Protocol of the Session on December 16, 2010

Trotzdem sehen wir uns nicht imstande, auf einen Kompromiss einzugehen, bei dem das interfraktionelle Vorgehen Vorrang vor einer angemessenen Antwort auf das Verfassungsgerichtsurteil hat. Denn das Landesverfassungsgericht hat dem Landtag einen klaren Auftrag erteilt: Die Wahlrechtsgleichheit in Schleswig-Holstein ist aus dem Lot und muss wiederhergestellt werden.

Für die notwendigen Reparaturen hat das Gericht dem Landtag einen Werkzeugkasten mit rechtlichen Stellschrauben hingestellt. Hierzu gehört vor allem, dass die verzerrende Deckelung des Mehrsitzausgleichs aufgehoben werden muss. Nur so lässt sich verhindern, dass Parteien wieder ohne Zweitstimmenmehrheit die Mehrheit der Sitze im Landtag bekommen können; denn gerade diese Konstellation, die seit der Landtagswahl 2009 Bürger, Zeitungskommentatoren und Wahlrechtsexperten auf die Palme gebracht hat, war ja auch die Ursache für unsere Klage beim Landesverfassungsgericht. Wir begrüßen deshalb ausdrücklich, dass nun ein einmütiger Landtag den vollen Ausgleich von Überhangmandaten anstrebt.

Erfreulich ist ebenfalls, dass der gesamte Landtag am Zweistimmenwahlrecht festhält. Dies war zwar auch einer der vom Gericht benannten Faktoren. Das Zweistimmenwahlrecht ist aber eine kleinere Schraube und hat keine ausschlaggebende Funktion, wenn es darum geht, das Ausufern der Mehrsitze zu verhindern. Die Erfahrungen von Kommunalwahlen und früheren Landtagswahlen zeigen, dass auch mit einem Einstimmenwahlrecht viele Überhangmandate entstehen können. Demgegenüber bietet das Zweistimmenwahlrecht mehr demokratische Gestaltungsmöglichkeiten für die Wählerinnen und Wähler. Bei der Abwägung von Vor- und Nachteilen für die Bürger wird der Landtag sich deshalb im Interesse der Wahlbevölkerung für den Erhalt der Zweitstimme einsetzen.

Die dritte und größte Schraube, die das Landesverfassungsgericht dem Landtag in den Werkzeugkoffer gelegt hat, ist die Zahl der Wahlkreise und daraus folgend die Anzahl der Direktmandate im Landtag. Denn es ist nun einmal die hohe Zahl von Direktmandaten, die zu Überhangmandaten und zur Überschreitung der Zielgröße von 69 Abgeordneten in der Landesverfassung führt. Zugegeben, die Zahl 69 ist nicht heilig, jedenfalls nicht im Wahlrecht. Das Landesverfassungsgericht hat in seiner Urteilsbegründung nur bemängelt, dass das geltende Wahlrecht nicht geeignet ist, die verfassungs

(Ulrich Schippels)

rechtliche Vorgabe von 69 zu erreichen. Die Politik hat natürlich jederzeit das Recht, mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit die Verfassung zu ändern. Aber trotzdem kommen wir natürlich nicht um die Vorgeschichte herum. Der Landtag hat selbst entschieden, die Zielgröße 69 in der Landesverfassung zu verankern. Er hat dies getan, weil er den Bürgerinnen und Bürgern im Zuge der Diätenreform 2003 verdeutlichen wollte, dass die neue Diätenstruktur nicht zu einem teureren Landtag führen würde. Dass dabei handwerklich gepfuscht wurde, können wir heute sehen. Es hat nicht funktioniert, aber die Frage ist nun, ob es die richtige Antwort ist, wieder einen größeren Landtag in Kauf zu nehmen. Wer die Zahl 69 ändern will, muss den Menschen erklären, weshalb er jetzt einen größeren Landtag für erforderlich hält. Wir können es nicht,

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und der SSW kann auf keinen Fall einer Lösung zustimmen, bei der schon jetzt abzusehen ist, dass wir in der Praxis wieder Landtage mit bis zu 100 Abgeordneten bekommen.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Denn es gibt auch die Möglichkeit, durch eine Reduzierung der Wahlkreise an der Zielgröße 69 festzuhalten und nur geringe Abweichungen zuzulassen. Die großen Parteien verweisen darauf, dass mit einer Reduzierung der Direktwahlkreise das Element der Persönlichkeitswahl zurückgedrängt würde. Dass dieser Konflikt aber untergeordnet ist, zeigt das Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes für die Grünen. Ich empfehle jedem, sich dieses Gutachten noch einmal anzusehen. Das entscheidende verfassungsrechtliche Kriterium ist die Erfolgswertgleichheit der Stimmen. Dies bedeutet, dass die Mehrheitswahl immer das entscheidende Moment sein wird.

Die CDU und die SPD betrachten die Wahlkreise aber offensichtlich als ihr Eigentum, ansonsten lässt es sich nicht erklären, dass sie sich durch einen verkleinerten Landtag schon im Nachteil sehen.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Es ist etwas befremdlich, wenn der CDU-Fraktionsvorsitzende der dpa gegenüber lamentiert, er sei „im Moment der einzige, der zu seinen Abgeordneten gehen muss, um zu sagen, ihr seid im nächsten Landtag nicht mehr vertreten“. Wenn die Zahl der

Wahlkreise stärker reduziert würde, dann träfe es alle.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Es wird natürlich auch bei den anderen Parteien Mandate kosten, es kann für den SSW zum Verlust des Fraktionsstatus führen und verringert die Chance auf ein Direktmandat. In einer kleinen Fraktion hat jedes einzelne Mandat eine ungleich größere Bedeutung für die Arbeit als in einer großen Gruppe. Also unterstellen Sie uns nicht, wir würden nur an uns selbst denken.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Noch etwas: Dieser Prozess wird für alle schmerzhaft, aber das darf uns nicht davon abhalten, ein sauberes Wahlgesetz zu beschließen.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Dasselbe gilt für das mathematische Verfahren, mit dem die Wählerstimmen in Landtagsmandate umgerechnet werden. Es gibt gute Gründe, das Höchstzahlverfahren nach d’Hondt abzuschaffen. Wir fordern die Umstellung auf die Methode Sainte-Laguë/ Schepers, die zu genaueren Ergebnissen führt und so dem Gebot der Erfolgswertgleichheit der Stimmen besser Rechnung trägt. Gerade in Verbindung mit dem Zählverfahren wird den kleinen Parteien der Vorwurf gemacht, eigene Interessen zu bedienen. Natürlich ist ein anderes Berechnungsverfahren günstiger für uns, weil d’Hondt kleinere Parteien tendenziell benachteiligt.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Aber das Entscheidende ist, dass die Methode Sainte-Laguë/Schepers gerechter ist, weil sie so genau wie möglich das Wählervotum widerspiegelt. Das oberste Ziel ist die Erfolgswertgleichheit, und die ist bei diesem Zählverfahren größer.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Dies gilt auch für die Frage, wie weit die Größe eines Wahlkreises vom Durchschnitt abweichen darf. Das Verfassungsgericht hat deutlich gemacht, dass anstelle der geltenden Toleranzgrenze von 25 % maximal eine Abweichung von plus/minus 15 % der Wahlkreisdurchschnittsgröße anzustreben ist, damit alle Stimmen annähernd das gleiche Gewicht haben. Der SSW ist offen für eine Diskussion darüber, ob die Wahlkreise dabei nach Bevölkerung

(Anke Spoorendonk)

oder Anzahl der Wahlberechtigten zugeschnitten werden. Was aber nicht geht, ist, dass man das Votum des Gerichts einfach ignoriert und eine 20%-Grenze wählt.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

CDU, FDP und SPD haben nicht einmal den Versuch unternommen, die Hausaufgaben zu lösen, die das Landesverfassungsgericht der Politik auferlegt hat. Insbesondere die beiden größten Parteien behandeln das Verfassungsgerichtsurteil wie eine Art Orakelspruch, der je nach Lust und Laune ausgelegt werden kann. Sie erliegen abermals der verhängnisvollen Versuchung, zuerst an die Partei zu denken. Das ist genau die Denkweise, die uns die aktuellen verfassungsrechtlichen Probleme eingebrockt hat.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Aus diesem Grund hat der SSW gemeinsam mit der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen eigenen Gesetzentwurf zur Änderung des Wahlgesetzes eingereicht. Unsere Eckpunkte werden dem Verfassungsgerichtsurteil gerecht und halten als Einzige das Versprechen, dass der Landtag künftig nicht zu groß sein darf.

Darum, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es noch mehr als genug zu tun, bis wir spätestens im März - ich denke, es wäre auch früher möglich - ein Wahlgesetz bekommen, sodass wir auch so früh wie möglich Neuwahlen bekommen können.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Zu einem Dreiminutenbeitrag erteile ich der CDUFraktion, Herrn Abgeordneten Werner Kalinka, das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Kollege Dr. Habeck hat Sorge um politische Autorität geäußert. Ja, ich teile diese Sorge, und einer der Gründe dafür ist Populismus.

(Beifall bei CDU und FDP)

Meine Damen und Herren, Sie haben gesagt, die Zeit der Volksparteien sei vorbei. Ich dachte bislang eigentlich, Sie wollten dort hinkommen. Ohne Volksparteien

(Dr. Robert Habeck [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wollen niemals werden wie Sie!)

muss man sich um die Stabilität Gedanken machen. Wir haben es erst gestern wieder erlebt.

(Beifall bei CDU und FDP)

Das Problem dieses Hauses ist ja, dass es nicht einmal eine regierungsfähige politische Alternative gibt. Ihre Einigkeit ist Ihre Uneinigkeit. Das ist die Situation in diesem Haus.

(Beifall bei der CDU)

Lassen Sie mich zu Ihren einzelnen Punkten in meinem Dreiminutenbeitrag kurz einige Anmerkungen machen. Wir hätten rein politische Argumente: Mich können Sie damit nicht meinen, wie Sie wissen. Aber Sie müssen sich doch einmal die Frage stellen, was Sie eigentlich haben. Sie wollen schlichtweg eine Stimmung nutzen, um möglichst schnell etwas durchzudrücken. Das ist Ihr Punkt. Es ist die von Ihnen ansonsten kritisierte Basta-Politik, die Sie hier versuchen.

(Beifall bei CDU und FDP - Zuruf der Abge- ordneten Anke Erdmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Lassen Sie mich einen Satz hinzusetzen: Herr Kollege Habeck, wovor haben Sie denn eigentlich Angst?

(Lachen des Abgeordneten Dr. Robert Ha- beck [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn in diesem Land alles so schlecht läuft, dann stehen Sie in eineinhalb Jahren doch noch viel besser da. Welche Sorge haben Sie denn eigentlich vor einem späteren Wahltermin?

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Robert Habeck?

Herr Kollege Kalinka, danke für die Ermahnung, beim Populismus aufzupassen. Deswegen ist meine Frage: An welcher Stelle meiner Rede oder unserer Anträge wollen wir eine Stimmung im Lande ausnutzen?

(Anke Spoorendonk)

(Herlich Marie Todsen-Reese [CDU]: Ihr ganzer Auftritt ist so! - Weitere Zurufe)