Protocol of the Session on June 15, 2005

Wenn wir jetzt wieder verstärkt über die Wege diskutieren, ist das richtig. Das Ziel ist aber doch ohne Alternative: ein friedliches Europa, das Freiheit und Gerechtigkeit garantiert, und zwar in Gestalt eines europäischen Staatenbundes und nicht als europäischer Bundesstaat. Zukunft haben für mich nicht die Vereinigten Staaten von Europa, sondern die Europäische Union, und zwar mit einer akzeptierten und von den Menschen getragenen Verfassung.

Die Zeit des europäischen Pathos ist vorbei. Die Zeit europäischer Praxis beginnt. Ob sie erfolgreich wird, liegt auch an uns.

(Beifall bei SPD, CDU und SSW)

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Fischer. - Für die Fraktion der FDP hat der Herr Abgeordnete Dr. Ekkehard Klug das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Nein der Franzosen und der Niederländer zum EUVerfassungsvertrag war ein politischer Paukenschlag. Ein dauerhafter Schaden für den europäischen Integrationsprozess muss daraus jedoch keineswegs entstehen. Ein solcher Schaden entstünde nur dann, wenn die EU-Institutionen und die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten das Signal, das von den Volksabstimmungen ausgegangen ist, überhören würden und sich zu einem „Weiter so“ durchringen wollten.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der SPD)

Da kommt meine erste Kritik. Die ersten Reaktionen, gerade auch die erste Reaktion aus Berlin, von der Bundesregierung, aber auch aus Brüssel und anderswoher, klangen eher nach einem solchen „Weiter so“, einem Weiterwursteln. Das geht eben jetzt nicht mehr.

Horst Köhler, der Bundespräsident, hat Recht, wenn er von der Notwendigkeit gesprochen hat, eine europäische Inventur vorzunehmen. Ein bisschen salopp formuliert hat das der irische EU-Kommissar Charly McCreevy auf den Punkt gebracht: Wir müssen endlich wieder den Draht zu den normalen Bürgern finden.

(Beifall bei der FDP)

Distanz und Entfremdung zwischen Politik und Bürgern, das ist natürlich nicht nur ein Thema auf der europäischen Ebene. Hier ist es nach meiner Überzeugung aber besonders virulent. Das hängt mit der schieren Größe der Europäischen Union - 450 Millionen Einwohner, 25 Nationalstaaten - zusammen. Das fehlende Wir-Gefühl in dieser schnell gewachsenen Gemeinschaft ist eine der Ursachen, aber natürlich auch der Hang der Europapolitik, sich sozusagen immer nur in der Sphäre der Eliten zu bewegen.

Das alles sind mit Ursachen. Ich glaube, in der jetzigen Situation brauchen wir unter anderem auch so etwas wie eine längere Atempause beim Fortgang des Erweiterungsprozesses. Es war in der Vergangenheit ein Fehler, dass Erweiterung und Vertiefung, auch Reform der Institutionen und Entwicklung des gemeinsamen Wir-Gefühls nicht im Gleichklang miteinander vollzogen worden sind. Das ist jetzt keine Absage an weitere Aufnahmen. Wir müssen aber erst einmal das, was sich in den letzten Jahren vollzogen hat, verarbeiten und verkraften in dieser schnell gewachsenen Europäischen Union.

Wir müssen den Bürgern viel deutlicher machen, worin für sie konkret die Vorteile der Europäischen

(Dr. Ekkehard Klug)

Union liegen. Auf der anderen Seite gilt es alles zu unterlassen, was die Menschen in der Europäischen Union als eine Behinderung und Belastung empfinden. Da kann man eine ganz lange Liste aufmachen, angefangen beim Entwurf der EU-Chemikalienverordnung. Wenn vor Ort zu lesen ist, auch in unseren Regionalzeitungen, dass 3.200 Arbeitsplätze in der chemischen Industrie allein in unserem Land betroffen sind, kommt eben doch kein Vergnügen auf, wenn da eine Verordnung erarbeitet wird, die eine ganz detaillierte Dokumentation für über 30.000 verschiedene chemische Substanzen nach sich zöge und allein bezogen auf die Umsätze der chemischen Industrie einen Aufschlag von 5 % mit sich brächte. So etwas geht nicht mehr. Wir leben nicht allein auf dieser Welt. Wir stehen in einem Wettbewerb und wir wollen unsere industriellen Arbeitsplätze nicht auf solche Weise kaputtmachen.

Dann die FFH-Richtlinie mit all ihren Auswüchsen. Wir haben das hier im Zusammenhang mit Eiderstedt zuhauf diskutiert. Wir lesen, in Mittel-Hessen hat das bei einem Autobahnprojekt kurioserweise dazu geführt, dass man dort 4.000 Molche einzeln registriert und fotografiert hat - für 800.000 €! Auch da stellt sich die Frage: Muss das unbedingt sein?

Nun kann man sagen - Herr Döring hat in der letzten Debatte vor den Volksabstimmungen einen ähnlichen Einwurf gemacht -, das seien alles beklagenswerte Einzelfälle. Ich sage dazu: Es sind eben leider nicht mehr bloß Einzelfälle, sondern bei den Bürgern hat sich - nicht ganz zu Unrecht - inzwischen der Eindruck ergeben, dass sich solche bürokratischen Aktionen leider häufen. Es geht darum, hier einen Kurswechsel zu erreichen in dem Sinne, wie es die britische Labour-Unterhaus-Abgeordnete und Mitglied des Verfassungskonvents, Gisela Stuart, eine aus Deutschland stammende britische Politikerin, gesagt hat, nämlich dass sich die EU wirklich auf eine weniger breite politische und wirtschaftliche Agenda konzentrieren muss, nicht mehr alles so detailliert im Kleinkleinverfahren regeln soll, sondern sich auf wesentliche Fragen konzentriert.

Helmut Schmidt hat in seinem Leitartikel in der „Zeit“ in der letzten Woche nach den Referenden zu Recht gesagt: Forschung und Entwicklung müssen für diese Europäische Union das zentrale Thema sein.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der SPD)

Wir werden den Wohlstand der Europäer nur dann halten können, wenn wir in den neuen Technologien wirklich eine Spitzenposition erhalten beziehungsweise uns wieder erarbeiten. In Lissabon hat man vor fünf Jahren gesagt: Wir wollen bis zum Ende des

Jahrzehnts, bis 2010, 3 % des Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung aufwenden.

Ich möchte kurz einmal die Situation in Deutschland beschreiben; das hat auch der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft kürzlich getan. Wir müssten jetzt jedes Jahr einen Zuwachs von 8 % in Deutschland bei den Ausgaben für FuE haben, um dieses Ziel erreichen zu können.

Da gibt es so absurde Situationen, dass ein deutscher Genforscher, Stammzellenforscher Angst haben muss, fünf Jahre ins Gefängnis zu gehen, wenn er an einem Kooperationsvorhaben mit britischen Kollegen in Newcastle, Cambridge oder an einer anderen britischen Forschungseinrichtung arbeitet. Wir können uns das nicht mehr leisten, wenn wir unseren Wohlstand den Bürgern dieses Europas in Zukunft weiter bieten wollen. Es geht darum, hier eine Vision zu formulieren und zu sagen: Wir wollen Europa fit machen für das 21. Jahrhundert und in Forschung und Entwicklung wieder Spitzenplätze auch da einnehmen, wo wir sie heute leider nicht mehr haben. Wenn wir eine solche Vision entfalten, wird die Zustimmung der Bürger zu dieser Europapolitik alsbald wiederkommen und stärker werden.

(Beifall bei der FDP und der Abgeordneten Anette Langner [SPD])

Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat deren Vorsitzende, Anne Lütkes.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zukunft Europas ist wahrlich eine deutsche Aufgabe, 60 Jahre nach Ende des Faschismus. Allerdings stellen wir fest, dass europaweit eine gewisse Ratlosigkeit gegeben ist nach dem wahrlich überwältigenden demokratischen Nein in mehreren Staaten. Der europäische Integrationsprozess ist gegenwärtig durch einen grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet: Auf der einen Seite ist die Europäische Union weltweit von hoher Bedeutung, ein politischer Faktor in der weltweiten Ausbreitung, Verteidigung der zivilen Gesellschaft. Die Befugnisse der EU reichen bereits weit in die Kernbereiche der Nationalstaaten hinein. Nationale Interessen und die Interessen der EU sind deckungsgleich - zum Teil.

Auf der anderen Seite verliert aber gerade das Projekt Europa trotz mehrerer Integrationsfortschritte an Unterstützung durch die Bürgerinnen und Bürger in den Mitgliedstaaten. Die politische Unterstützung in der Bevölkerung ist schwerlich, in einigen fast gar nicht,

(Anne Lütkes)

in Deutschland rückläufig gegeben. Man kann von einem Elitenprojekt des Europäischen sprechen - Sie haben das Zitat bereits gebracht, Herr Kollege.

Die Bürger wollen wissen, wohin dieses Projekt geht, sie wollen wissen, wo und wie es in ihr tägliches Leben eingreift - und das zu Recht.

Deshalb kommt es jetzt darauf an, politische Initiativen zu erarbeiten, die für die Bürger verständlich sind, die das Leben für die Bürger begreifbar machen und die sie teilen können. Wir brauchen eine Vertiefung der ganz bewussten politischen europäischen Identifikation mit diesem Projekt.

Herr Europaminister, deshalb ist es aus unserer Sicht der völlig falsche Weg, in dieser Situation eine gute Politik der Integration, der Erweiterung und der demokratischen Debatte zu beenden und die Beitrittsdebatten, die ersten Schritte zu Beitrittsgesprächen mit der Türkei zu beenden oder zu überwinden. Aus unserer Sicht ist gerade die politische Diskussion mit der Türkei auch in der jetzigen europäischen Gesamtdiskussion von hoher Bedeutung.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die privilegierte Partnerschaft, die angesprochen wurde, ist nicht der Weg, denn wir brauchen ein Europa auf der Basis der humanistischen Werte, um einen demokratischen Gesamtkontinent aufbauen zu können.

Da nützt es den Menschen vor Ort wahrlich nichts, wenn man ihnen grausliche Geschichten über das Zählen von Molchen und andere Auswirkungen der europäischen Bürokratie erzählt, sondern es kommt darauf an, deutlich zu machen, dass Europa vor Ort lebendig ist. Es geht auch nicht - da will ich mich auch gern an die eigene Nase fassen -, dass man als Fachmensch über die Harmonisierung des europäischen Rechts diskutiert und die Menschen vor Ort nicht merken, dass die Veränderungen im europäischen Familienrecht unmittelbar für ihre Lebensverhältnisse von hoher Bedeutung sind. Es ruft - wenn ich das so sagen darf, Frau Präsidentin - wahrlich niemanden hinter dem Ofen hervor, wenn man über die Harmonisierung des Rechts in abstrakter Art und Weise redet. Es kommt vielmehr darauf an, Europa lebbar und erfahrbar zu gestalten.

Ein wesentlicher Beitrag in diesem Zusammenhang sind die europäischen Grenzregionen - sie können Motor und Keimzelle des gemeinsamen Europäischen sein - und darüber hinaus die Ostseekooperation, die gerade von Schleswig-Holstein heraus zeigt, dass im Wege der Kooperation ein Gemeinsames erarbeitet werden kann.

Aus unserer Sicht sind neue Formen der regionalen Zusammenarbeit in Europa der eigentliche, der pragmatische, der richtige Schritt, diese Zusammenarbeit voranzubringen, Staaten und Regionen, aber auch Verbände, Institutionen, Wissenschaft, Umwelt und Kultur miteinander ins Gespräch zu bringen. Nur wenn Europa für die Menschen erfahrbar gemacht wird, wenn klar ist, dass diese Union für die Sicherheit sorgt, bei der Verbrechensbekämpfung Fortschritte macht, sich um Infrastruktur kümmert sowie das Recht und die Märkte so harmonisiert, dass die Menschen wirklich etwas davon haben, dann kann Europa eine Chance haben. Das geschieht am einfachsten und klarsten in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in den Regionen rechts und links, südlich und nördlich von Grenzen, wie wir es in Schleswig-Holstein vorleben.

Wir müssen lernen, dass das „Nein“ der Referenden nicht ein „Gar nicht“ bedeutet, sondern es bedeutet ein „So nicht“. Die sich daraus ergebende Frage ist ein „Wie denn“. Die Frage nach dem „Wie denn“ ist keine Verordnungsfrage, sondern eine Frage des praktisch gelebten Europas. Darauf kommen wir heute Nachmittag ja noch einmal zurück.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Jürgen Weber [SPD])

Das Wort für den SSW im Landtag hat deren Vorsitzende, Anke Spoorendonk.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Manchmal brauchen die Politiker und Bürokraten einen Schubs“, sagte der irische EU-Kommissar Charlie McCreevy - ich habe auch „Die Zeit“ gelesen - in einem Kommentar zu dem Nein der Franzosen und der Niederländer zur EU-Verfassung. Ob das nun wirklich reicht, ist - wie ich finde - immer noch eine offene Frage. Denn wenn in den Gründungsländern der EU - in den Niederlanden taten es über 60 % der Menschen - eine Verfassung abgelehnt wird, die von der überwältigenden Mehrheit der Politiker unterstützt wird, dann ist es offensichtlich, dass wir es nicht nur mit einer Krise der EU zu tun haben, sondern wirklich mit einer Vertrauenskrise zwischen der Politik und den Bevölkerungen Europas genau in dieser Frage.

Im Übrigen ist dieses Misstrauen gegenüber der EU weit verbreitet, auch in Deutschland. Ich denke, das darf man bei einer solchen Diskussion nicht vergessen. Deshalb darf man jetzt auch nicht den Fehler machen zu sagen, es seien zwei isolierte Entschei

(Anke Spoorendonk)

dungen dieser beiden Länder. Warten wir erst einmal ab, wie es mit der Ratifizierung der EU-Verfassung in den anderen EU-Ländern weitergeht. Das wird nicht funktionieren und die britische Regierung hat schon deutlich gemacht, dass sie keinen Sinn darin sieht, eine EU-Verfassung zur Abstimmung zu stellen, die nicht einmal im Kernland Frankreich eine Mehrheit gefunden hat. Auch in Dänemark äußern sich immer mehr Politiker negativ bezüglich der Durchführung einer Volksabstimmung. Nun haben zum Beispiel auch der dänische Außenminister Per Stig Møller von der Konservativen Volkspartei und Svend Auken von den Sozialdemokraten gesagt, man könne jetzt keine Volksabstimmung zu einer EUVerfassung durchführen, wo man eigentlich nicht wisse, ob sie eventuell doch noch geändert werde oder wo man überhaupt in dieser Frage stehe.

(Zuruf des Abgeordneten Dr. Ekkehard Klug [FDP])

- Das tun sie in jedem Fall auch. Dazu gibt es auch schöne Zitate, die ich leider vergessen habe mitzubringen.

Anstatt abzuwarten ist also jetzt Gebot der Stunde, klar und deutlich zu sagen: Die Verfassung in der vorliegenden Form ist tot und wird so auch nicht in Kraft treten können. Das kann man schlecht oder gut finden, aber das ist wirklich die politische Realität.

Dieser Tatsache muss man sich stellen, wenn man das Projekt der europäischen Zusammenarbeit überhaupt weiterführen möchte. Wichtig ist dabei, den Ursachen dieser Entwicklung auf den Grund zu gehen. Meine Vorredner haben schon einiges genannt. Die zentrale Frage ist ja, woran es eigentlich liegt, dass eine Verfassung, die nach Ansicht vieler Beobachter wirklich ein Fortschritt in demokratischer Hinsicht ist und die die Arbeit der EU effizienter machen sollte, so kläglich gescheitert ist. Hört man sich die Argumente der Gegner an, fällt auf, dass sie sich nicht gegen die Inhalte der Verfassung wenden, sondern auf Themen fokussieren, die auf den ersten Blick nichts mit der Verfassung zu tun haben. Das gilt für die so genannte Dienstleistungsrichtlinie oder auch für einen möglichen EU-Beitritt der Türkei. Diese Fragen muss man ernst nehmen. Ich denke aber, man darf jetzt nicht sagen, gut, die zentrale Frage ist die des EU-Beitritts der Türkei, denn diese Frage wird sich erst in 20 oder 30 Jahren entscheiden. Ich finde, man nutzt dieses Thema auch populistisch, wenn man sagt, das sei die zentrale Frage.

(Beifall bei der FDP und vereinzelter Beifall bei der SPD)

Darum mein Vorwurf an die CDU/CSU-Fraktionsvorsitzenden, die in ihrer gemeinsamen Presseerklärung das Thema ein bisschen in diesem Sinne benutzt haben. In Wirklichkeit geht es doch bei der EUDebatte um das Gefühl vieler Menschen, dass die Entwicklung in den letzten Jahren ganz einfach zu schnell gegangen ist. Es geht also um ihre konkrete Angst, ihren Arbeitsplatz oder auch ihren Wohlstand zu verlieren. Darum denke ich, man muss den Dialog mit den Bevölkerungen in den Mittelpunkt der Weiterentwicklung der EU stellen. Dabei bin ich dann wieder bei dem Punkt, dass es ohne eine Volksbefragung auch nicht weitergehen kann. Nur so wird man den Dialog in den Mittelpunkt stellen können, so wird man diese Krise vielleicht zu dem nutzen können, was eigentlich bei einer Krise herauskommen sollte, nämlich ein Neubeginn.

(Beifall bei SSW, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank der Frau Abgeordneten Anke Spoorendonk. - Ich erteile für die Landesregierung Herrn Europaminister Uwe Döring das Wort.