Protocol of the Session on February 22, 2006

(Beifall bei der SPD)

Wir freuen uns ganz besonders, dass unsere ehemalige Ministerpräsidentin ihr Ansehen und ihre Kompetenz einbringt.

Nach dem neuesten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat sich die Schere zwischen Arm und Reich in unserem Land weiter geöffnet. Armut von Kindern und ihren Familien und hier ist nicht nur Einkommensarmut gemeint hat Folgen für ihre Gesundheit, ihre Bildungschancen, für das soziale Verhalten, für das gesellschaftliche Miteinander.

Unzureichende Förderung, fehlende Zuwendung und mangelnde Verlässlichkeit - das sind Ursachen für Hoffnungslosigkeit bei Kindern und Jugendlichen. Diese Probleme führen häufig zu Lebenskrisen mit schwerwiegenden Folgen für die Betroffenen, für ihren weiteren Lebensweg und für ihr soziales Umfeld. Ziel einer zukunftsorientierten Politik muss es deshalb nach Auffassung der SPD-Fraktion sein, die in der Regel schon in sehr frühen Lebensjahren von Kindern einsetzende Spirale von Benachteiligung zu durchbrechen.

Nach Aussagen des Kinderschutzbundes, der AWO, des Landesjugendrings und des Sozialverbandes wuchsen Mitte 2005 etwa 14 % aller Kinder in Schleswig-Holstein unter Armutsbedingungen auf. Ich meine, es ist müßig, einen Streit über die zugrunde liegende Armutsdefinition zu führen. Denn es ändert nicht die Notwendigkeit des Handelns, wenn aufgrund anderer Berechnungsmodelle der Prozentsatz der betroffenen Kinder leicht sinkt oder steigt

(Beifall bei der SPD)

Wir sprechen in jedem Fall über viel zu viele Kinder und ihre Familien.

Was bedeutet eine Kindheit in Armut? Welche Benachteiligungen entstehen? - Ist eine Familie ihrem Einkommen nach arm, ist das Risiko hoch, dass die Kinder sozial, materiell, kulturell und gesundheitlich unterversorgt sind. Bei den sechsjährigen armen Kindern in unserem Bundesland sind gegenüber nicht armen Kindern deutlich häufiger Auffälligkeiten beim Sprach-, Spiel- und Arbeitsverhalten festzustellen.

Auch bei Klassenwiederholungen zeigen sich deutliche Unterschiede: Während fast 30 % der armen Kinder eine Klasse wiederholen müssen, sind es bei nicht armen Kindern nur 8,4 %.

Eine der neuesten Untersuchungen, die sich mit der Armut von Kindern beschäftigen, hat das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik im Auftrag des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt erstellt. Auch die Ergebnisse dieser Studie belegen, was zumindest bei fachlich Interessierten längst bekannt ist: Das höchste Armutsrisiko haben Kinder aus Einelternfamilien, Kinder aus sehr großen Familien mit vier und mehr Kindern und Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund.

Auch die Unterschiede, die das Leben von armen Kindern im Gegensatz zu Kindern aus nicht armen Familien ausmachen, sind nicht wirklich überraschend: Der größte Unterschied ist im materiellen Bereich festzustellen. Ausdruck der Mangellage ist zum Beispiel vor allem, kein eigenes Kinderzimmer zu haben, Einschränkungen bei der Kleidung und/ oder dem Spielzeug hinnehmen zu müssen.

Wir können also feststellen: Armut schränkt Kinder und ihre Familien ein und grenzt sie sozial aus. Je länger Armut andauert, desto gravierender werden die Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft.

Armut einer Familie ist der zentrale Risikofaktor für eine Entwicklung im Wohlergehen. Arme Kinder verfügen über weniger personale, familiäre und außerfamiliäre Schutzfaktoren als nicht arme Kinder. Das wirkt sich natürlich auf ihre Lebenssituation aus. Diese Kinder wachsen in einem belasteten und in einem belastenden Umfeld auf, das ihnen nur begrenzte Handlungs- und Entwicklungsspielräume verschafft. Die kindliche Situation wird bestimmt durch Einschränkungen materieller wie immaterieller Art. Ein außerfamiliärer Ersatz oder ein Schutz davor ist nur selten gegeben.

Ich habe es bereits zu Beginn meiner Rede gesagt: Es ist das Verdienst von Kinderschutzbund, AWO,

Sozialverband und Landesjugendring, das Augenmerk nicht nur der Fachöffentlichkeit und der Politik auf das Problem „Kinderarmut“ gelenkt zu haben.

Aber - auch das stelle ich hier ausdrücklich fest -: Sowohl die rot-grüne Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben sich des Themas in den vergangenen Jahren angenommen als auch die jetzige Landesregierung und die Fraktionen von SPD und CDU vernachlässigen die Politik für Kinder und Jugendliche nicht.

Um einen Überblick über die zahlreichen bisherigen Aktivitäten zu erhalten - Frau Heinold, es geht um Aktivitäten und Arbeitsfelder, aber nicht um neue Berichte -,

(Beifall bei der SPD)

bitten wir die Landesregierung deshalb, in der MaiTagung des Landtages unter anderem darüber zu berichten, wie eine weitergehende Grundsicherung von Kindern und Jugendlichen gegen materielle Armut aufgestellt werden kann und welche Ansätze es zur Armutsprävention bei Kindern und Jugendlichen bereits gibt. Wir möchten wissen, wie es um den Versorgungsgrad und Ausbauvorhaben bei der Kinderbetreuung steht, wie die Situation von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist. Zu berichten ist über Aktivitäten zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen und über Aktivitäten zur Verhinderung von Gewalt und zur Vermeidung von Vernachlässigung.

Eine solche Berichterstattung kann den seit November 2005 vorliegenden Kinder- und Jugendaktionsplan für Schleswig-Holstein in Teilen ergänzen und aktualisieren, aber auch Handlungsfelder weiter konkretisieren; darauf kommt es uns an.

Uns ist klar, dass eine wirkungsvolle Politik für Kinder und Jugendliche in unserem Land von einer Vielzahl von Akteuren mitbestimmt wird. Die materielle Ausstattung von Kindern wird ganz entscheidend durch die Bundespolitik bestimmt. Kinder- und Jugendhilfe ist eine der originären Aufgaben der kommunalen Ebene. Aber der Kinder- und Jugendaktionsplan ist als Rahmenplan ja auch gerade so angelegt, dass die Aktivitäten der verschiedenen Handelnden zusammengefasst und aufeinander abgestimmt werden.

Kindern und Jugendlichen in unserem Land müssen Perspektiven eröffnet werden. Sie müssen entsprechend ihres gesundheitlichen und psychosozialen Entwicklungsstands individuell gefördert werden. Sie müssen eine ausreichende Förderung ihrer so

zialen und persönlichen Kompetenzen und Begabungen erhalten, damit sie unter anderem auf die künftigen Herausforderungen einer selbstständigen Berufs- und Lebensgestaltung gut vorbereitet sind.

Kinder müssen die Chance haben, in Familien aufzuwachsen, die in der Lage sind, ihre Erziehungsverantwortung wahrzunehmen. Kinder müssen zuverlässig vor Vernachlässigung geschützt werden. Sie haben Anspruch darauf, dass unsere Gesellschaft ihnen unabhängig vom sozialen Status ihrer Eltern gleichberechtigte Chancen auf eine gesicherte Lebensgestaltung und eine frühzeitige Unterstützung in Notlagen gewährt.

(Beifall bei SPD und CDU)

Zum Wohle der Kinder und Jugendlichen ist die Zusammenarbeit vieler Akteure erforderlich. Wie eine solche Kooperation organisiert werden kann, zeigen die ersten Bündnisse für Familie, die in unserem Land ihre Arbeit aufgenommen haben. Hier gibt es viele Erfolg versprechende Ansätze. Eine solche Kooperation zum Wohle von Kindern ist immer dann besonders erfolgreich, wenn sie in konkreten Projekten praktiziert wird und ihr Nutzen für alle Beteiligten möglichst rasch sichtbar wird.

Die SPD-Fraktion begrüßt und unterstützt diese Aktivitäten. Denn das Wohl von Kindern und Jugendlichen muss auf allen politischen Ebenen nicht Inhalt von wohlfeilen Sonntagsreden sein, sondern täglich in praktische Arbeit umgesetzt werden.

Wir freuen uns auf den ausstehenden Bericht der Landesregierung und werden die Ergebnisse nicht nur hier auf Landesebene, sondern gerade auch im Gespräch mit den Fachleuten der Verbände, Schulen und sozialen Einrichtungen, Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitikern und den Betroffenen, also den Kindern und Jugendlichen, diskutieren.

Schließen möchte ich mit einem Zitat von Janusz Korczak, das Kinderschutzbund, AWO, Sozialverband und Landesjugendring ihrer Initiative „Gemeinsam gegen Kinderarmut“ vorangestellt haben: „Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind schon welche.“

(Beifall bei SPD und CDU )

Ich danke der Frau Abgeordneten Tenor-Alschausky und erteile für die FDP-Fraktion dem Herrn Abgeordneten Dr. Heiner Garg das Wort.

(Siegrid Tenor-Alschausky)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Angesichts der Tatsache, wie die Debatte bisher verlaufen ist, und angesichts des Erkenntnisstandes sämtlicher Vorrednerinnen und Vorredner will ich ganz deutlich sagen: Die FDP hat sich an dieser Inflation von Vorschlägen hinsichtlich Berichtsanträge mit Absicht nicht beteiligt. Wir wollen keinen neuen Bericht. Wir wollen keinen neuen Berichtsantrag stellen.

Ich halte es für legitim und sinnvoll, dass die Grünen nachgefragt haben, wann der zugesagte und mit entsprechenden Haushaltsmitteln ausgestattete Bericht der Landesregierung kommt, und damit ist es gut.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann auch nicht Begründungen nachvollziehen, die da heißen: Wir wollen keinen Bericht und deswegen fragen wir die Landesregierung und bitten sie, in der 11. Tagung zu berichten.

(Beifall bei FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das habe ich - ehrlich gesagt - auch nicht so ganz verstanden.

Ich möchte hier aber keine falsche Schärfe hineinbringen. Alle Vorrednerinnen und Vorredner haben es bewiesen, egal welcher Fraktion sie angehört haben. Wir wissen genau, wie schlimm die Situation ist. Die Ministerin wird gleich sagen, wann die Landesregierung diesen Auftrag erfüllt. Wenn aus dieser Diskussion heraus entsteht, dass dieser Landtag komplett hinter den Menschen steht, die in der täglichen Arbeit damit beschäftigt sind, pragmatische Lösungen nicht nur zu erarbeiten, sondern sie auch umzusetzen, dann hat auch die Debatte um Berichtsanträge vielleicht ihren Sinn gehabt.

Gerade angesichts der Tatsache, dass Kinderarmut in Deutschland in den vergangenen zehn Jahren stärker gestiegen ist als in allen anderen Industriestaaten, glaube ich wirklich, dass das, was der Kollege Geerdts gesagt hat, zutrifft, nämlich dass wir nicht daran gemessen werden, wer hier am häufigsten Berichtsanträge stellt und wer die längsten Berichtsanträge stellt. Vielmehr werden wir daran gemessen, dass wir uns am Schluss einer Legislaturperiode alle fragen, was wir dazu getan haben, dass Kinderarmut gesenkt werden kann. Es gilt dann nicht zu fragen, was haben wir getan, um irgendwelche Drucksachen zu produzieren.

Armut bei Kindern heißt, es gibt Kinder, die morgens ohne Frühstück in den Kindergarten gehen oder überhaupt nicht in den Kindergarten geschickt werden können, weil die Eltern möglicherweise das Geld dazu nicht haben. Kinderarmut, das sind Schüler, die nicht an Klassenfahrten und Ausflügen teilnehmen können, weil die Haushaltskasse so etwas nicht hergibt. Das sind finanzschwache Familien, die aus Kostengründen in infrastrukturschwachen Wohngegenden wohnen. Dort schließt sich dann der Teufelskreis. Mangelnde Freizeit-, Förderund Ausbildungsmöglichkeiten und eine steigende Verschuldung führen dazu, dass ein Ausbruch aus dieser Armut in Zukunft immer schwieriger wird.

Die Kollegin Heinold hat von der Sozialhilfegeneration in dritter Generation gesprochen. Ich wohne drüben in Kiel-Gaarden. Ich kenne diese Familien genau, die in dritter Generation von der Sozialhilfe leben. Es ist verdammt schwer, dort herauszukommen. Es ist unendlich schwierig, wenn man erlebt, dass möglicherweise nicht nur Vater und Mutter arbeitslos sind, sondern dass auch die Großeltern arbeitslos waren. Dort ist es schwer, Kinder - mit einem Frühstück ausgestattet - in den Kindergarten oder in die Schule zu schicken.

Alarmierend ist die überdurchschnittliche Armut von Kindern Alleinerziehender, Arbeitsloser und Kindern aus Zuwandererfamilien. Meine Vorredner haben dies bereits gesagt. Auch da bildet Schleswig-Holstein bedauerlicherweise keine Ausnahme. Hinzu kommt, dass allein 80.000 Haushalte in Schleswig-Holstein überschuldet sind. Jeder fünfte Schleswig-Holsteiner unter 25 Jahren hat bereits Verbindlichkeiten von mehreren Tausend Euro angehäuft; bedauerlicherweise mit steigender Tendenz. Es ist richtig, wenn hier - und zwar egal von wem - gefragt wird, wie wir diesen Teufelskreis durchbrechen können.

Wir wissen aus vielfältigen Studien, dass Armut in erster Linie - aber nicht nur - ein materielles Problem ist. Natürlich sind Geldleistungen wichtig und die Sicherung des Existenzminimums ist auch in Geldleistungen bemessen eine Grundvoraussetzung. Die Auszahlung von Geld löst aber viele Probleme sozial Schwacher nicht in jedem Fall. Was brauchen die Betroffenen zusätzlich? Womit kann ihnen geholfen werden, wenn nicht nur mit Geld? Die Antwort ist aus unserer Sicht: durch mehr und durch bessere Bildung und durch bessere Bildungsangebote. Je bessere Rahmenbedingungen in diesem Bereich geschaffen werden können, um den Betroffenen zu helfen, umso eher kann der Teufelskreis der Armut durchbrochen werden, denn Armut geht regelmäßig mit Sprachdefiziten und einem

mangelnden sozialen Arbeitsverhalten einher, das sich negativ auf den Bildungsverlauf und damit auf die spätere berufliche Existenzsicherung der Menschen auswirkt.

So darf es auch keinen wundern, dass in Deutschland mittlerweile in fast jedem Kinderzimmer Fernseher stehen, Erstklässler aber immer häufiger auf dem Sprachniveau von Dreijährigen verharren. Deswegen ist es notwendig, neben dem Ausbau von Kindergartenplätzen und Ganztagsbetreuungsangeboten die individuelle Förderung der Kinder in den Mittelpunkt zu stellen. Ein aktives Armutsbekämpfungsprogramm muss aus unserer Sicht genau hier ansetzen. Wir haben in der vorigen Debatte schon einmal darüber gesprochen, was die institutionelle Förderung anbelangt. Wir brauchen in den vorschulischen Bereichen mehr Bildungsangebote, mehr Qualifikationen für Erzieherinnen und Erzieher sowie Ganztagsangebote, um gerade sozial schwache Kinder bestmöglich zu fördern.

Gerade im Kindergarten kann man Kindern aus benachteiligten Familien am wirksamsten helfen. Das hat neulich eine Studie des Kriminologen Christian Pfeiffer noch einmal ans Tageslicht gebracht. 39 % aller Kinder in Deutschland gehen auf ein Gymnasium. Ausländerkinder, die oft überproportional von Armut betroffen sind, gehen jedoch nur zu 9 % dorthin. Was ist mit den Ausländerkindern, die in einen deutschen Ganztagskindergarten gehen und entsprechend sprachlich gefördert werden? Von denen schaffen es 39 % auf ein Gymnasium, also genauso viele wie im Durchschnitt. Ich will damit nicht sagen, dass wir uns nicht anstrengen müssen, damit noch mehr Kinder aufs Gymnasium gehen können, aber das heißt, mit der entsprechenden Förderung haben diese Menschen dieselbe Chance einen entsprechenden qualifizierten Schulabschluss zu machen. Ohne diese Förderung haben sie sehr viel schlechter Chancen.

Wenn davon auszugehen ist, dass in den ersten Lebensjahren ein Grundstein dafür gelegt werden kann, aus der Armut auszubrechen, dann muss genau an dieser Stelle der nächste Schritt erfolgen. Insofern greift der von der Landesregierung vorgelegte Kinder- und Jugend-Aktionsplan diese Punkte folgerichtig auf und wird durch den Aktionsplan der Sozialverbände „Gemeinsam gegen Kinderarmut“ in diesem Ziel ergänzt.

Aus unsere Sicht ist wichtig, nicht nur Kinder aus Migrationsfamilien durch ein besseres und gezielteres Förder- und Sprachangebot in unsere Gesellschaft zu integrieren, sondern Infrastrukturangebote wie den Ausbau von Ganztagsangeboten so

wie Hort- und Krippenplätzen weiter voranzutreiben und dabei die Frage zu beantworten, wie diese Angebote ohne Kosten für die Familien wahrgenommen werden können. Es ist wichtig, Eltern die Vereinbarung von Familie und Beruf besser zu ermöglichen und Förderangebote gerade für schwache Schüler zu verbessern, um ihnen die Möglichkeit eines Schulabschlusses zu eröffnen. Mittlerweile haben wir in Schleswig-Holstein den traurigen Rekord, dass 12 % der abgehenden Hauptschüler überhaupt keinen Abschluss mehr haben. Auch hier gibt es Nachbesserungsbedarf.

Frau Kollegin Heinold, vielleicht eine abschließende Bemerkung: Wenn man böswillig ist, dann kann man aus der Begründung zu ihrem Antrag herauslesen, dass Sie einen neuen Antrag fordern.