiheit, also im vorliegenden Fall die Residenzpflicht, abschaffen und damit auch ein Zeichen dafür setzen, dass wir in Deutschland Flüchtlinge als Gäste und nicht als Menschen zweiter Klasse sehen.

(Beifall bei den PIRATEN, bei der LINKEN und bei B 90/GRÜNE.)

Herr Becker, Sie haben gesagt, die Integration beginne erst nach dem Asylverfahren. Dieser Meinung bin ich nicht.

(Abg. Becker (CDU) : Das ist geltendes Recht, Herr Kollege.)

Ja, aber zum Glück sind wir hier in einem Parlament, wir können Rechte ändern.

(Zuruf.)

Unnötige Hürden bei der Integration, das ist es. Wir müssen die Zuwanderung als Chance und endlich auch als Bereicherung für das gesellschaftliche Leben in diesem Land begreifen.

(Weiterer Zuruf des Abgeordneten Becker (CDU).)

Und eines muss ich Ihnen ganz deutlich sagen: Eine Ausgrenzung von Menschen, indem man sie als fremd bezeichnet oder in ein Verfahren steckt, das sie ohne zwingende Sachgründe vom Rest der Gesellschaft abgrenzt, ist mit meinem Bild von der Menschenwürde nicht vereinbar.

(Beifall bei den Oppositionsfraktionen.)

Es ist unsere moralische Pflicht, Zuflucht vor politischer oder weltanschaulicher Verfolgung zu bieten. Es ist unsere moralische Pflicht, Folgen von Krieg und Bürgerkrieg abzumildern, soweit es in unserer Macht steht. All das sind elementare Verpflichtungen des Völkerrechts.

(Zustimmender Zuruf des Abgeordneten Becker (CDU).)

Wer in Deutschland Zuflucht sucht, hat das Recht auf ein menschenwürdiges Leben. Ein solches Leben bedeutet bei uns eben auch Bewegungsfreiheit, Teilhabe an der Arbeitswelt und Teilhabe an Bildung und Kultur - auch dann, wenn die Gründe für die Flucht noch nicht anerkannt sind. Wir fordern an dieser Stelle Integration ab Tag eins und die Abschaffung der Residenzpflicht.

(Beifall bei den PIRATEN.)

Da es sich bei diesem Thema eindeutig um eine Gewissensentscheidung handelt, bitten wir bei diesem

Tagesordnungspunkt um eine namentliche Abstimmung. - Danke.

(Beifall bei den Oppositionsfraktionen.)

Das Wort hat für die SPD-Fraktion Frau Abgeordnete Petra Berg.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich zunächst einen anderen Ansatz finden. Auch für mich sind Asyl und Integration nicht völlig voneinander zu trennen, denn Ziel einer guten Integrationspolitik ist die Schaffung einer Willkommensund Anerkennungskultur. Die siebte Integrationsministerkonferenz hält in ihrem Leitantrag „Potenziale nutzen - Integration fördern - Fachkräfte sichern“ dazu Folgendes fest, und ich darf mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, zitieren: „Die Länder setzen sich für eine Kultur der Anerkennung ein, die es Menschen mit Migrationshintergrund ermöglicht, sich mit ihren Talenten, Kompetenzen und Fähigkeiten einzubringen und Verantwortung zu übernehmen.“ Dies müssen wir uns als Parlamentarier in der heutigen Debatte zu eigen machen. Wir müssen dieses Ziel als Minimalforderung unserer Diskussion annehmen.

(Beifall bei der SPD.)

Wenn wir bereits über diesen Punkt abstimmen würden, dann hätten wir - da bin ich mir sicher - jetzt und hier ein einstimmiges Ergebnis. Aber Gegenstand der heutigen Debatte ist ein Antrag, der die Abschaffung der Residenzpflicht fordert. Dazu möchte ich zunächst eines klarstellen: Als Residenzpflicht wird nach dem herkömmlichen Sprachgebrauch die Pflicht bezeichnet, an einem bestimmten Ort den Wohnsitz zu nehmen. Im vorliegenden Antrag und auch in asyl- und aufenthaltsrechtlichen Diskussionen wird hingegen die Pflicht von Asylbewerbern und geduldeten Ausländern, sich nur in einem bestimmten Bezirk aufzuhalten, häufig als Residenzpflicht bezeichnet. Dies bedeutet, dass die Pflicht von Asylbewerbern, an einem bestimmten Ort zu wohnen, nicht notwendigerweise beinhaltet, dass es verboten ist, diesen Wohnsitz vorübergehend zu verlassen. Aber das Asylverfahrengesetz regelt in § 56 - das wurde schon erwähnt - und das Aufenthaltsgesetz in § 61 sogenannte räumliche Beschränkungen. Der Begriff der räumlichen Beschränkung ist auch hier gegenständlich. Er bedeutet, dass sich Asylbewerber und geduldete Ausländer im Grundsatz nur im Bezirk der zuständigen Ausländerbehörde aufhalten dürfen. Dieser Bezirk ist in den meisten Bundesländern auf Landkreise und regionale Bezirke beschränkt. Der hier gegenständliche Antrag unterstellt fälschlicherweise, dass gerade im Saarland

(Abg. Hilberer (PIRATEN) )

die Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht erheblich eingeschränkt ist. Das ist mitnichten der Fall.

(Beifall bei der SPD.)

Für das Saarland bedeutet räumliche Beschränkung, dass sich Migrantinnen und Migranten im gesamten Land aufhalten dürfen, ohne dass es einer weiteren gesetzlichen Regelung oder einer besonderen Genehmigung seitens der Ausländerbehörde bedarf. Das ist anders als in anderen Bundesländern, Frau Kugler.

(Zuruf des Abgeordneten Ulrich (B 90/GRÜNE).)

In der Tat wird derzeit in anderen Bundesländern angestrebt, die räumliche Bewegungsfreiheit auf das Gebiet des jeweiligen Bundeslandes auszudehnen, weil dort, wie bereits gesagt, der Aufenthalt bisher auf bestimmte Landkreise beschränkt ist. Derzeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist in zehn Bundesländern die Residenzpflicht auf das jeweilige Land beschränkt.

(Sprechen und Zurufe.)

Aber wir wollen hier keine polemische Debatte. Ich habe eben ein Langzeitziel formuliert. Der Antrag der Oppositionsfraktionen stellt inhaltlich auf die bundesgesetzlichen Regelungen im Asylverfahrengesetz und ihre Änderungen ab. Die Intention des Gesetzgebers bei den Regelungen der räumlichen Beschränkung ist es - das hat Kollege Heinrich bereits gesagt -, dass der Asylbewerber -

Frau Kollegin Berg, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Simone Peter?

Ja. Bitte schön.

Abg. Dr. Peter (B 90/GRÜNE) mit einer Zwischenfrage: Liebe Frau Kollegin Berg, nehmen Sie zur Kenntnis, dass der vorliegende Antrag die Anregung an die Landesregierung beinhaltet, eine Bundesratsinitiative zur Lockerung der Residenzpflicht im gesamten Bundesgebiet zu unterstützen? Wir wissen wohl, dass es im Saarland eine relativ große Bewegungsmöglichkeit gibt, aber es geht ja darum, sie über die Bundesländergrenzen hinaus zu erlauben.

Das nehme ich zur Kenntnis, Frau Kollegin Peter. Sie haben formuliert: „Gerade im kleinsten Flächenland Deutschlands, dem Saarland, ist die Bewegungsfreiheit durch die Residenzpflicht erheblich eingeschränkt (…).“ Das stimmt so nicht.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen. - Abg. Ul- rich (B 90/GRÜNE) : Das ist aber eine reine Interpretationsfrage. - Unruhe.)

Das ist der Wortlaut des Antrags, Herr Kollege. Aber jetzt möchte ich, wie es Kollege Becker formuliert hat, die Intention des Gesetzgebers herausstellen.

(Sprechen.)

Die Intention des Gesetzgebers zu den Regelungen der räumlichen Beschränkung ist, dass die Asylbewerber für die Zustellung und Umsetzung asylrechtlicher Entscheidungen erreichbar sind und der geduldete Ausländer den Behörden ebenfalls für die Vorbereitung und Durchführung der Ausreise zur Verfügung steht.

(Sprechen des Abgeordneten Ulrich (B 90/GRÜ- NE).)

Diese Regelungen wurden vom Bundesverfassungsgericht als verfassungsgemäß anerkannt. Eine Überprüfung des Europäischen Gerichtshofes kam zu dem Ergebnis, dass kein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention vorliegt. Es liegt auch kein Verstoß gegen die Genfer Konvention vor, Herr Hilberer. Das bietet zwar Rechtsicherheit, kann aber in einer politischen Gesamtbetrachtung insgesamt nicht zufriedenstellen, denn die Einschränkung der Bewegungsfreiheit bedeutet für die Migrantinnen und Migranten einen gravierenden Eingriff in die private Lebensgestaltung. Dieser Eingriff lässt sich nur dann rechtfertigen, wenn er verhältnismäßig ist. Dabei sind die eben genannten Intentionen des Gesetzgebers ein Kriterium. Sie reichen aber alleine für sich nicht aus.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz eine meiner Meinung nach ganz zentrale Aussage getätigt. Ich darf mit Erlaubnis des Präsidenten zitieren: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ Das Gericht hat weiterhin festgestellt, dass weder die Aufenthaltsdauer noch die Aufenthaltsperspektive es rechtfertigen, dass menschenwürdige Existenzminimum auf die Sicherung des physischen Existenzminimums zu beschränken. Dies gilt auch für das soziokulturelle Existenzminimum. Beides ist zu berücksichtigen. Was nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes ebenfalls nicht geschehen darf, ist, dass pauschal nach dem Aufenthaltsstatus differenziert wird.

Es wurde eben schon mehrfach auf das Flüchtlingslager Lebach verwiesen. Wer dort war, kennt die Zustände. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die außerordentlich gute Arbeit unserer Wohlfahrtsverbände im Flüchtlingslager Lebach hinweisen. Sie machen sehr gute Arbeit und haben das Wohlbefinden unserer Migrantinnen und Migranten im Blick.

(Beifall von den Regierungsfraktionen.)

(Abg. Berg (SPD) )

Meine Damen und Herren, der Antrag der uns vorgelegt wurde, beschränkt und differenziert in eklatanter Weise. Ich darf Ihnen das darlegen. Er umfasst allein die Asylbewerber im laufenden Verfahren, die meist nur für sehr kurze Zeit diesen Status haben. Herr Ulrich, das ist keine Auslegungsfrage. Das Asylverfahren dauert derzeit im Saarland 5,5 Monate durchschnittlich, bundesweit im Durchschnitt 6,7 Monate. Nicht von Ihrem Antrag umfasst sind die Migrantinnen und Migranten, die sich mit einer Duldung über viele Jahre in der Bundesrepublik aufhalten und bereits einen hohen Integrationsstatus haben. Für diese Menschen müssen vor allem in Fällen langjähriger Kettenduldungen vernünftige Altfallund Bleiberegelungen getroffen werden, aber all diese Menschen umfasst der zur Abstimmung gestellte Antrag nicht. Diesen Menschen, die sich bereits viele Jahre in der Bundesrepublik aufhalten, wird mit dem Antrag der Oppositionsfraktionen Bewegungsfreiheit nicht gewährt.

(Beifall von den Regierungsfraktionen.)

Das ist eine Ungleichbehandlung, die überhaupt nicht zu rechtfertigen ist. In der Koalition gibt es zu diesem Thema unterschiedliche Auffassungen, aber die Haltung der Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist ganz eindeutig. Wir sehen die räumliche Bewegungsfreiheit als unerlässlich an für eine erfolgreiche Integrations- und Flüchtlingspolitik. Bundesinnenminister Friedrich hat Mitte Oktober mit dem Hinweis auf die verstärkte Zuwanderung von Asylmissbrauch gesprochen. Das ist unserer Meinung nach ein Schüren von Ressentiments. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang aber, dass trotz der derzeit höheren Zahl von Zuwanderern lediglich ein Zwanzigstel der Zahlen erreicht ist, die Anfang der Neunzigerjahre vorlagen. Auch diese Zahlen haben wir damals verkraftet. Unser Asylsystem darf durch solche negativ besetzten Diskussionen nicht in Misskredit gebracht werden. Unser Asylsystem ist ein zentraler Bestandteil unseres Rechtsstaates.

(Beifall von den Regierungsfraktionen.)

Es darf auch nicht durch Diskussionen um Armutsmigration infrage gestellt werden, der wir aus humanitären Gründen verpflichtet sind.

(Beifall bei den Regierungsfraktionen.)

Über die Ungleichbehandlung hinaus umfasst der Oppositionsantrag auch Folgendes nicht: Es wird überhaupt nicht diskutiert, ob es andere Möglichkeiten gibt. Darauf hat auch der Kollege Becker schon hingewiesen. Das Asylverfahrengesetz enthält eine Ermächtigungsgrundlage zur Schaffung einer Rechtsverordnung, mit der die Bewegungsfreiheit erheblich ausgedehnt wird. Solche Rechtsverordnungen gibt es bereits in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen und

Mecklenburg-Vorpommern. Außerdem können, ohne dass die Änderung der bundesgesetzlichen Regelungen erforderlich ist, auch zwischen den Landesregierungen Verwaltungsvereinbarungen geschlossen werden.