Ich hatte Gelegenheit, nach der Abstimmung in London zu sein, und hatte das Gefühl, egal, mit wem man sprach: Da ist ein Land voller Desorientierung und - viele ahnen erst, was die Folge davon sein wird - auch ein tief gespaltenes Land: Die Mehrheit der jungen Menschen hat sich für Europa entschieden, die Schotten übrigens auch und die Nordiren auch. Am Ende hat die ältere Generation der jüngeren ein Stück von der Zukunft weggenommen. Das ist das, was man beklagen muss.
Es ist schwer, heute über Brexit zu reden, ohne beeinflusst zu sein von all dem anderen, was wir auch in Europa in diesen Tagen erleben - von Nizza bis Würzburg, von der Ukraine bis in die Türkei, ein Land, mit dem wir immerhin Beitrittsverhandlungen führen, in dem nach einem wirklich beklagenswerten Militärputsch, wo aufs Parlament geschossen worden ist, Hunderte von Menschen ums Leben kommen und plötzlich Vorwand dafür da ist, mit vorgefertigten Verhaftungslisten Hunderte, sogar Tausende von Menschen zu verhaften, ins Gefängnis zu stecken. Das ist ein Zustand in Europa, von dem ich sagen muss, dass er einen mit tiefer Sorge erfüllen muss, wobei man auch sagen muss: Das ist nicht unser Europa, das wir haben wollen. Wir wollen ein anderes Europa.
Herr Kollege Günther, ich glaube schon, dass es gut ist, diese Parlamentsdebatte damit zu beginnen, weil wir nämlich in Schleswig-Holstein in der Tat Teil von diesem Europa sind und unfassbar von Europa profitiert haben. Europa steht für Frieden
und Wohlstand für Jahrzehnte meiner Generation. Alle, die hier sitzen, haben davon profitiert, anders als unsere Eltern und Großeltern, die dieses Europa als ein Europa der Kriege - der Zweite Weltkrieg wurde von Deutschland angezettelt - erlebt haben.
Es ist großartig, dass wir Frieden und Wohlstand haben. Es geht also nicht um Kleinkariertes, sondern es geht um große und wichtige Fragen. Aber wir müssen uns auch bei ein paar Themen der Klarheit versichern, was jetzt zu tun ist.
Ich bin überhaupt nicht dafür, antibritische Ressentiments in der Debatte zu fördern, auch wenn die Entscheidung wirklich falsch gewesen ist, die die Briten getroffen haben. Ich sage aber auch: Wenn wir jetzt über das reden, was mit Großbritannien passiert, dann wird es nicht so sein dürfen, dass wir hingehen und sagen: Zukunft zum Binnenmarkt ja, aber Freizügigkeit für Menschen nein.
Das machen wir nicht bei Norwegen, das machen wir nicht bei der Schweiz. Das machen wir auch nicht bei Großbritannien. Ich habe es hier im Hause gesagt, als die Schweizer diese Volksabstimmung gegen Masseneinwanderung gemacht haben. Masseneinwanderung hieß übrigens deutsche Ärzte und italienische Ingenieure. Das ist die Masseneinwanderung in der Schweiz.
Ich habe damals gesagt: Ihr könnt nicht wollen, dass eure Uhren, euer Käse, eure Schokolade oder die Swissair bevorzugt werden, aber die Menschen dürfen nicht reisen. Das geht nicht. Das lassen wir nicht zu. Das lassen wir auch bei den Briten nicht zu. Ich höre, dass sich die Mitglieder des neuen Kabinetts genauso äußern. Dass nun ausgerechnet Boris Johnson Außenminister geworden ist - ich muss ehrlich sagen -: Das ist, als wenn man den Fuchs auf die Hühner aufpassen lässt. Ich meine, das geht nun wirklich in die falsche Richtung. Das ist auch kein Zeichen der Stärke für Frau May; die entscheiden das selbst. Trotzdem darf man das - wir haben ja in Europa Demokratie - kritisieren. So kann das nichts werden.
Ich habe in den Stellungnahmen gelesen, dass gesagt worden ist: Die Europäer werden schon begreifen, dass wir keine Ausländer bei uns reinlassen wollen, und werden uns den Freihandel ermöglichen. Da kann ich nur sagen: Wer auf solche Hoffnungen setzt, der wird enttäuscht werden. Das darf Europa nicht tun, weil das eine Einladung an die Rechtspopulisten überall wäre, all das auch anderswo zu tun, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Aber wir reden nicht nur über die Frage, wie wir konkret mit dem Brexit umgehen, sondern wir reden über die Frage: Was passiert mit diesem Europa? In der Tat, wenn man sagt, Europa ist wirklich das Beispiel für Frieden und Wohlstand in den letzten Jahrzehnten, muss man schon sagen, dass die Entwicklung in den letzten Monaten eine ist, in der der Nationalismus zunimmt, in der der Egoismus zunimmt, bei der die Fixierung auf wirtschafts- und währungspolitische Fragestellungen zunimmt und bei der die Bedrohung von rechts zunimmt. Das sind Dinge, die wir feststellen müssen. Wir waren es gewöhnt, dass wir uns mit diesen Fragen nicht mehr beschäftigen müssen. Wir müssen es tun, wir müssen es überall in Europa tun. Deswegen müssen die Antworten, die wir geben, auch zu diesem Befund passen.
Jawohl, ich bin sehr dafür, Begeisterung für dieses Europa zu wecken, bemühe mich auch, das zu tun, sage aber: Begeisterung heißt, dass man natürlich das aufgreifen muss, worum wir uns zu kümmern haben. Das Erste, worum wir uns in Europa zu kümmern haben, ist, dass Europa für Wachstum und Beschäftigung steht, dass wir nicht einer ganzen jüngeren Generation sagen: Ihr werdet nicht gebraucht. In Spanien oder in Griechenland oder in Portugal oder anderswo herrschen 50 % Jugendarbeitslosigkeit. Diese jungen Leute werden sich von der Demokratie abwenden, wenn wir ihnen sagen: Ihr werdet nicht gebraucht. Wir brauchen sie. Wir müssen etwas für sie tun.
Deswegen sind die schwarze Null von Herrn Schäuble, die Austeritätspolitik und die Haltung gegenüber Griechenland in Teilen falsch. Wir müssen kapieren: Wir exportieren zwei Drittel unserer Waren nach Europa, uns kann nicht egal sein, wie es unseren Nachbarn geht. Wenn es ihnen schlecht geht, geht es bald auch uns schlecht. Egoismus ist das falsche Rezept. Wir müssen etwas tun für die Zukunft der Jugend in Europa, für Wachstum und Beschäftigung.
Das macht er schon, glaube ich. - Herr Kollege Dr. Stegner, wenn ich Ihren Appell gerade richtig verstanden habe, den ich im Grundsatz richtig finde, geht er dahin, dass wir uns um die Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern kümmern müssen. Folgt daraus, dass Sie die EU oder den gemeinsamen Markt für die Jugendarbeitslosigkeit in den südlichen Ländern verantwortlich machen? Sind Sie der Auffassung dass die Jugendarbeitslosigkeit geringer wäre, wenn Spanien, Portugal und Griechenland der Europäischen Union nicht angehören würden? Denn nur dann macht Ihr Vorhalt ja einen Sinn.
- Herr Kollege Kubicki, der Vorhalt macht dann Sinn, wenn man begreift, dass der Pakt, über den wir reden, nicht Stabilitätspakt heißt, wie Herr Schäuble es immer sagt, sondern Stabilitäts- und Wachstumspakt. Das ist der Punkt, über den wir hier reden. Dafür muss man Geld investieren, und man muss den Ländern auch helfen.
Den Deutschen ist nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Marschall-Plan geholfen worden, durch Investitionen in einem Land, das den Krieg angefangen hat. Unsere Haltung gegenüber den Griechen und teilweise auch die Tonlage gegenüber Griechenland, die hier auch von Vertretern meiner Partei geführt worden ist - ich will das selbstkritisch einräumen -, waren falsch, nicht richtig. Das darf man nicht tun. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat sich überall in Europa um Wachstum zu kümmern. Das sollten wir tun.
Herr Kollege Stegner, Sie haben gerade auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt und den Marschall-Plan abgestellt. Ist Ihnen bekannt, dass die Europäi
sche Union Griechenland in den letzten zehn Jahren mit mehr Finanzhilfe unterstützt hat, als ganz Europa nach dem Krieg aus dem Marschall-Plan bekommen hat?
- Lieber Herr Kollege Wiegard, mir ist vor allem bekannt, dass das bei den normalen Bürgern so gut wie nicht angekommen ist, dass wir Banken gerettet haben, dass wir privatisiert haben, was nicht niet- und nagelfest ist,
dass wir hingegangen sind und Dinge gemacht haben, die verkehrt sind, und dass wir den Griechen eine Medizin empfohlen haben, die wir selbst nicht nehmen wollten. In der letzten Großen Koalition haben wir, als die große Wirtschafts- und Kapitalmarktkrise war, ein Beschäftigungsprogramm gemacht. Wir haben in Deutschland nicht Austeritätspolitik gemacht. Aber den Griechen empfehlen wir das. Wir können nicht anderen Leuten Medizin verschreiben, die wir selbst nicht einnehmen wollen, sehr verehrter Herr Kollege Wiegard. Das ist falsch.
Darf ich das noch zu Ende führen? - Ich will Ihnen ehrlich sagen: In der letzten Großen Koalition ist das ein Programm gewesen, das aus der Feder von Frank Steinmeier, von Olaf Scholz, von Peer Steinbrück stammte, gegen erheblichen Widerstand der Union, übrigens auch gegen Widerstand der FDP. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie kurz nach dem Regierungswechsel Herr Brüderle hingegangen ist und gesagt hat, das sei XXL, den man zwar bekämpft habe, aber dessen Früchte man gern ernten wolle. Man muss sich schon zu dem bekennen, was man selber richtig findet, Herr Kollege Wiegard. - Jetzt sind Sie dran.
Mir scheint, es ist bei Ihnen nicht angekommen. Sonst kann ich Ihre Äußerung nicht verstehen. Noch einmal: Die Europäische Union hat Griechenland
mit Zustimmung Deutschlands - anders geht es nicht - finanzielle Hilfen in einer Größenordnung gewährt, die das Volumen der gesamten Marschall-Plan-Hilfe nach dem Krieg für ganz Europa übersteigt. Insofern kann ich Ihre Äußerung überhaupt nicht nachvollziehen.
Herr Kollege Wiegard, ich glaube, dass das Problem bei Ihnen und nicht bei mir liegt. Wenn man sich einmal anguckt, wer in Griechenland wovon profitiert hat, kann ich nur feststellen, dass viele Leute überhaupt keine Steuern bezahlen. Den Leuten werden die Renten zu halbiert, die Menschen werden aus dem öffentlichen Dienst herausgeschmissen, es wird liberalisiert, privatisiert, was nicht niet- und nagelfest ist. Übrigens sind die neuen Besitzer der Häfen und Flughäfen Fraport und andere. Auch das ist eine Form von Wirtschaftsimperialismus, wenn ich das einmal sagen darf. Das ist keine Lösung für die Menschen in Griechenland, und das halte ich für falsch.
Zweitens möchte ich das Thema Gerechtigkeit und Solidarität ansprechen. Wir müssen aufhören, ein Europa zuzulassen, in dem der Bäckermeister an der Ecke mehr Steuern bezahlt als große Konzerne, die überhaupt keine Steuern zahlen, aber Riesengewinne erwirtschaften. Die Steueroasen, die wir zulassen, sind Gerechtigkeitswüsten.
Die Flüchtlingspolitik, die wir betreiben, ist borniert, nationalistisch und nicht gemeinsam. Wir brauchen ein Europa, das sich Gerechtigkeit und Solidarität zu eigen macht, und zwar überall in Europa - das ist meine Vision von Europa -, und kein nationalistisches, egoistisches Europa.
Drittens finde ich, dass wir über ein Europa der Demokratie und Transparenz reden müssen. Jawohl, es gibt Technokratie in Brüssel, und die muss man auch kritisieren - wobei ich es zu Recht angesprochen finde, dass wir nicht jedes Problem, das wir selbst nicht lösen, immer auf Brüssel schieben sollten.
Ja, auch das Thema direkte Demokratie ist beschädigt worden, weil sich direkte Demokratie von Populisten zunutze gemacht wird, ob von Wilders, Le Pen, Frau Storch oder wie die Leute alle heißen.
Die bringen alle Unglück über Europa. Wir brauchen keinen Ersatz für repräsentative Demokratie, sondern wir müssen sie ergänzen.
Das geht nur durch Transparenz, das geht nur durch mehr Demokratie, und das geht nur, wenn wir über Werte reden, darüber, welches die europäischen Werte sind. Die werden leider verletzt, nicht nur in der Türkei, die zu uns will, sondern auch von Ländern, die in der Europäischen Union sind, wie zum Beispiel von Ungarn oder durch manches, was ich aus Polen höre, und manches, was in Deutschland gefordert wird. Dem müssen wir uns entgegensetzen. Wir brauchen ein Europa mit mehr Demokratie, mehr Transparenz und Werten, die wir gemeinsam vertreten.
Viertens. Wenn ich gesagt habe, Europa ist großartig gewesen für Frieden und Wohlstand, dann muss ich feststellen: Der Frieden war die Voraussetzung für Wohlstand. Wenn ich jetzt höre, dass wir darüber reden, Truppen an den Grenzen zu Russland zu massieren, wenn ich dieses - ich nenne das so, weil ich glaube, dass das wirklich so ist Säbelrasseln wahrnehme, kann man doch nur sagen: Wir müssen uns dafür einsetzen, dass wir Frieden haben, übrigens auch mit Russland.
Das heißt nicht, dass wir akzeptieren, dass die die Krim erobert haben, sondern darüber zu sprechen, dass wir eine neue Phase der Entspannungspolitik einleiten und nicht über mehr Rüstung in Deutschland und Europa reden, sondern über mehr Friedenspolitik. Europa muss ein Friedensprojekt sein, und das ist es im Augenblick weniger, als es gut ist.