Protocol of the Session on June 17, 2010

Sehr geehrte Damen und Herren! Ich eröffne die heutige Sitzung und begrüße Sie alle sehr herzlich. Erkrankt ist der Herr Ministerpräsident, beurlaubt sind für heute Nachmittag Frau Abgeordnete Katja Rathje-Hoffmann und Herr Abgeordneter Dr. Ralf Stegner, von der Landesregierung Frau Ministerin Dr. Juliane Rumpf und Herr Minister Dr. Heiner Garg.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wir erinnern uns heute an die Situation vor 57 Jahren in Berlin (Ost): Der selbsternannte Arbeiter- und Bauernstaat setzte die Mittel des unterdrückerischen Polizeistaats gegen Arbeiterinnen und Arbeiter ein, die ihre verbrieften Grundrechte für die Wahrung ihrer sozialen Rechte selbst in die Hand nahmen. Der 17. Juni ist ein Tag des Gedenkens. Er ist noch heute Ausdruck von Spaltung und Trennung, von Zweistaatlichkeit und nationaler Zerrissenheit.

Den Westdeutschen wurde die Demokratie durch die Westalliierten leicht gemacht. Die Ostdeutschen haben für diese Demokratie, für die Vereinigung beider deutscher Staaten zu Tausenden friedlich demonstriert. Ihnen gebührt unser Dank,

(Beifall im ganzen Haus)

unsere Anerkennung, dass sie in Ausübung ihrer Grundrechte den Prozess der Vereinigung vorangetrieben haben. Es ist ein Prozess bis ins Jahr 1990 hinein, den letztlich Michail Gorbatschow ermöglichte, den die Bundesregierung, die demokratischen Parteien und die Regierung de Maizière gestalteten, den unsere Verbündeten trugen.

Mut gehört dazu - wie am 17. Juni 1953; Mut zum Eingestehen von Menschenrechtsverletzungen im Unrechtsstaat DDR, Mut zur Demokratie; Mut zur aktiven Gestaltung unserer freiheitlich und sozial verfassten Demokratie; Mut zu einem neuen Anfang in Solidarität und Toleranz. Diesen Mut schulden wir den Opfern des 17. Juni 1953 und den Demonstranten des Jahres 1989.

Meine Damen und Herren, der Schleswig-Holsteinische Landtag gedenkt heute der Opfer des 17. Juni 1953. Er würdigt das mutige Eintreten von Frauen und Männern in der ehemaligen DDR für Freiheit und Gerechtigkeit. Ihr Wirken war eine wichtige Grundlage dafür, dass der Gedanke der Einheit der Nation in Deutschland wachgehalten werden konnte.

(Beifall bei CDU, SPD, FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW und vereinzelt bei der LINKEN)

Das Vermächtnis dieses Volksaufstands liegt in der Vollendung der inneren Einheit Deutschlands. Im Gedenken an die Opfer des 17. Juni 1953 erinnert der Schleswig-Holsteinische Landtag an die Verantwortung aller gesellschaftlichen Kräfte, das Zusammenwachsen des deutschen Volkes auch heute noch weiter zu fördern, und appelliert an alle Deutschen, sich an dieser großen Aufgabe weiterhin zu beteiligen.

Der 17. Juni 1953 und seine Opfer dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

(Beifall im ganzen Haus)

Ich rufe jetzt Tagesordnungspunkt 30 auf:

Neugliederung der Verwaltung in SchleswigHolstein

Antrag der Fraktionen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW Drucksache 17/604 (neu)

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat der Fraktionsvorsitzende, Herr Abgeordneter Dr. Robert Habeck.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir hatten es bereits gestern gestreift, Einschnitte ohne Strukturveränderungen können weder finanzpolitisch noch politisch gelingen. Deshalb knüpft diese Debatte an die Regierungserklärung an, und die Regierungserklärung knüpft ja an die Debatte um das Haushaltsstrukturkonzept der Haushaltsstrukturkommission an.

Eigentlich hätte ich gern hier, heute und jetzt nicht geredet, denn wir, die grüne Landtagsfraktion, waren schon in den Startlöchern, um so etwas wie einen interfraktionellen Konsens über das Vorgehen auszuloten, wie man in eine konstruktive Debatte über die Verwaltungsstrukturreform des Landes kommen kann. Dann aber kam das Haushaltsstrukturkonzept und mit ihm der Vorschlag, die Ämterverfassung in diesem Land so zu lassen, wie sie ist. Gleichzeitig soll ein neues Gremium, der Verwaltungsverband, eingeführt werden. Was aber bitte

soll der Verwaltungsverband anderes sein als ein Zweckverband der Ämter?

Damit, meine Damen und Herren von CDU und FDP, verschärfen Sie absehbar den Verfassungsverstoß. Haben Sie nicht kapiert, worum es in dieser Sache geht? Die Ämter sind unzureichend demokratisch legitimiert, und Sie wollen die Legimitation noch weiter aushöhlen. Wir müssen doch die Demokratie zu den Aufgaben bringen und die Bürgerinnen und Bürger wieder mit den Entscheidungen zusammenbringen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Und Sie wollen alles immer weiter vom Souverän entfernen. Dazu kann ich nur sagen: Der Stil der Haushaltsstrukturkommission darf nicht Leitbild für die kommunale Ebene werden. Hinterzimmerkrämerei ersetzt eben keine Demokratie.

(Vereinzelter Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weil die Regierung letztlich alles ungeprüft schluckt, was die Haushaltsstrukturkommission ihr zum Fraß vorwirft, müssen wir jetzt handeln und diesen Antrag einbringen.

Das Verfassungsgerichtsurteil aus Schleswig zu den Ämtern ist eine große Chance für eine demokratische Erneuerung Schleswig-Holsteins.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt beim SSW)

Es ist eine Chance, die wir nutzen sollten. Die beklagte demokratische Aushöhlung ist kein Zufall. Man muss sie und den Staatsaufbau auch vor dem Hintergrund der Schuldenfrage diskutieren. Denn die Institutionen des Gemeinwesens wurden geschaffen, um etwas zu verteilen. Das war die Idee.

Jetzt aber gibt es nichts mehr zu verteilen, wie wir gestern alle wortreich gehört haben. Wir haben eine völlig neue Situation. Jetzt stehen wir mit Ehrenamtsstrukturen da, die nur noch Kürzungsbescheide und Einschnitte rechtfertigen sollen. Wer aber soll sich in den Kreisen, in den Gemeinden oder in den Gremien, die wir neu bauen müssten, für politische Selbstbestimmung zur Verfügung stellen, wenn es gar nichts mehr zu bestimmen gibt: keine Fahrzeuge für die Feuerwehr, keine Instrumente für die Musikschule, keine Trikots für die Fußballvereine? - Wir müssen mit einer Strukturreform verhindern, dass das Herz der Demokratie, dass die Kommunen ausbluten.

Unser Antrag ist bescheiden, weil er kein abschließendes Modell vorschlägt. Er beschreibt einen

Pfad, und er gibt Orientierungspunkte für diesen Pfad: Keine vier Verwaltungsebenen im Land und Gewinne aus der Verwaltungsstrukturreform bleiben vollständig bei den Kommunen. Damit haben anders als bei den letzten Debatten - die Kommunen selbst einen erheblichen Anreiz, sich an der Diskussion um eine Gebiets- und Verwaltungsstrukturreform zu beteiligen und diesen Prozess selbst zu eröffnen. Der Prozess sollte auch breit angelegt werden und alle Betroffenen - ich betone frühzeitig einbeziehen. Andererseits ist der Antrag durchaus ehrgeizig, denn das Konzept soll innerhalb eines Jahres erstellt werden. Damit können wir zur nächsten Kommunalwahl fertig sein und diese nach den neuen Spielregeln durchführen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das ist schnell, aber wenn es richtig ist, dass der Neuaufbau demokratische und finanzielle Vorteile gibt, dann ist zaghaftes Zaudern politische Verweigerung.

Meine Damen und Herren, früher haben wir gedacht, Effizienz und Demokratie durch Größe der Strukturen herstellen zu können. Heute sage ich: Es ist nicht die Größe von Gebilden, es ist der Wegfall von Ebenen, der den Unterschied macht. Ich sage auch, dass man Organisationsformen nicht gegen das Bedürfnis der Menschen nach Heimat aus dem Boden stampfen kann. Die gewachsenen Strukturen im Land sind nicht zufällig, sie sind prägend. Die Menschen wollen Professionalität und Identität. Es ist heute die Aufgabe von Politik, ihnen beides zu geben. Wir sollten uns dieser Aufgabe gemeinsam stellen. Deshalb bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag und dem des SSW.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SSW)

Für die Fraktion des SSW erteile ich Frau Kollegin Silke Hinrichsen das Wort, die ebenfalls Antragstellerin ist.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir müssen die Kommunen wieder in die Lage versetzen, vor Ort all die Dinge zu verwalten und zu entscheiden, die das unmittelbare Leben der Menschen vor Ort betreffen. Regelmäßig scheitern die Kleingemeinden Schleswig-Holsteins daran und haben deshalb immer mehr Aufgaben an die Ämter übertragen. Ich müsste richtigerweise sagen,

(Dr. Robert Habeck)

dass sie sie übertragen haben. Das dürfen sie heute nicht mehr, denn das Landesverfassungsgericht hat dem zu Recht einen Riegel vorgeschoben und eine Reform verlangt. Dafür gibt uns das Verfassungsgericht Zeit bis zum 31. Dezember 2014. Das hört sich lang an. Wir sollten aus Gründen der Glaubwürdigkeit versuchen, die Weichen so rechtzeitig zu stellen, dass die nächste Kommunalwahl bereits auf neuer Grundlage durchgeführt werden kann. Also müsste dies bis 2011 erfolgen.

Da diese Diskussion um eine solide Reform jedoch schon sehr lange in Gang ist, ist es in jedem Fall angeraten, dieses Mal gründlich zu beraten und eine Weichenstellung für die Zukunft zu stellen, die auch nachhaltig ist. Der SSW kritisiert bereits seit Jahren die veraltete und rechtlich fragwürdige Konstruktion der Ämter und fordert stattdessen zeitgemäße und vor allen Dingen handlungsfähige Kommunen. Wir sind der Ansicht, dass die Kommunalverwaltung ab einer Bevölkerungsgröße von mindestens 8.000 Einwohnern in einer Gemeinde handlungsfähig gestaltet werden kann. Die Kommunalpolitikerinnen und -politiker haben dann die Verwaltungskraft, um das Leben vor Ort politisch gestalten zu können.

So ein Richtwert ist nicht als ehern zu verstehen. Vielmehr sollten wir gemeinsam und in Abstimmung mit den kommunalen Verbänden eine tragfähige Lösung für eine neue, zweigliederige kommunale Struktur erarbeiten. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich ergänzen, dass wir bei diesen Beratungen nicht auf die Erfahrungen einzelner Kommunalpolitiker und -politikerinnen verzichten sollten, die im täglichen Geschäft am besten registrieren, wo es Probleme gibt. Es ist angesichts der Größe Schleswig-Holsteins völlig ausreichend, sich in Schleswig-Holstein auf zwei kommunale Ebenen zu beschränken. Es soll gerade nicht mehr eine Versammlung der Schwachen sein, sondern eine Gruppe Entscheidungsstarker.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Genau das fordert der SSW auch aus der Erfahrung skandinavischer Kommunalreformen heraus. Wenn wir uns auf zwei handlungsfähige kommunale Ebenen verständigen, dann bekommen wir klare und erkennbare Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten. Deshalb sollten wir bei der Kommunalreform auf die sogenannte Reset-Taste drücken und vorurteilsfrei und ohne Ballast aus den vorangegangenen wirren Kreisgebietsreform- und Verwaltungsstrukturdiskussionen versuchen, neu in den parlamentarischen Dialog und zur Willensbildung zu kommen.

Den Auftrag des Gerichts sollten wir darum für eine breite Initiative nutzen. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land warten auf ein solches Signal. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten vom Landtag ein tragfähiges Modell für mehr kommunale Demokratie und mehr echte Teilhabe.

(Beifall bei SSW und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Sie sind in diesem Punkt vielen verzagten Landespolitikern, die aus Furcht vor Schelte durch die Lokalfürsten lediglich begrenzte Änderungen anstreben, weit voraus. Der Hinweis darauf, dass die Zweckverbände nunmehr die Lösung seien, weil im Urteil dazu nichts gesprochen worden ist, kann nicht die Lösung sein.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Von einigen Verbänden wird die Erstellung eines Aufgabenkatalogs angestrebt. Dies wird jedoch scheitern. So ein Katalog wäre nur ein weiteres Zeugnis des Kleinmutes und des bürokratischen Denkens und keine Lösung.

Wer könnte behaupten, welche Aufgaben auf keinen Fall übertragbar sind und bei den Gemeinden zu verbleiben haben und welche Aufgaben unabhängig vom Wählervotum hin- und hergeschoben werden können? - Gehört zum Beispiel die Breitbandversorgung zur Daseinsversorge und ist damit eine ursprüngliche Aufgabe der Kommunen? - Was ist mit dem regelmäßigen Busverkehr, der über einen reinen Schülerverkehr hinausgeht? - Allein diese Beispiele zeigen: Sowohl die Landesregierung als auch wir sind nicht in der Lage, einen gerichtsfesten Katalog formulieren zu können. Was die Konsequenzen dieses Katalogs betrifft, so wird sie ebenfalls scheitern. Niemand - auch nicht Sie wird ernsthaft fordern, dass in Amt A nicht gewählt werden darf, weil dort eine Aufgabenübertragung innerhalb des Katalogs bleibt, aber in Amt B, weil dort nur kataloginterne Aufgaben übertragen wurden. Das kann nicht sein: Mal darf in einem Amt gewählt werden, mal nicht. So sieht im Übrigen Überbürokratisierung und Bürgerferne in den schlimmsten Albträumen aus.

Davon abgesehen: Das drängende Problem des anwachsenden Demokratiedefizits wird durch die Diskussion zum Aufgabenkatalog völlig verdrängt. Ich weise auch darauf hin, dass es kaum möglich ist, so einen Katalog zu erstellen. Ich bitte Sie: Wenn hier einer sagt: „Ja, das können wir machen“, dann möge er mir diesen Aufgabenkatalog bitte vorlegen. Deshalb kann der Ausweg auch nicht sein, stattdes

(Silke Hinrichsen)

sen einen Zweckverband zu machen. Wir sollten uns zu einer klaren Reform durchringen, die vor allem auch einmal nachhaltig ist, und hier endlich weiterkommen.

(Beifall bei SSW, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)