Protocol of the Session on February 24, 2010

Interessant ist es dann nachzulesen, was die moderne Forschung über den Niedergang des Römischen Reiches sagt. Sie sagt, er sei nicht monokausal, sondern er habe mehrere Ursachen. Wenn man sich mit diesen Ursachen beschäftigt, stößt man auf drei Hauptstränge, die verantwortlich gemacht werden.

Erstens. Der große technische Fortschritt, den Rom einmal hatte, und zwar in allen Bereichen der Technik aber auch der Kultur und der Bildung, wurde im Laufe von Jahrhunderten verspielt. Andere Völker in der Nachbarschaft holten auf. Das betraf die Militärorganisation. Die Straßen, die Rom selbst gebaut hatte, wurden zum Teil auch von anderen benutzt. Heute würde man sagen, es wurde abgekupfert, es wurde etwas an Technologie übernommen. In Rom vergaß man, diesen eigenen technologischen Fortschritt auch voranzutreiben.

Wenn man das liest, kommen einem schon gewisse Assoziationen. Das, was wir in Deutschland an Erfindungsreichtum einmal hatten, Erfindungen, wie Kaffeefilter, Leitzordner, Dübel, Schnuller, Schallplatte, alles deutsche Erfindungen, die heute noch im allgemeinen Gebrauch sind - aber auch Dinge, die einen weltweiten Zivilisationsfortschritt gebracht haben, wie das Automobil, die Eisenbahn, das Elektronenmikroskop waren alles deutsche Erfindungen, aber nicht in den letzten 50 Jahren, sondern in einer Zeit, die deutlich vorher lag. Die Fra

(Wolfgang Kubicki)

ge ist, ob wir an dieser Stelle nicht in eine deutliche Fehlentwicklung laufen.

Der zweite genannte Grund sind Finanzierungsprobleme. Das schnell gewachsene Römische Reich war plötzlich nicht mehr in der Lage, die Dinge, die es sich als Aufgaben gesetzt hatte, in der gesamten Bandbreite zu finanzieren.

(Zuruf von der SPD: Zur Sache!)

Auch dies erinnert mich eklatant an die Debatte, die wir derzeit führen, nämlich ob der Staat heute noch in der Lage ist, viele der Dinge zu leisten, die wir ihm aufgegeben haben.

Und das Dritte und Letzte ist die Unfähigkeit von spätrömischen Regierungen, sich diesen Herausforderungen zu stellen. Wenn ich heute die Debatten sehe, die wir hier in diesen Häusern führen, in unserem Haus als Parlament, aber auch im Deutschen Bundestag, dann fällt mir auf, dass wir in der Tat in den großen Debatten um die Veränderungsprozesse, die wir haben, bisher keine schlüssigen Antworten gefunden haben.

Ich nenne einmal die drei Herausforderungen, vor denen wir stehen. Das ist die Veränderung, die die Globalisierung für den Arbeitsmarkt mit sich bringt, das sind die Veränderungen, die die Demografie für die sozialen Sicherungssysteme auslöst, und das ist die Veränderung der Struktur bei der öffentlichen Gestaltung, die wir durch die Überschuldung der Haushalte haben. Bei allen drei Fragen hat es die Politik - und zwar unabhängig davon, wer regiert - bisher nicht geschafft, Antworten für die Zukunft zu geben. In allen drei Bereichen sind wir im Augenblick als Gesellschaft, aber auch als Politik sehr starr, sehr unbeweglich und haben es nicht geschafft, diese Fragen zu beantworten.

Ich finde, dass der Bundesaußenminister interessanterweise - obwohl er mit der Dekadenztheorie völlig falsch lag - durchaus eine Brücke geschlagen hat, die wir sehr ernst nehmen müssen, nämlich mit der Frage, ob wir an einer Stelle angelangt sind, ob wir die Bereiche mit den großen Herausforderungen, die wir haben - das geht weit über Hartz IV hinaus -, wirklich vernünftig gestalten.

Ich will ganz deutlich sagen: Das, was der Bundesaußenminister gesagt hat, nämlich die Gerechtigkeitsfrage zu stellen, hat aus mehreren Gesichtspunkten heraus eine große Bedeutung. Da ist einmal die Frage, ob wir als Staat mit der Gießkanne umherschreiten können. Wir haben 2,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger, die zwischen 15.000 und 20.000 € verdienen. Wir haben immerhin 35 Millio

nen Bürger, die Steuern zahlen. Mit deren Geldern wird auch das Kindergeld bezahlt, auch für die Kinder von Wolfgang Kubicki und für die von anderen sich hier im Saal befindenden Besserverdienenden. Das ist eine Gerechtigkeitsfrage, die wir stellen müssen, nämlich warum das so ist, warum ein Staat, der immer wieder sagt, er sei deutlich überschuldet, alles mit der Gießkanne über alle ausschütten muss.

Der zweite Punkt ist, dass wir ein Gegeneinander von Alt und Jung bekommen. Die Alten haben häufig noch eine lange Erwerbsbiografie, haben aber das Gefühl, aus den Rentenkassen heute nur noch geringe Beiträge zu bekommen. Ich habe eine Mutter, die geht mit einer Rente in der Größenordnung zwischen 600 und 700 € nach Hause. Die hat ihr Leben lang gelernt - nach dem Krieg aufgewachsen -, jeden Cent dreimal umzudrehen. Sie hat gelernt, den Weg zum nächsten Supermarkt zu laufen, nicht mit dem Bus zu fahren und beim Einkaufen darauf zu achten, dass sie nicht viel ausgibt. Wenn man sie fragt, was für Lebensmittel ausgibt, so sind das unter 100 €. Das sind aber Menschen, die haben eine Erwerbsbiografie gehabt, eine lange, und die deshalb heute nicht verstehen können, dass junge Menschen, die im erwerbstätigen Alter sind, all diese Leistungen, die man sich als ältere Generation erarbeitet hat, vom Staat bekommen. Das ist eine schwierige Debatte, die wir für die Generationen zu führen haben.

Herr Abgeordneter Dr. von Boetticher!

Der letzte Punkt - damit komme ich zum Schluss ist die Frage, wie wir diejenigen behandeln, die in der Tat einen großen Teil dieses Systems bezahlen. Wir haben 35 Millionen Steuerpflichtige, aber nur 5,5 Millionen davon bezahlen 65 % der Einkommenssteuer und auch einen Großteil der Umsatzsteuer, der Kapitalertragssteuer und der Erbschaftssteuer. Natürlich kann ich mir immer wieder neue Dinge ausdenken, wie ich diese 5,5 Millionen Menschen besonders belaste, oder ich überlege mir eine Strategie, wie wir dazu kommen können, dass mehr Menschen in bessere Gehaltsklassen aufsteigen, sodass mehr Menschen an dem Wohlstand teilnehmen und ihn auch nähren können, damit wir am Ende alle mehr haben.

Ich will diese Anstöße vom Bundesaußenminister hier in diese Debatte tragen. Sie werden uns alle in

(Dr. Christian von Boetticher)

der Bundesrepublik und auch in diesem Parlament beschäftigen. Über Hartz IV werden wir im Laufe dieser Tagung noch eine Menge Gespräche führen können.

(Beifall bei CDU und FDP)

Das Wort hat der Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion, der Herr Oppositionsführer Dr. Ralf Stegner.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ausgangspunkt dieser Debatte, dieser Aktuellen Stunde, ist eine zentrale Frage für Millionen von Menschen in diesem Land, und zwar das Zitat des FDP-Vorsitzenden, der von spätrömischer Dekadenz gesprochen hat. Und da gab es eine Debatte darüber: Waren nur die Worte falsch, aber die Sache richtig? - Nein, die Worte waren falsch, aber die Sache auch.

Die späte Römische Republik war eine Sklavenhaltergesellschaft. Insofern wird, wie ich glaube, jedem klar, dass das, was gesagt wurde, offenkundig Unfug ist. Aber auch die Sache ist falsch. Es ist nicht so, dass die Sozialleistungen zu hoch sind. Ich war damals übrigens im Vermittlungsausschuss dabei, als über Hartz IV gesprochen wurde. Ich erinnere mich an die Beiträge der Kollegen Koch und Westerwelle. Für diejenigen, die Hilfe bekommen, konnten die Schikanen gar nicht groß genug sein, um es einmal klar zu sagen, was die Autorenschaft angeht.

Das DIW - das ist der Kern des Problems - stellt fest, dass die unteren 20 % der Einkommensbezieher in Deutschland in den letzten Jahren 10 % Einkommensverluste und die oberen 10 % 15 % Einkommensgewinne hatten. Das ist die Wahrheit in unserem Land. Es ist also nicht so, dass die Sozialleistungen zu hoch sind. Vielmehr sind die Löhne zu niedrig. Gleiches gilt für die Aufstiegsmöglichkeiten.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Wie ist denn die Situation der Geringverdiener und der Hilfeempfänger? Was verdienen Menschen, die in der Pflege arbeiten? Wie ist es um diejenigen bestellt, die Kinder erziehen? Wer hilft Kleinverdienern, wenn für Sohn oder Tochter die Klassenreise ansteht oder wenn die Waschmaschine kaputtgeht? Wie geht es denen, deren Arbeitsplatz

verlorengeht, weil man durch Abbau von Arbeitsplätzen an der Börse vorankommen will? Wie viele sind in prekären Beschäftigungsverhältnissen und beziehen Armutsrenten? Wie ist es um alleinerziehende Frauen bestellt, die Hartz IV bekommen und gar keine Chance haben, Kinderbetreuung zu bekommen? Das ist doch die Realität in diesem Lande. Wie viel Kinder haben wir, die ohne warme Mahlzeit am Tag zurechtkommen müssen? Die Beschlüsse von Schwarz-Gelb zu diesem Thema laufen darauf hinaus, dass die Steuerfreibeträge erhöht werden und dass diejenigen, die am meisten haben, noch mehr bekommen. Das ist falsch, denn Kinderarmut resultiert auch aus Elternarmut.

Ich will hier auch Folgendes ganz deutlich sagen. Wir hören die Behauptung, die Arbeitslosen seien doch eigentlich faul und das gehe zulasten der Leistungsträger. Das ist der Kern dessen, was ich rechtspopulistisch genannt habe; das will ich deutlich sagen. Das ist die klassische Argumentation aus diesem Lager. Ich bezeichne niemanden hier im Hause als asozial. Ich bezeichne aber die Haltung, bei der gesagt wird, die Arbeitslosen seien eigentlich faul und wollten gar nicht arbeiten, als nicht sozial. Bei dem, was zu tun ist, scheiden sich unsere Geister, und zwar sehr deutlich.

Die einen wollen Steuern senken; dann steigen die Beiträge. Die anderen, nämlich wir, wollen mehr Mittel für Bildung und zur Kinderbetreuung. Wir sagen in diesem Zusammenhang auch ehrlich, dass es dann erforderlich ist, die Steuern für diejenigen, die am meisten haben, eher zu erhöhen.

Ein zweiter Punkt! Die einen, nämlich Sie, wollen, dass Dumpinglöhne subventioniert werden und aus Steuermitteln aufgestockt werden. Wir wollen das nicht. Wir wollen faire Mindestlöhne. Wir wollen den gleichen Lohn für gleiche Arbeit, und zwar nicht nur im Bereich der Zeitarbeit, sondern auch im Verhältnis von Männern zu Frauen.

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und der LINKEN)

Die einen wollen die Regelsätze ernsthaft senken, diskutieren darüber, Sanktionen zu verschärfen, wollen Zuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IVEmpfänger oder Bürgergeld. Das ist die Transfergesellschaft. Wir wollen eine Arbeitsgesellschaft, in der Arbeit ihren Preis hat. Unserem christlichen Menschenbild entspricht, dass man von seiner Arbeit leben kann, dass Menschen gebraucht werden wollen, dass diejenigen, die Hilfe brauchen, diese auch bekommen. Dazu gehört auch ein einheitlicher Kinderregelsatz, der dies gewährleistet. Das

(Dr. Christian von Boetticher)

ist der Unterschied in der Politik zwischen den einen und den anderen.

Die einen, nämlich Sie, wollen Lebensrisiken privatisieren, wollen Kopfpauschalen einführen und Leistungen kürzen, und zwar auch bei Vereinen, Verbänden und bei der kommunalen Daseinsvorsorge. Wir dagegen wollen die Solidarsysteme stärken. Wir wollen eine Bürgerversicherung. Wir wollen Investitionen, die in die Zukunft führen. Wir wollen bessere Kinderbetreuung und Bildung. Wir wollen, dass das Gemeinwohl unterstützt und nicht Klientelpolitik betrieben wird.

(Beifall bei SPD und vereinzelt bei der LIN- KEN)

Wir müssen uns dabei im Übrigen gar nicht an den eigenen Vorbildern orientieren. Die Aussage, dass das Ziel der sozialen Marktwirtschaft sei, Wohlstand für alle zu schaffen, stammt von Ludwig Erhard. Wir sind an ihm mit unseren Positionen deutlich näher als diejenigen, die die Schere weiter öffnen wollen.

(Lachen bei der CDU)

Die „Süddeutsche Zeitung“ hat zu Recht geschrieben: Wer den Sozialstaat schwächt und beerdigen will, der soll gleich ein Doppelgrab bestellen, weil er damit nämlich die Demokratie gefährdet. - Das ist auch unsere Auffassung. Wir brauchen einen starken Sozialstaat mit Aufstiegsmöglichkeiten für alle, mit fairen Löhnen, von denen man leben kann, mit einer solidarischen Gesellschaft mit Hilfen für diejenigen, die sie brauchen und die deshalb nicht diskreditiert werden dürfen. Dass rechtspopulistische Tendenzen gefährlich sind, kann man leider in vielen europäischen Ländern sehen. So etwas wollen wir in Deutschland nicht haben.

(Beifall bei SPD und vereinzelt bei BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)

Nun hat der Vorsitzende der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Herr Abgeordneter Dr. Robert Habeck, das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr von Boetticher, ich bin ja froh, dass Sie Ihre Rede nicht mit der Forderung beendet haben, es müssten mehr Krieg und mehr Sklaven her, um die spätrömische Dekadenz dieser Gesellschaft zu be

enden. Ihre Schlussfolgerung allerdings, dass Guido Westerwelle eine Brücke zu einer Diskussion geschlagen hat, teile ich nun wahrlich nicht.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das zeigt auch diese Debatte. Ich lese den Tagesordnungspunkt noch einmal vor, um den ganzen Hohn deutlich zu machen: Aktuelle Stunde zu den Konsequenzen aus der Debatte um die Reform der Hartz-IV-Gesetzgebung. Sie haben zu Recht gesagt, dass wir sechs Tagesordnungspunkte zu behandeln haben, die sich in irgendeiner Form mit Optionskommunen, Hartz IV und ähnlichen Themen befassen. Man hätte die jetzige Debatte leicht im Rahmen von einem dieser Tagesordnungspunkte führen können. Es gäbe Tausende von Anknüpfungspunkte, um so zu verfahren.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und der LINKEN)

Um eine Aktuelle Stunde herbeizuführen - das Gerichtsurteil war ja kein aktueller Anlass, denn es lag lange vor und das Problem ist auch lange bekannt -, mussten Sie die Debatte über die Debatte als Begründung einführen. Das soll der Brückenschlag von Guido Westerwelle und Wolfgang Kubicki sein. Das ist nachgerade lächerlich. Debatte über Debatte heißt: Politiker reden über sich selber. Wo endet die Debatte? Sie endet mit der Drohung: Wir reden nicht mehr mit der SPD, wenn sie sich hier nicht entschuldigt. - Ist es denn zu fassen! Interessiert es irgendjemanden im Land, ob Sie mit Herrn Stegner reden oder nicht? Das kann doch gar nicht wahr sein!

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und der LINKEN)

Wir reden gar nicht mehr über die Probleme der Menschen, sondern nur noch über die Probleme, die Politiker mit sich selber haben. Das ist doch wirklich eine peinliche Nummer. Diese Peinlichkeit war in den letzten vier, fünf Tagen deutlich zu spüren.

(Wolfgang Kubicki [FDP]: Sie hätten zuhö- ren sollen!)

- Ich habe gut zugehört, Herr Kubicki. Ich habe vor allem registriert, dass Sie beim Zitat der OECDStudie, als es um den Niedriglohnbereich ging, Abgaben und Steuern verwechselt haben. Das ist allerdings erstaunlich gewesen. Die Bezieher unterer Einkommen zahlen in der Regel ja kaum Steuern. Allerdings zahlen sie sehr hohe Abgaben. Das ist ein Teil des Problems. Darüber hätten wir hier gut reden können. Ich werde darauf noch einmal zurückkommen.