Protocol of the Session on July 20, 2016

Das heißt nicht, dass wir akzeptieren, dass die die Krim erobert haben, sondern darüber zu sprechen, dass wir eine neue Phase der Entspannungspolitik einleiten und nicht über mehr Rüstung in Deutschland und Europa reden, sondern über mehr Friedenspolitik. Europa muss ein Friedensprojekt sein, und das ist es im Augenblick weniger, als es gut ist.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ein Stichwort habe ich in der Debatte in diesem Hause vermisst: Als Björn Engholm begonnen hat, eine neue Ostseepolitik zu betreiben, ist das aktive Friedenspolitik gewesen. Das Parlament kann stolz darauf sein, dass wir das bis heute immer noch tun. Das ist ein Beitrag zum Frieden, indem wir mit Menschen reden, auch in Zeiten, in denen es schwierig ist und komplizierter geworden ist. Denn es gilt immer noch das, was Egon Bahr gesagt hat: Frieden muss man mit denen schließen, die nicht alle eigenen Werte teilen.

Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Wenn wir es nicht schaffen, dass sich Europa dazu bekennt - egal, mit wem wir reden -, dass das unsere gemeinsame Identität ist, werden wir

Frieden und Wohlstand verlieren, erst das eine und dann das andere. Mit welchem Recht enthalten wir unseren Kindern und Enkeln das vor, was wir selbst haben erleben dürfen, nämlich ein großartiges Europa mit mehr Frieden und Wohlstand für alle Menschen in Europa?

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Wenn man das betrachtet, dann ist das mit der Leidenschaft leicht erklärt, Herr Kollege Günther. Heute ist der 20. Juli. Am 20. Juli gab es den Aufstand und das versuchte Attentat auf Hitler. Am 20. Juli debattieren wir über die Zukunft Europas.

Es ist die Lehre aus diesem blutigen 20. Jahrhundert, dass wir es im 21. Jahrhundert besser machen, dass wir für Freiheit, für Gerechtigkeit, für Frieden, für Solidarität in Europa stehen und Deutschland als größtes Land und Hauptprofiteur von dieser guten Entwicklung mit gutem Beispiel vorangeht, in unseren Debatten, in unserer Gesinnung, in unserer Haltung, und dass wir dafür werben, dass Europa unsere Zukunft ist und eine gute Zukunft nur haben kann, wenn es ein freies, ein gerechtes, ein friedliches, ein solidarisches Europa ist. - Vielen herzlichen Dank.

(Anhaltender Beifall SPD, BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und SSW)

Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat deren Fraktionsvorsitzende, die Abgeordnete Eka von Kalben.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was hat die Entscheidung Großbritanniens, aus der EU auszutreten, mit uns in Schleswig-Holstein und dem Landtag zu tun? Die Frage ist in der Vorbereitung der Landtagstagung auch mir von der Presse gestellt worden. Ich finde, Ralf Stegner hat mit seiner sehr engagierten Rede für Europa gerade gezeigt: Es ist wichtig, auch in diesem Landtag für das europäische Projekt zu werben. Herzlichen Dank dafür!

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Denn in den letzten Tagen kommt jeden Morgen, wenn man das Handy anschaltet oder sich die Tagesschau anguckt, irgendeine neue Schreckensnachricht, irgendeine neue Herausforderung, die

(Dr. Ralf Stegner)

wir zu bewältigen haben: Terrorangriff in Nizza, Amoklauf in Würzburg. Immer wieder erschüttern uns neue Nachrichten. Dann die Herausforderungen mit dem, was in der Türkei abgeht. Die Herausforderung durch die Flüchtlingskrise, die ja nicht dadurch bewältigt ist, dass die Flüchtlinge es nicht mehr bis nach Deutschland schaffen. Die Herausforderung durch die Veränderung des Klimas. Das alles sind Herausforderungen, die wir national nicht besser lösen können, sondern die wir nur im internationalen Verbund auch als starke EU lösen können.

Deswegen werden die Herausforderungen eher mehr als weniger.

Der Austritt Großbritanniens aus der EU ist Ausdruck eines zunehmenden Trends nationalstaatlicher Unabhängigkeit in Europa. Da teile ich die Analyse, die Lars Harms hier vorgenommen hat. Allerdings teile ich nicht seine Schlussfolgerung, dass wir feststellten, dass wir mehr Unabhängigkeitsbestrebungen und mehr Menschen haben, die sich von der EU abwenden. Wir haben mehr Populismus, und deswegen müssten wir wieder stärker auf Nationalstaaten setzen, müssten die Menschen insofern mitnehmen, dass wir mehr ihre nationalen Bedürfnisse befriedigen. - Ich glaube, das ist genau der falsche Weg. Viele Menschen haben kein Vertrauen in politische Strukturen in der EU. Richtig.

Ich lebe in einer Partnerschaft mit einem Briten, und wir haben mit seiner Familie telefoniert: Einer der beeindruckendsten Sätze, wenn ich mich mit Menschen unterhalte, in der Auseinandersetzung zwischen Bremain und Brexit war der Satz: We will take back control. - Ja, jeder möchte gern Kontrolle über sein oder ihr Leben haben. Ich möchte auch gern Kontrolle darüber haben, wie mein Gemeinwesen geregelt wird. Aber der Fehler ist, glaube ich, zu meinen, dass man dann, wenn man weniger Europa hat, mehr Kontrolle über sein Leben hat. Wenn wir wollen, dass zum Beispiel Facebook Datenschutzbelange berücksichtigt, das Amazon faire Preise bezahlt oder das IKEA Steuern bezahlt, dann können wir das doch nicht als kleines Land Schleswig-Holstein, als Nordirland oder als Schottland bewirken, sondern wir können viele Probleme sowieso nur global und manche Probleme zumindest auf europäischer Ebene lösen. Deswegen brauchen wir eben ein starkes Europa, um Kontrolle zu haben, und nicht ein schwächeres.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ver- einzelt SPD und Beifall Uli König [PIRA- TEN])

Im Grunde genommen ist das aus meiner Sicht auch eine Tragik des Brexit, dass diejenigen, die sich erhofft haben, dass es weniger soziale Ungerechtigkeit gibt, dass sie irgendwie mehr Kontrolle über ihr Leben gewinnen, einen Brexit gewählt haben, um am Ende die Verliererinnen und Verlierer sein werden. Die Finanzwelt wird sich schon irgendwie arrangieren und für Freihandel sorgen. Ich bin zwar vollkommen einer Meinung mit dem, was Herr Stegner hier gesagt hat: Wir werden einen Freihandel nicht ohne Freizügigkeit in der EU akzeptieren. Das eine funktioniert nur mit dem anderen. Freiheit des Handels heißt auch Freizügigkeit der Menschen in der EU.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ver- einzelt SPD und SSW)

Aber wir wissen doch auch, dass schon jetzt, am Tag nach dem Brexit, die international verwobenen Unternehmen natürlich Einfluss ausüben, wie jetzt die Handelsbeziehungen geregelt werden. Das ist auch richtig so. Das ist in diesem Fall auch gut, dass sie dafür sorgen, dass auch weiterhin Handel miteinander möglich ist. Natürlich wollen wir mit Großbritannien - oder mit England, was auch immer es am Ende ist - in gutem Austausch bleiben. Aber trotzdem ist es, so glaube ich, nicht das, was die Leute, die mehrheitlich Brexit gewählt haben, sich erwünscht haben. Das ist eine ganz andere Geschichte.

Da glaube ich, lieber Herr Günther, dass wir doch ein sozialeres Europa brauchen, weil diejenigen, die sich von der EU abwenden, nicht diejenigen sind, die mit Handel zu tun haben, das sind nicht die jungen Leute, die an Erasmus-Programmen teilnehmen, sondern das sind Menschen, die das Gefühl haben: Ich bin irgendwie hier die Verliererin, die Banken werden gerettet, und ich verliere.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Hören Sie doch mit diesen Märchen auf!)

- Dass das so nicht ist, dass es natürlich nicht immer nur darum geht, die Banken zu retten, sondern dass es um die Anleger geht, das ist eine ganz andere Frage, Herr Kubicki. Aber Sie müssen doch akzeptieren, dass Menschen so denken. Ich sage doch nicht, dass das alles wahr ist, aber das ist doch genau die Art und Weise, wie die Populisten die Stimmen fangen. Deswegen muss es ja nicht richtig sein. Aber Sie müssen doch akzeptieren, dass es viele Menschen gibt, die genau diesen Parolen folgen, indem sie sagen: Oh, da werden nur die Banken gerettet. - So ist es.

(Eka von Kalben)

(Beifall Marlies Fritzen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Zuruf Wolfgang Kubicki [FDP])

Ich glaube deshalb: Wir müssen zum einen ein sozialeres Europa haben, und wir müssen zum anderen versuchen, Dinge, die sehr kompliziert sind, einfach zu erklären. Das ist auch ein Bezug, den wir zu Schleswig-Holstein und unserer Politik haben, weil auch hier Leute das Gefühl haben, die Politik bekomme es nicht mehr gerichtet, man verstehe nicht, warum die Dinge so kompliziert seien. Dann versuchen Menschen mit einfachen Worten, mit einfachen Parolen, Stimmen zu gewinnen. Das ist dann einmal EU-feindlich, das ist am nächsten Tag ausländerfeindlich. Es ist auf jeden Fall immer stark vereinfacht. Die einfachen Antworten sind nicht immer die richtigen und nicht immer die wahren, sondern leider ist die Welt so kompliziert, wie sie ist. Deswegen gibt es auch in der Regel komplizierte Antworten, die man sich anhören muss, die man infrage stellen muss und mit denen man sich auseinandersetzen muss. Ich schaue jetzt gerade einmal hoch zu den Schulklassen: Das ist natürlich auch eine besondere Herausforderung für Schüler, für Lehrende und für uns alle.

Ich glaube, dass der Brexit bei all dem, was er an Besorgnis - das ist so - und an Schwierigkeiten für uns bringt, für uns, aber auch für die Menschen in Großbritannien auch eine Chance sein kann, eine Chance, dass wir sagen: „Europa kann so nicht weitermachen!“, eine Chance, dass es wirklich Bewegung gibt. Aus meiner Sicht ist zum Beispiel die Tatsache, dass jetzt über TTIP abgestimmt werden kann, sehr wohl ein Fortschritt und ein Mitnehmen. Ich glaube, dass wir an der Stelle noch mehr Entscheidungen in das Europäische Parlament tragen müssen, noch mehr Bürgerinnen und Bürger mitnehmen müssen.

Ja, ich habe auch manchmal Angst davor, mehr direkte Demokratie zuzulassen, weil ich mir natürlich vorstellen könnte, dass die eine oder andere Entscheidung gefällt wird, die mir überhaupt nicht gefällt - siehe das Referendum zum Brexit. Aber das darf, glaube ich, nicht dazu führen, dass wir sagen: Wir schieben das immer weiter zurück und tun so, als gäbe es diese Meinungen nicht, sondern diese Meinungen gibt es. Da hat Herr Harms natürlich recht: Die gibt es. Aber unser Ziel darf nicht sein, ihnen entgegenzukommen im Sinne von mehr Nationalstaat, sondern meine Vorstellung ist, dass wir stärker die Vorteile erklären müssen. Ich weiß, es gibt Länder - Schottland zum Beispiel -, da wird an jeder Turnhalle, die mit europäischem Geld gebaut

wurde, auch ein fettes Schild angebracht, damit die Bürger sehen: Diese Turnhalle wurde auch mit europäischem Geld finanziert.

(Zurufe CDU: Haben wir auch!)

- Haben wir auch, okay. Ehrlich gesagt: Bei mir in der Nähe gibt es nicht so viele EU-geförderte Turnhallen, deswegen habe ich das noch nicht gesehen. Aber offensichtlich ist das eine Möglichkeit.

Ich erinnere mich: Als ich in den 70er-Jahren zur Schule gegangen bin und zum Beispiel die Schulaustauschmöglichkeiten entstanden sind, war das für uns etwas richtig Besonderes, das war ein Highlight, ein Schulaustausch nach England oder nach Frankreich machen zu dürfen. Das gibt es jetzt zum Teil auch noch. Ich habe mit einer französischen Austauschschülerin bei uns zu Hause die EM geschaut. Das war super. Das hat richtig Spaß gemacht. Das müssen wir aber auch versuchen, mehr zu kultivieren, mehr als europäische Feste zu feiern. Das ist nicht nebensächlich.

Ich glaube, dass dieses Gefühl, dass wir positive Impulse und nicht nur die Bankenkrise von der EU bekommen, etwas ganz Elementares ist. Es ist nichts Nebensächliches. Deshalb, bei aller Skepsis, ob das nun landtagsbezogen sei oder nicht: Ich finde es sehr gut, dass wir uns hier im Landtag zu dem wichtigen Projekt Europa - und zwar auch an zentraler Stelle am Mittwoch um 10 Uhr - auseinandersetzen. Ich danke Ihnen für diese Debatte und hoffe, dass wir noch eine gute Diskussion erleben. Danke.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Das Wort für die FDP-Fraktion hat deren Fraktionsvorsitzender, der Abgeordnete Wolfgang Kubicki.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte zeigt, dass wir über alles reden, nur nicht über Europa, sondern wahrscheinlich über unsere eigenen Befindlichkeiten, wie Politik gestaltet werden sollte.

Was ist eigentlich passiert? - Europa ist nicht auseinandergefallen. Die Briten machen - und zwar nur mit einer relativen Größe von 52 % zu 48 % - von ihrem Recht Gebrauch, Artikel 50 in Kraft zu setzen und damit, was die Verträge vorsehen, die Europäische Union zu verlassen. Wir debattieren

(Eka von Kalben)

so, als sei Europa gerade davor, dass die Briten, wenn sie austreten, uns den Krieg erklären: Das Friedensprojekt Europa sei gestorben.

Wir erwecken den Eindruck, als hätte die Jugend Europas keine Zukunft mehr, obwohl Sie in allen Ländern bei den unter 30-Jährigen eine DreiviertelZustimmung zu Europa haben, übrigens auch in Spanien, Portugal und Griechenland bei jungen Menschen eine Zustimmung zu Europa haben, weil sie wissen, dass ihre Lebensperspektive nur in einem vereinten Europa gewährleistet werden kann.

Das gilt übrigens auch für Großbritannien: Drei Viertel derjenigen, über die wir gerade reden, der Jugendlichen, entscheiden sich für Europa. Wir müssen nur sagen: Wärt ihr zu Wahl gegangen, hätten wir das Problem jetzt gar nicht!

Herr Kollege Dr. Stegner, die Briten haben mit 52 % nicht erklärt, dass sie die EU verlassen wollen, weil sie ein sozialeres Europa wollen - was wir nicht umsetzten -, sondern sie haben Europa verlassen, weil sie die Dominanz der Europäischen Union bei einer ganz zentralen Frage nicht wollen, nämlich bei der zentralen Frage - deshalb lautete der Satz: Take back Control -, wer darüber entscheidet, wie viele Menschen in unser Land kommen und welche Menschen in unser Land kommen. Entscheiden wir das noch selbst, oder entscheidet das die Europäische Kommission?

Sie haben sich dezidiert gegen Quotenflüchtlinge ausgesprochen, obwohl sie gar keine bekommen haben. Sie sprechen sich momentan gegen EU-Bürger als Ausländer aus. Italiener und Deutsche erklären uns, dass sie auf offener Straße angefeindet werden - sie sollen nach Hause gehen -, so als habe es das Projekt Europa in Großbritannien nie gegeben. Ich bin ja demnächst in England - wie der Ministerpräsident und auch Ralf Stegner.

(Zuruf Serpil Midyatli [SPD])

- Nein, wir treffen uns dort bedauerlicherweise nicht. Ich kann in den guten Hotels, in denen die sind, nicht logieren; ich zahle das immer aus eigener Tasche.

(Lachen SPD - Serpil Midyatli [SPD]: Dann müssen wir uns ja keine Sorgen machen!)

Aber darüber sollte man trotzdem ein bisschen nachdenken: Wir treffen auf eine Generation von älteren Menschen, die es nicht verwunden hat, dass die frühere Großmachtstellung Großbritanniens zu Ende ist, die nicht begriffen haben, dass Großbritannien zwar noch im Weltsicherheitsrat sitzt, aber ansonsten keine große Rolle mehr spielt.

(Beifall FDP)

Sie wollen sozusagen ihr Commonwealth wiederhaben, wollen die starke Nation sein. Das haben wir auch in Frankreich, dass dort eine Menge Menschen sind, die die Grande Nation wiederhaben wollen und nicht begreifen, dass sie diese Stellung im Rahmen der weltweiten Entwicklung verloren haben. Für diese älteren Menschen, die sozusagen keine ökonomische Lebensperspektive mehr haben, sondern deren Stolz irgendwie abhandengekommen ist, haben wir bisher keine Antwort gehabt, außer dass wir sie denunzieren: Wer stolz auf sein Land und seine ehemalige Größe sein will, ist jemand, der nicht nur die Zeichen der Zeit nicht verstanden hat, sondern möglicherweise in einer Ecke steht, in der er nicht stehen sollte.