Protocol of the Session on February 17, 2016

Für die Kommunen, die zu Recht sagen, dass es schwierig ist, so viele Menschen mit Wohnraum zu versorgen, wird es gar nicht so einen großen Unterschied machen. Denn schon jetzt dauert es Jahre, bis Menschen, bis Familien, hierherkommen können, weil die Konsulate überlastet sind und weil es lange Wartezeiten gibt. Der einzige Unterschied, den die Einschränkung des Familiennachzugs machen wird, ist, dass das eventuell eine abschreckende Wirkung hat und sich die Frauen und Kinder in den Herkunftsländern in Schlauchboote setzen, weil der einzig legale Zugangsweg abgeschnitten wird. Das finde ich nicht hinnehmbar.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Ja - Herr Stegner hat es angesprochen -, Familiennachzug ist auch eine Frage der Haltung. Die Haltung, dass Familien zusammengehören, wird nicht nur in den Menschenrechtskonventionen und dem Grundgesetz genannt, sie ist auch für die CDU immer ein Bollwerk, und zwar immer dann, wenn es um die Verhinderung von gleichen Rechten für gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften geht. Dann geht es um den Schutz der Familie. Wenn es um Flüchtlinge geht, geht es offensichtlich nicht darum.

Auch die christlichen Werte, die die Union sonst gern als Leitkultur bemüht und auf die alle Geflüchteten schwören sollen, müssten jetzt jeden Christdemokraten aufschreien lassen, ganz besonders, wenn man sich anguckt - das ist aus meiner Sicht das Erbärmlichste am Vorschlag zum Famili

(Eka von Kalben)

ennachzug -, dass Minderjährige einbezogen werden. Kindern ihre Eltern vorzuhalten, ist nicht nur unklug, das ist schändlich.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, ver- einzelt SPD und SSW)

Noch einmal zu den neuen sicheren Herkunftsländern. Die Welt wird gefühlt immer unsicherer, die Liste der Länder, die sicher sind, immer länger. Irgendwie passt das nicht richtig zusammen.

Erinnern wir uns an den aktuellen Anlass für diesen Vorschlag. Ins Paket gerutscht ist diese Maßnahme erst nach der allgemeinen Verunsicherung im Januar 2016. Man kann es auch als Sippenhaft bezeichnen: Verüben wir einzelne Straftaten, wird die gesamte Gruppe bestraft. Das gefällt dem Stammtisch.

Die Maßnahme ist völlig ungeeignet, eine realistische Antwort auf die Ängste der Bevölkerung aufgrund der Verhältnisse in Köln zu geben. Die Ausweitung der sicheren Herkunftsländer ist nichts als weiße Salbe. Eine Gruppe von Jugendlichen wird kriminell, eine Gruppe, die vielleicht gar nicht als Flüchtlinge hierhergekommen ist, sondern sich wie andere junge Menschen in verschiedenen europäischen Ländern ohne Papiere durchschlägt.

Ohne viel Federlesen werden ihre vermeintlichen Herkunftsländer zu sicheren Ländern erklärt, ungeachtet der Beurteilung durch Menschenrechtsorganisationen, ungeachtet der Einschätzung der Kirche. Es wäre ja auch praktisch, wenn damit alles wieder friedlich würde. Das ist doch - mit Verlaub - Mumpitz.

Erstens kann man die Berichte über Folter oder die Bestrafung von Homosexualität durch eine Erklärung im Deutschen Bundestag nicht einfach wegdiskutieren, mal abgesehen davon, dass das individuell garantierte Recht auf Asyl schleichend ausgehöhlt wird. Der Bundesratsantrag der CSU zeigt, wohin die Marschroute gehen soll: Einfach die ganze Welt für sicher erklären - Problem gelöst!

Und zweitens macht die Erklärung Köln doch keinen Deut sicherer. Den Berichten zufolge waren die meisten der Straftäter vor Ort, sofern sie überhaupt ein Asylverfahren durchlaufen haben, abgelehnte Asylbewerber. Trotz der Ablehnung konnten die Abschiebungen von ihnen nicht vollzogen werden, weil sie die Herkunftsländer nicht aufnehmen.

Herr Günther, deshalb funktioniert auch das Abschreckungsmoment hier nicht. Sie haben gesagt, beim Balkan hätte es auch gewirkt. Ich bin mir sicher, dass gerade diejenigen, die man vermeintlich

mit diesem Gesetz treffen will, sich von einer Deklarierung „Achtung, hier sicheres Herkunftsland!“ nicht abschrecken lassen werden, weil doch viele hier gar nicht mit der Absicht herkommen, Asyl zu beantragen. Denen ist es völlig egal, ob ihr Verfahren 10 Minuten schneller oder kürzer verhandelt wird dadurch werden von ihnen nicht weniger hier herkommen. Deshalb ist die Lösung weiße Salbe und wird nichts bringen. Gerade das, was Sie, Herr Günther, vorgeworfen haben, dass man nicht mit Scheinlösungen Sand in die Augen streuen soll, das teile ich total. Aber gerade dieser Punkt ist eine solche Scheinlösung. Deshalb lehnen wir diese Ausweitung ab.

(Vereinzelter Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD - Wolfgang Kubicki [FDP]: Das ist wirklich Unsinn!)

Meine Damen und Herren, es gibt in dem Päckchen auch etwas Gutes, das ist sozusagen das Stück Schokolade neben dem Lebertran. Positiv ist es, wenn Auszubildende endlich die Möglichkeit bekommen, in Ruhe ihre Ausbildung zu beenden und anschließend arbeiten können, das sogenannte 3+2-Modell. Das fordern nicht nur die üblichen Verdächtigen wie Grüne oder Flüchtlingsrat, das fordern schon lange Unternehmerverbände, Industrie und Handelskammer oder auch die Handwerkskammer. Dieser Teil des Asylpaketes würde unsere Unterstützung finden. Das ist der Weg, den wir mitgehen können: Integration und nicht mehr Abschreckung, aber bitte für alle Herkunftsländer.

(Beifall Ines Strehlau [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Zuruf Wolfgang Kubicki [FDP])

Meine Damen und Herren, ich fasse zusammen: Es ist Zeit für ehrliche Antworten, statt hysterisch Pakete zu schnüren.

Erstens. Migration ist ein Fakt, und es zieht Menschen nach Europa, auch Menschen, die keine Flüchtlinge sind. Sie brauchen eine Einwanderungsperspektive.

Zweitens verlassen Menschen ihre Heimat ungern. Deshalb müssen wir an die Fluchtursachen herangehen, auch wenn das mühsam ist und nicht schnell geht. Wir können das Migrationsproblem nicht auf andere Staaten schieben, zumal auch wir Verantwortung für die Ursachen tragen.

Und drittens müssen wir Menschen, die zu uns kommen, schnell integrieren. Das kostet Kraft und Geld, aber wir müssen wieder dahin zurückkommen, die Herausforderung volley zu nehmen und

(Eka von Kalben)

die Chancen der Migration für uns alle in den Mittelpunkt zu stellen.

Keiner der drei Punkte versteckt sich im Paket, deshalb lehnen wir das Paket ab. - Danke schön.

(Beifall BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und vereinzelt SPD)

Das Wort für die FDP-Fraktion hat der FDP-Fraktionsvorsitzende, der Abgeordnete Wolfgang Kubicki.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, aber auch die Flüchtlingspolitik der Landesregierung steht langsam aber sicher kurz vor dem Scheitern. Und die Orientierungslosigkeit der Sozialdemokratie hat der Redebeitrag des Kollegen Dr. Stegner ziemlich deutlich offenbart.

(Beifall FDP und vereinzelt CDU)

Die vielen ehrenamtlichen Helfer, die ein einigermaßen funktionierendes System der Flüchtlingshilfe erst ermöglichen, haben zunehmend Überlastungsbefürchtungen. Anstatt jetzt sachorientiert und geschlossen Steuerungsinstrumente zu etablieren, um wenigstens einen Teil der verlorengegangenen Handlungsfähigkeit zurückzuerlangen, haben Union und SPD das hier in Rede stehende Asylpaket II mit einer fast beispiellosen Peinlichkeit geschnürt. Nachdem sie es bereits im November letzten Jahres zum ersten Mal beschlossen hatten, haben sie erst einmal drei Monate gestritten - und das auf einem Niveau, das seinesgleichen sucht.

Die SPD wollte zwischenzeitlich straffällig gewordene Asylbewerber die Gefängnisstrafe im Heimatland verbüßen lassen und vermeintlich unsolidarischen EU-Mitgliedsstaaten Finanzmittel streichen. Die CDU will eigentlich einen vollständigen Kurswechsel - wobei ständig Maßnahmen gefordert werden, die wahlweise gegen die Genfer Flüchtlingskonvention oder Europarecht oder sogar beides verstoßen -, kommt aber an der eigenen Kanzlerin nicht vorbei. Die CSU stellt in ihren Augen keine Kanzlerin, weshalb sie dieser eine „Herrschaft des Unrechts“ vorwirft und erwägt, die Bundesregierung, der sie selbst angehört, vor dem Bundesverfassungsgericht zu verklagen. - Das ist doch ein unglaubliches Schauspiel.

Die Menschen im Land gewinnen den Eindruck, dass unser politisches System in Krisensituationen in eine Schockstarre verfällt, dass die Exekutive gelähmt und die Legislative gleich verzichtbar ist, weil sie in den entscheidenden Fragen der Flüchtlingspolitik gar nicht mehr gefragt wird.

(Beifall FDP)

Das Schlimme daran ist, dass sowohl die Art der Debattenkultur als auch der zwischen den Regierungsparteien ausgebrochene Überbietungswettbewerb nicht nur den Parteien selbst schadet, sondern vor allem dem Parlamentarismus an sich und damit am Ende uns allen. Das Gleiche gilt für den Zustand unseres Rechtsstaates. Wenn an mancher Stelle der politische Wille fehlt, geltendes Recht durchzusetzen, dann verlieren die Menschen das Vertrauen in den Rechtsstaat. Auch hier im Land sieht es nicht besser aus. Und damit meine ich nicht die Debatte über die Erlasslage bei der Polizei.

Der Ministerpräsident macht seine Zustimmung zu der Einstufung von Algerien, Marokko und Tunesien als sichere Herkunftsländer vom Votum des Auswärtigen Amtes abhängig. Und als die entsprechende Billigung vorliegt, wird er von Herrn Dr. Stegner zurückgepfiffen. Was ist das eigentlich für eine Haltung, Herr Dr. Stegner, sich zu enthalten, nachdem Sie als stellvertretender Bundesvorsitzender in Berlin zugestimmt haben, um jetzt zu erklären, dass es Ihnen selbst peinlich ist.

(Beifall FDP)

Und der grüne Teil der Regierung empört sich lieber reflexartig über sämtliche Vorschläge - mitunter ja auch völlig zu Recht -, weil er seine durchaus lobenswerten Grundsätze lieber nicht der Wirklichkeit anpassen will. Es ist aber zu wenig, Frau von Kalben, immer nur darauf zu hoffen, dass der grüne Ministerpräsident Kretschmann schon allem zustimmen werde. Es reicht auch nicht, sich immer nur darüber einig zu sein, die Fluchtursachen bekämpfen zu wollen und die europäischen Außengrenzen zu sichern, wobei die Herren Gabriel und Steinmeier nach einer bemerkenswerten Kehrtwende neuerdings ja auch bereit sind - ich zitiere -, „zusätzliche Maßnahmen an den Binnengrenzen Europas zu ergreifen“, um die Flüchtlingsströme besser kontrollieren zu können. Besser hätten es Herr Kauder, Herr Seehofer oder auch Herr Söder nicht sagen können.

(Beifall FDP)

Das sind zwar in der Sache alles vollkommen richtige Forderungen, bei denen Sie uns an Ihrer Seite

(Eka von Kalben)

wissen, doch wenn wir ehrlich und realistisch sind, wissen wir doch, dass sich das kurzfristig überhaupt nicht umsetzen lässt.

Genauso ist es doch parteiübergreifend konsens, dass wir eine europäische Lösung brauchen. Aber davon sind wir erstens weit entfernt, und zweitens heißt europäische Solidarität, anders als es manch ein Vertreter von CDU und SPD versteht, auch nicht, sich den deutschen Interessen zu fügen. Ich würde wirklich auf die anderen europäischen Länder hören, die es mittlerweile leid sind, am deutschen Wesen genesen zu sollen. Den schlimmsten Auftritt hat der Parlamentspräsident des Europäischen Parlaments, Herr Schulz, SPD, gegenüber Regierungen abgeliefert, die demokratisch ins Amt gekommen sind. So kann man mit europäischen Nachbarn, auf deren Mithilfe man angewiesen ist, nicht umgehen.

(Beifall FDP)

Alle diese Forderungen, die erhoben werden, fordern keinen Mut.

Was wir jetzt brauchen, sind nationale Lösungen. Das Asylpaket II ist auf dem Weg dahin auch sicher kein unvernünftiger Schritt. Wir können den Regelungen grundsätzlich zustimmen, weil sie für sich genommen jedenfalls nicht ungeeignet sind.

Dazu gehört auch die Einstufung der Maghreb-Länder als sichere Herkunftsstaaten, wenn man sich die aktuellen Zahlen vor Augen hält: Allein im Dezember 2015 kamen fast 2.300 Asylbewerber aus Algerien und 3.000 aus Marokko nach Deutschland, während im Gesamtjahr 2014 weniger als 4.000 Menschen aus diesen beiden Staaten Asyl in Deutschland begehrt hatten. Im Vergleich zum Juli 2015 stellt dies eine Verfünffachung der Zugangszahlen dar. Die bisherige Schutzquote im Jahr 2015 betrug bei algerischen Staatsbürgern 0,98 %, bei Marokkanern 2,29 % und bei Tunesiern 0,02 %. Das ist übrigens ein Land, in das die Deutschen gern in den Urlaub fliegen.

Und wenn die Kritiker jetzt wieder entgegnen, dass die Einstufung als sicheres Herkunftsland wirkungslos sei, dann empfehle ich einen Blick auf die Zugangszahlen vom Westbalkan. Während im März 2015 noch 11.729 Kosovaren einen Asylantrag stellten, waren es im Dezember 2015, nachdem das Land zum sicheren Herkunftsland erklärt worden war, nur noch 451. Das zeigt, diese Maßnahme hat Signalwirkung.

Bei allen berechtigten Zweifeln an der Rechtmäßigkeit der Einstufung ist es wichtig darauf hinzuwei

sen, dass die Einstufung als sicherer Herkunftsstaat als „verfahrensbezogene“ Regelung das Grundrecht auf Asyl nicht beseitigt, sondern eine widerlegbare Vermutung etabliert. Die Behauptung, das Asylrecht werde damit beseitigt, ist schlicht und ergreifend falsch.

(Beifall FDP - Zuruf Burkhard Peters [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Herr Abgeordneter Kubicki, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Abgeordneten Dr. Stegner?