Protocol of the Session on November 10, 2005

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich eröffne die 14. Sitzung und begrüße Sie alle sehr herzlich bei diesem wunderbaren Wetter. Entschuldigt sind die Minister Döring und Wiegard; die Minister Austermann und Dr. von Boetticher werden wegen auswärtiger Termine nicht ständig an der heutigen Sitzung teilnehmen können und sind ebenfalls entschuldigt.

Auf der Besuchertribüne begrüßen wir Schülerinnen und Schüler der Eichendorff-Hauptschule Kronshagen mit ihren Lehrerinnen und Lehrern sowie den UBoot-Stammtisch Kiel. - Herzlich willkommen!

(Beifall)

Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:

Eckpunkte für die Reform der Oberstufe und die Verkürzung der Schulzeit Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/313

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Ich eröffne die Aussprache und erteile Herrn Abgeordneten Karl-Martin Hentschel das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei allen Reformen, gerade im Schulsystem, müssen wir uns fragen, ob die Reform wirklich allen Kindern, allen Schülerinnen und Schülern dient oder ob die besseren Gesellschaftskreise nur an sich selbst und an ihre eigenen Kinder denken und die unliebsamen Konkurrenz der sozial Schwachen und Migranten ausgrenzen.

Beginnen wir mit der Schulzeitverkürzung. Da gibt es einmal das Hamburger Modell. Dort erhalten die Schülerinnen und Schüler der Gymnasien von der fünften bis zur neunten Klasse mehr Unterricht, sodass sie den Stoff in fünf statt bisher sechs Jahren schaffen und nach der neunten Klasse in die Oberstufe kommen. Das kostet in der Umstellungsphase erheblich mehr Geld, danach ist es kostenneutral.

Was bedeutet das aber in der Konsequenz? Für einen Zeitraum von acht Jahren werden alle zusätzlichen Ressourcen auf die Gymnasien konzentriert. Nach Abschluss der Umstellung sind die Schülerinnen und Schüler der Gymnasien mit 15 Jahren um ein Jahr weiter, während die Schülerinnen und Schüler an Real- und Hauptschulen auf ihrem heutigen Niveau bleiben.

866 Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 14. Sitzung - Donnerstag, 10. November 2005

(Karl-Martin Hentschel)

Damit wird die himmelschreiende Ungerechtigkeit, die dem deutschen Bildungssystem heute schon bescheinigt wird, noch weiter auf die Spitze getrieben. Deshalb lehnen wir die Pläne ab und fordern, die Förderung aller Kinder zu verbessern, und zwar nicht erst ab der fünften Klasse. Die bessere und individuelle Förderung muss bereits in Kindergarten und Grundschule beginnen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wenn wir das Niveau heben wollen, dann muss das allen Kindern zugute kommen. Wenn es uns dann gelingt, das zu erreichen, was andere Staaten längst schaffen, dass die Kinder mit 15 Jahren durchschnittlich um ein Schuljahr weiter sind als heute, dann können sie die Mittlere Reife bereits nach der neunten Klasse erreichen. Dies schafft auch die Möglichkeit, dass für die schwächeren Schülerinnen und Schüler durch ein optionales zehntes Schuljahr an der Berufsschule oder in der gymnasialen Oberstufe zusätzliche Förderung erreicht wird.

Ich glaube, wir sind uns einig, wenn ich feststelle: Nicht alle Schülerinnen und Schüler sind gleich. Dieses Problem wird umso wichtiger, wenn wir die Schulzeit verkürzen. Denn nicht alle werden dem größeren Tempo folgen können. Deswegen schlagen wir eine flexible Oberstufe vor, die so in Halbjahresmodule gegliedert wird, dass die Schülerinnen und Schüler selbst entscheiden können, in welchem Tempo sie die Oberstufe durchlaufen wollen. Schwächere Schülerinnen und Schüler können dann die Oberstufe auf vier Jahre verlängern, um noch Defizite aufzuholen, stärkere können die Oberstufe auf zwei oder zweieinhalb Jahre verkürzen.

Damit würden wir die Chance eröffnen, dass trotz der generellen Verkürzung schwächere Schülerinnen und Schüler wie bisher 13 Jahre brauchen, aber leistungsstarke Schülerinnen und Schüler sogar im Extremfall auf elf Jahre verkürzen können. So können wir erreichen, dass wir die Schulzeit verkürzen und trotzdem mehr Jugendliche als heute Abitur machen. Denn wir brauchen in Zukunft alle Begabungen.

Damit komme ich zum dritten Punkt unseres Antrages der Reform der Oberstufe. Sie wollen das Kurssystem in den Oberstufen abschaffen und zum Klassenverband zurückkehren. Der Grund ist klar. Schon heute sind viele Oberstufen zu klein, um eine breite Auswahl an Kursen bei ökonomischen Kursgrößen anbieten zu können. Um bei sinkenden Schülerzahlen an allen Gymnasien eine eigene Oberstufe aufrechtzuerhalten, wollen Sie die Wahlmöglichkeiten für die Schülerinnen und Schüler abschaffen. So steht es im Koalitionsvertrag. Das ist nicht im Interesse der Schülerinnen und Schüler, sondern dient allein

dem Erhalt der bestehenden Strukturen in einer veränderten Welt.

Es gibt dazu klare Alternativen. Man kann mehrere Oberstufen zusammenlegen, also Oberstufenzentren bilden, wie es in fast allen europäischen Staaten üblich ist. Dort kann dann den Schülerinnen und Schülern ein breites Angebot an Kursen geboten werden. Wenn man nicht so weit gehen will, kann man auch Oberstufenverbünde bilden, indem mehrere benachbarte Schulen ihre Oberstufen verbindlich aufeinander abstimmen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abgeordneten Jürgen Weber [SPD])

Dabei sollte jede Schule Profilschwerpunkte übernehmen, sodass ein Besuch von bestimmten Kursen an der Nachbarschule nur in Ausnahmefällen nötig ist. Natürlich sind wir uns bewusst, dass dies an einigen ländlichen Standorten nur schwer möglich ist und Sonderlösungen gefunden werden müssen, die notfalls durch zusätzliche Stellen unterstützt werden müssen.

Wer aber die Wahlmöglichkeiten weitgehend abschaffen will, wie es der Philologenverband gefordert hat, der handelt nicht im Interesse der Schülerinnen und Schüler, sondern zur Bestandserhaltung der jetzigen Strukturen und opfert sie einer Ideologie.

(Beifall beim SSW)

Meine Damen und Herren, damit komme ich zum vierten Punkt, den zentralen Einheitsprüfungen. Auch wir wollen einen Leistungsvergleich der Schulen. Wenn wir den Schulen mehr Freiheit geben und zugleich bessere Ergebnisse anstreben, dann muss es einen kreativen Wettbewerb der Schulen geben.

Dazu gehört eine regelmäßige Evaluation der Schulen ebenso wie regelmäßige Vergleichsarbeiten, damit die Schulen, die Eltern und die Kommunen wissen, wo ihre Schule steht. Dazu brauchen wir aber keine zentralen Prüfungen. Ich sehe die Gefahr, dass dann der Schulstoff auf die Themen reduziert wird, die potenziell Prüfungsgegenstand sind, und dass Lehrerinnen und Lehrer ihre Klassen nur noch gezielt auf die Prüfungen hin trainieren. Ich sehe die Gefahr, dass Schüler dafür bestraft werden, wenn sie einen schwachen Lehrer haben. Und es besteht die Gefahr, dass das Engagement in Fächern und Themenbereichen, die nicht prüfungsrelevant sind, zurückgeht. Dies würde gerade Bereiche wie Projektarbeit, Theater und Arbeitsgemeinschaften betreffen, die für die Persönlichkeitsbildung von besonderer Bedeutung sind.

Schleswig-Holsteinischer Landtag (16. WP) - 14. Sitzung - Donnerstag, 10. November 2005 867

(Karl-Martin Hentschel)

Ich finde es schon seltsam, dass ausgerechnet diejenigen, die lautstark einen Feldzug gegen die angebliche Einheitsschule geführt haben, nun unbedingt alle Schulen Schülerinnen und Schüler vereinheitlichen wollen. Das lehnen wir ab. Denn für uns stehen die Kinder und nicht modische Ideologien im Mittelpunkt.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, vorige Woche haben wir die neuen PISA-Ergebnisse für Schleswig-Holstein bekommen. Die Gymnasien und erstaunlicherweise auch die schleswig-holsteinischen Gesamtschulen stehen im Bundesvergleich zumindest ganz ordentlich dar. Aber die Hauptschulen sind noch weiter zurückgefallen.

Die Hamburger CDU hat jetzt endlich die Kehrtwende vorgenommen und diskutiert die Auflösung der Hauptschulen. In Schleswig-Holstein hingegen werden immer noch Konzepte von gestern gepredigt, die dazu führen werden, dass der Abstand zwischen den Schwachen und den Starken noch größer wird. Kommen Sie auch in Schleswig-Holstein zur Vernunft!

Wie heißt es doch so schön - das ist gerade an Sie, meine Damen und Herren von der CDU, gerichtet -: Der Koalitionsvertrag ist keine Bibel. - Hier geht es nicht um Rechthaberei. Hier geht es um die Chancen unserer Kinder, um das wichtigste Kapital unseres Landes.

Ich beantrage deshalb die Überweisung unseres Antrages an den Bildungsausschuss, damit die CDUFraktion die Chance hat, ihre Position zu überprüfen und die Lernprozesse ihrer Hamburger Freunde nachzuvollziehen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich danke dem Abgeordneten Hentschel und erteile für die CDU-Fraktion der Abgeordneten Susanne Herold das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um eine weitere Stärkung des Bildungsstandorts SchleswigHolstein zu erreichen, haben CDU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das Abitur nach zwölf Jahren flächendeckend einzuführen und einhergehend damit eine Neugestaltung der gymnasialen Oberstufe sowie der Abiturprüfung einzuleiten.

Folgende Zielsetzungen sind der CDU dabei wichtig: Erstens. Die Startchancen schleswig-holsteinischer Schülerinnen und Schüler müssen angesichts der

wachsenden Integration Europas und der Globalisierung der Arbeitsmärkte verbessert werden.

Zweitens. Die Vermittlung der allgemeinen Hochschulreife muss ohne Niveauverlust bereits nach acht Jahren gesichert sein und mit der Stärkung von Grundlagenwissen und Allgemeinbildung einhergehen.

Drittens. Die Umstrukturierung muss zu einer neuen Unterrichtskultur, besseren Lernergebnissen sowie zu Qualitätsvergleichen und Qualitätssicherung führen.

Hierdurch soll die Studierfähigkeit gestärkt werden, um den stets wachsenden Anforderungen der Wirtschaft, der Ausbildungsinstitutionen und der Wissenschaft gerecht werden zu können.

Meine Damen und Herren, eine ausführliche Debatte zu diesem Thema sollten wir allerdings dann führen, wenn der Entwurf der Ministerin zu diesem Themenkomplex vorliegt.

Insofern empfinde ich den vorliegenden Antrag der Grünen als etwas voreilig. Ich finde, es ist immer handfester und einfacher zu argumentieren, wenn inhaltsvolle Konzepte vorliegen und dann Vorstellungen dazu entwickelt werden können. Sollten die hier von Ihnen angeführten Eckpunkte als Konzept gedacht sein, so vermag ich das nicht zu erkennen.

Inwieweit zum Beispiel der Realschulabschluss zukünftig nach der neunten oder zehnten Klassenstufe erreicht werden kann, ist doch im direkten Zusammenhang mit der Wahrung der Durchlässigkeit zu sehen.

Meine Damen und Herren, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN lehnen die Abschaffung des Kurssystems ab und setzen auf Oberstufenzentren. Diese haben sich jedoch bereits in der Vergangenheit je nach Standort der Gymnasien höchst unterschiedlich bewährt. Mit der Zusammenlegung von Oberstufen mehrer Schulen ist ein hoher logistischer Koordinierungsaufwand verbunden, der viel Zeit und Kraft bindet.

Statt beliebiger Kurskombinationen setzt die CDU auf die durchgängig angelegte feste Unterrichtsstruktur für die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch bis zum Abitur. Hiermit wird ein Fundament zur Stärkung der Allgemeinbildung und somit auch der Studierfähigkeit der jungen Menschen geschaffen.

(Beifall bei der CDU)

Die Aufrechterhaltung eines vernünftigen und zuverlässigen Kursangebots wird mit den in Zukunft rückläufigen Schülerzahlen - Sie erwähnten es bereits, Herr Hentschel - ohnehin immer schwieriger einzuhalten sein.

(Susanne Herold)

Hier bietet das vom schleswig-holsteinischen Philologenverband vorgestellte Konzept zur Bildung von Profiloberstufen gute Möglichkeiten, eine solide Allgemeinbildung mit speziellen Neigungen und Begabungen zu verbinden, die dann auch bis zum Abitur in ihrer Durchführung gesichert sind.

Werte Kolleginnen von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, Sie sprechen sich für Vergleichsarbeiten aus, jedoch gegen zentrale Abschlussprüfungen. Wo liegt hier die Logik? - Wenn man bereit ist, Schülern vergleichende Arbeiten vorzulegen und regelmäßig zu evaluieren, ist es doch nur konsequent, letztlich eine verbindliche standardisierte Abschlussprüfung zu stellen. Warum sollten wir den Weg also nicht vollständig gehen?