Protocol of the Session on September 15, 2011

rung vom Kollegen Stegner, seit 1925 würde die Sozialdemokratie die Vereinigten Staaten von Europa verlangen, und dass er immer noch hinter dieser Forderung stünde, durchaus Zentralisierung beinhaltet?

- Lieber Kollege Harms, ich denke, wir könnten einen Volkshochschulkurs über das Wort Zentralisierung beginnen. Das ist aber nicht mein Anliegen. Aber ich sehe schon viele Ansätze - auch in der SPD -, die in die Richtung gehen, die ich vorhin genannt habe.

In den betroffenen Ländern begehrt die Bevölkerung auf. Ich denke, das ist ein wichtiger Punkt, denn die Menschen wollen Zukunftschancen, die ihnen durch das massive Sparen geraubt werden. Nicht umsonst warnt die UNO davor, dass Menschenrechte bedroht sind. Die Menschen wollen eine Zukunft, aber sie wollen auch ihre Selbstbestimmung wahren. Sollten die größeren, reicheren Euroländer hier zu sehr als Besserwisser auftreten und ihre Macht ausspielen, wird es nur kontraproduktiv wirken. Das Projekt Europa, das nicht zuletzt auf die historisch begründete Hoffnung baut, die großen Länder in Europa und insbesondere Deutschland zu bändigen, wäre ad absurdum geführt.

Parallel zum Frust in den Krisenländern wächst der Unmut in den anderen Ländern, die in einen Rettungsfonds nach dem anderen einzahlen. Die Menschen dort haben das Gefühl, um die eigene Wirtschaftsleistung und die eigenen sozialen Errungenschaften gebracht zu werden. Diese Stimmung muss ernst genommen werden. Dass auch hier nicht gerade die Einheitseuphorie vorherrscht, sollte man nicht als Populismus abtun, denn das Projekt EU kann nie besser werden als das, was die Bevölkerung will und zulässt. Ansonsten wird es undemokratisch.

Durch die Reaktionen der Bevölkerungen in den Geber- und Nehmerländern, die teilweise schon als soziale Unruhen bezeichnet werden müssen, wächst der Abstand zwischen den Bürgern, der Politik und den europäischen Institutionen. Die Gefahr der Entfremdung wird aber noch viel größer, wenn Deutschland nun glaubt, die Krise durch eine massive Zentralisierung bewältigen zu müssen. Die Folge wäre eine weitere Spaltung, die auch das Herz der europäischen Zusammenarbeit zu zerreißen droht.

Wir kommen nicht um die Tatsache umhin, dass Europa heute schon geteilt ist. Wir haben eine EU der 27, eine Währungsunion der 17 und europäi

sche Länder außerhalb der EU. In dieser Situation ist es fatal, dass Deutschland jetzt mit dem Gedanken einer EU der zwei Geschwindigkeiten spielt. Wenn die 17 Euroländer gemeinsam vorpreschen sofern sie sich denn darauf verständigen können -, dann führt dieses nicht dazu, dass die anderen dem früher oder später willig folgen. Es wird keine Mehrheiten für solche Änderungen der EU-Verträge und der nationalen Verfassungen geben. Dies gilt erst recht für jene Länder, wo dafür Volksabstimmungen erforderlich sind, und für die strukturschwächeren Staaten. Das Beispiel Griechenlands zeigt gerade, dass schwache Volkswirtschaften besser dastehen, wenn sie die Möglichkeit behalten, ihre Währung abzuwerten und so international wettbewerbsfähig zu bleiben.

Die Befürworter einer politischen Union verweisen darauf, dass Europa ohne eine Zentralisierung der politischen Macht in der Globalisierung nicht als ökonomische Macht bestehen kann. Sie müssen sich aber vorwerfen lassen, dass sie der bisherigen europäischen Zusammenarbeit einen anderen Sinn geben, denn sie bringt den entscheidenden Glaubenssatz der EWG, der EG und heute der EU in Gefahr. Die europäische Idee war ein Friedensprojekt, das auf die gleichberechtigte Mitwirkung aller Länder in Europa baut. Wer dieses Projekt nun umdeutet und einen Weg geht, der nicht mehrheitsfähig ist, spaltet die Europäische Union und verabschiedet sich von diesem Ziel. Das sollte man dann ehrlicherweise auch ganz klar sagen.

Die EU und die Eurozone stehen vor der großen Herausforderung, dass eine größere wirtschaftliche Solidarität erforderlich ist, ohne dass eine größere politische Integration Europas möglich wäre. Jenseits der unrealistischen Gedankenspiele mit einer europäischen Wirtschaftsregierung, einem europäischen Finanzminister oder Eurobonds gibt es nur Lösungen, die die nationale Souveränität achten - was ja auch für Deutschland nicht irrelevant ist, wie das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigt.

Verbindlichere Regeln, wie die Verankerung von Schuldenbremsen in den nationalen Verfassungen, können ein Weg sein, um die Neuverschuldung abzubauen - durch Kürzungen ebenso wie durch Einnahmeverbesserungen. Im Zweifel muss die Stärkung der Wirtschaft und ihrer Wettbewerbsfähigkeit, die nachhaltig sowohl für Steuereinnahmen wie für Arbeitsplätze sorgt, Vorrang vor Kürzungen haben. Deshalb müssen die Länder auch zyklische Haushaltsdefizite haben dürfen, bis sie sich wirtschaftlich erholt haben.

(Anke Spoorendonk)

Zu einer soliden Lösung für Griechenland gehört zudem, dass nicht nur auf die Staatsschulden fokussiert wird, sondern auch auf die ökonomischen Voraussetzungen, die dem Land innerhalb einer Union mit einer starken Währung heute keine Chance geben. Da eine Spaltung der Eurozone für die Griechen wie für den Rest katastrophale Folgen hätte, muss man in Betracht ziehen, die griechische Wirtschaft durch eine gezielte Wirtschaftsförderung, eine Art Marshall-Plan, auf Wachstumskurs zu bringen und wettbewerbsfähig zu halten.

Was in Südeuropa die Menschen auf die Straße treibt, in Deutschland Unmut auslöst und die Finanzmärkte in Unruhe versetzt, sind nicht nur die Schulden der Griechen, sondern auch das Taktieren und Lavieren der Regierungen in der aktuellen Krise. Die Menschen wollen vor allem eins: dass die Politik ehrlich und realistisch ist. Es muss endlich klar gesagt werden, dass wir innerhalb der Währungsunion alle in einem löchrigen Schiff ohne Rettungsboote sitzen und dass die reicheren Länder jetzt schnell die Reparatur bezahlen müssen, bevor der Dampfer absäuft. Das mag wehtun, aber alles andere ist fahrlässige Augenwischerei.

(Beifall beim SSW, vereinzelt bei der SPD und Beifall der Abgeordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Der Abgeordnete Björn Thoroe hat sich zu einem weiteren Redebeitrag gemeldet. Vorher gibt es aber einen Antrag zur Geschäftsordnung.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. Angesichts der Tatsache, dass wir im Moment über eine verantwortliche Finanzpolitik für ein starkes Europa reden und der Finanzminister seit geraumer Zeit nicht mehr im Raum ist, möchte ich nach § 48 Abs. 2 der Geschäftsordnung das Plenum bitten, dem Herrn Finanzminister die Gelegenheit zu geben, an dieser Debatte, die auch für ihn sicherlich lehrreich sein könnte, teilzunehmen.

Vielen Dank. Zur Information aller möchte ich noch einmal § 48 Abs. 2 der Geschäftsordnung vorlesen:

„Der Landtag hat das Recht und auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder die Pflicht,

die Anwesenheit jedes Mitglieds der Landesregierung zu verlangen.“

Es hat sich nun der Herr Ministerpräsident - wahrscheinlich aus aktuellem Anlass - zu Wort gemeldet. Ich bitte ihn, das Wort zu ergreifen.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe den Herrn Finanzminister gebeten, zu einer Besuchergruppe zu gehen, der angekündigt worden war, mit mir zu diskutieren. Da ich gern bei der Debatte dabei sein wollte, habe ich den Herrn Finanzminister gebeten, dort hinzugehen. Ich glaube, es ist manchmal notwendig, dann, wenn Besuchergruppen kommen, Dinge miteinander zu verbinden. Es tut mir leid, aber so ist die Situation. Ich will dies nur erklären, ich will das nicht entschuldigen. Ich glaube, dass der Finanzminister ausgesprochen stark in dieser Frage involviert ist. Dass wir die Diskussion führen, ist selbstverständlich.

Frau Präsidentin, wenn ich schon stehe: Darf ich einen weiteren Satz sagen?

Nur zur Sache, jetzt geht es um die Geschäftsordnung.

(Zuruf des Abgeordneten Ulrich Schippels [DIE LINKE])

- Der Antrag wird zurückgezogen. Damit brauchen wir nicht zur Abstimmung zu kommen. Sonst hätte ich gefragt, ob ein Viertel der Abgeordneten die Anwesenheit des Herrn Finanzministers verlangt.

Wir fahren mit unseren Beratungen fort. Herr Abgeordneter Björn Thoroe hat das Wort. Der Fraktion DIE LINKE steht noch eine Redezeit von gut fünf Minuten zur Verfügung.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am Anfang meiner Rede möchte ich kurz auf den Antrag der Grünen eingehen. Der Antrag der Grünen unterscheidet sich dadurch fundamental von dem Antrag der SPD, dass das Wort „sozial“ komplett aus dem Antrag gestrichen worden ist. Umso mehr ist von Finanzen und Wirtschaft die Rede.

(Beifall des Abgeordneten Rasmus Andresen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] - Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [FDP]: Un- glaublich!)

(Anke Spoorendonk)

Der Antrag ist zutiefst bürokratisch. Ansonsten möchte ich hier feststellen: Europa ist in keiner Währungskrise. Es ist schon gar nicht in einer Staatsverschuldungskrise. Europa ist in einer Systemkrise.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Grund für diese Krise ist, dass sich ein Finanzsystem entwickelt hat, das nur noch einem Teil der Gesellschaft nützt; einem Teil der Gesellschaft, der winzig klein geworden ist und immer kleiner wird. Immer weniger Menschen besitzen immer mehr Vermögen. In Griechenland hat diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht. Dort besitzen 2.000 Familien, das entspricht weniger als 0,1 % der Bevölkerung, 80 % des Vermögens. Diese 0,1 % der Bevölkerung haben die Unter- und Mittelschichten in Griechenland ausgebeutet und nie nennenswert Steuern bezahlt.

Diese 0,1 % der überreichen Griechen müssten nun eigentlich zur Kasse gebeten werden. Stattdessen werden die Unter- und Mittelschichten in ganz Europa belastet. Banken und Superreiche werden dagegen verschont. Auch in Deutschland zeichnet sich eine ähnliche Vermögensentwicklung ab. Die reichsten 10 % der Bevölkerung in Deutschland besitzen allein ein Geldvermögen von 3 Billionen €. Dem gegenüber steht eine Staatsverschuldung von 2 Billionen €, mit der auch heute wieder ein sozialer Kahlschlag aller Art begründet wird. Die schwarz-gelbe Koalition spiegelt dieses zutiefst idiologische Totschlagargument auch hier und heute wider. Passend ist an dieser Stelle ein Zitat des Börsenmilliardärs Warren Buffett:

„Es herrscht Klassenkrieg, … aber es ist meine Klasse, die Klasse der Reichen, die Krieg führt, und wir sind dabei, ihn zu gewinnen.“

DIE LINKE fordert vor diesem Hintergrund ein radikales Umsteuern: Erstens. Die Regulierung der Finanzmärkte durch ein Verbot von Leerverkäufen und Hedgefonds.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens. Eine Finanztransaktionsteuer auf alle Börsengeschäfte. Drittens. Einen europäischen, ausschließlich öffentlichen Bankensektor.

(Beifall bei der LINKEN)

Viertens. Eine europäische Reichensteuer von 5 % auf alle Vermögen über 1 Million €.

(Beifall bei der LINKEN)

Fünftens. Die Stärkung der europäischen Binnenmärkte durch Arbeitszeitverkürzung, Lohnsteigerungen und die Erhöhung der Renten sowie der Sozialleistungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sechstens. Die Demokratisierung der Wirtschaft durch einen massiven Ausbau der Beschäftigtenrechte.

(Beifall bei der LINKEN)

Letztlich lässt sich die jetzige Systemkrise nur durch eine Überwindung des herrschenden Systems lösen. Wir brauchen eine solidarische Gesellschaftsordnung eine Gesellschaftsordnung, die jedem Individuum unabhängig von Herkunft, körperlichen Merkmalen und Leistung die freie Entfaltung seiner Fähigkeiten und die umfassende Befriedigung seiner Bedürfnisse garantiert.

(Beifall bei der LINKEN)

Die technischen Voraussetzungen dafür hat die Menschheit längst verwirklicht. Es fehlt allein der politische Wille. Wir werden uns die Utopie einer besseren Gesellschaft nicht nehmen lassen. Wir werden uns auch die Utopie eines besseren, eines gerechteren Europas nicht nehmen lassen. DIE LINKE kämpft weiter innerhalb und außerhalb des Parlaments für eine Veränderung der Verhältnisse zum Besseren. DIE LINKE kämpft für eine radikale Umverteilung und eine umfassende Demokratisierung Europas.

(Beifall bei der LINKEN)

Zu einem Dreiminutenbeitrag erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Christian von Boetticher das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Kollege Habeck hat heute einen Namensartikel im „Hamburger Abendblatt“ veröffentlicht. Zwei Sätze, die er hier wiederholt hat, will ich - mit Genehmigung der Frau Präsidentin - zitieren:

„Zwei Experten, drei Meinungen. … Ohne Frage ist das Thema schwierig, es gibt weder einfache noch gute Antworten und keine reine Lehre.“