Seine Leiterin, die frühere Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, hat klargestellt, das es sich beim runden Tisch nicht um ein Tribunal handelt, das Anklage, Verteidigung und Urteil beinhaltet; es soll in erster Linie den Betroffenen als Schlüsselpersonen des Prozesses der Aufklärung ein Forum verschaffen, um sich mit ihrem Erleben, ihrer Geschichte und ihren Forderungen für die Aufarbeitung einzubringen. Natürlich sind aber auch Jugendämter, Richter von Vormundschaftsgerichten sowie die öffentlichen und privaten Trägen solcher Einrichtungen an der Aufarbeitung am runden Tisch beteiligt.
Den auf Bundesebene geforderten regionalen runden Tisch gibt es bei uns bereits. Es werden Akten gesichert, eine wissenschaftliche Aufarbeitung ist verabredet, und mit dem früheren Landrat Gorissen haben die Betroffenen einen direkten Ansprechpartner und Berater. Dies ist eine sehr wichtige Aufgabe und eine sehr gute Entscheidung der Landesregierung.
Die Auseinandersetzung mit eigener Verantwortung hat auf mehreren Ebenen begonnen. So hat im Februar die katholische Deutsche Bischofskonferenz ihr Bedauern darüber bekundet, dass auch in katholischen Heimen Kindern und Jugendlichen Unrecht und schweres Leid zugefügt worden ist. In Schleswig-Holstein stellen sich auch die Mitglieder der Landesarbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände der Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung in ihrer Verantwortung.
Das ist gut und notwendig, denn ein Großteil der Heime war in der Hand konfessioneller und nicht konfessioneller Träger. Deren einschlägige Akten sind ebenso zu sichern wie auch die der schleswigholsteinischen Kommunen. Natürlich gilt es auch für die Betriebe, vor allem für die vielen landwirt
schaftlichen Betriebe, die von der Zwangsarbeit der Heimkinder profitierten. Das heißt, wir brauchen Bestandsaufnahmen der damaligen Ereignisse und der ihnen zugrunde liegenden organisatorischen Strukturen und Denkweisen. Dazu haben der Bericht der Landesregierung und die Dokumentation der bisherigen beiden runden Tische einen Anfang geleistet.
Zu dieser Aufklärung gehört eben auch das gesellschaftliche Umfeld, das diese Einrichtungen als normale und notwendige Instrumente der Erziehung von jungen Menschen verstanden hat. Aber auch die ganze Verkommenheit der staatlichen Obrigkeit wird beim Lesen der Dokumentationen deutlich. So haben Jugendämter einzelne junge Menschen jahrelang beobachtet, um einen Grund für das Wegsperren in Fürsorgeerziehung zu finden. Unglaublich, aber Realität, und es wurde nie ein Wort der Entschuldigung an die Betroffenen gefunden!
Frau Vollmer hat davon gesprochen, dass die meisten früheren Heimzöglinge noch immer ein Gefühl von unglaublicher Ohnmacht und Ausgeliefertsein empfinden. Wir müssen den ehemaligen Heimkindern verdeutlichen, dass dieses Ausgeliefertsein ein Ende hat, indem wir öffentlich machen, dass diesen jungen Menschen, egal aus welchen Gründen sie in Fürsorgeheimen gelandet sind, dort Unrecht widerfahren ist.
Es kann nicht mit einem schulterklopfenden Wort des Bedauerns sein Bewenden haben. Für viele, wahrscheinlich die meisten Heimzöglinge, ist mit ihrer Entlassung aus dem Heim ihr Leiden nicht zu Ende gewesen, sondern das Stigma des früheren Fürsorgezöglings, die dort erlittenen Traumatisierungen und die versäumten Chancen auf Bildung und Ausbildung wirkten sich für den Rest ihres Lebens aus - auch mit materiellen Folgen.
Die bisher vorhandenen gesetzlichen Möglichkeiten einer materiellen Wiedergutmachung reichen für diese Fälle nicht aus. Sie wird auch nicht ausschließlich Aufgabe der öffentlichen Hände sein, weil eben ein großer Teil der Erziehungsheime in nicht öffentlicher Hand war. Deswegen müssen wir nach Möglichkeiten suchen, die wenigstens einen Teil der materiellen Nachteile, die diese Frauen und Männer lebenslang begleiten, ausgleichen.
gelmäßig zu berichten und die Arbeit der runden Tische in Schleswig-Holstein und auf Bundesebene eng miteinander zu verbinden.
Ich bitte um Unterstützung des interfraktionellen Antrags und bedanke mich insbesondere bei den Kolleginnen und Kollegen für die Erarbeitung dieses Antrags.
Herr Präsident! Lieber Kolleginnen und Kollegen! Sie galten als „schwer erziehbar“, sie waren oft nur wegen jugendlicher Bagatellfälle aufgefallen und hatten als Minderjährige ein Kind bekommen oder waren unehelich geboren und damit als unerwünscht von ihren Müttern weggeben oder zwangsweise getrennt worden: Noch bis 1974 wurden Mädchen und Jungen aus diesen oder anderen Gründen in das Erziehungsheim Glückstadt eingewiesen.
Glückstadt war zwar nicht das einzige Erziehungsheim in Schleswig-Holstein, es steht aber als besonders abschreckendes Beispiel für eine unbedingte Disziplinierung junger Menschen.
Viele der ehemaligen Heimkinder sagen heute, sie hätten ihre Erinnerungen nach der Heimzeit aus Scham zunächst verdrängt. Sie fühlten sich ihr Leben lang als Aussätzige der Gesellschaft und haben erst jetzt die Kraft dazu aufbringen können, sich mit ihrer Vergangenheit und ihrer eigenen Biografie zu beschäftigen. Dabei hat sie die Unterbringung in diesem Kinder- und Erziehungsheim für ihr ganzes Leben geprägt. Statt elterlicher Liebe, Fürsorge, Geborgenheit und Sicherheit haben sie staatlich gebilligte Willkür, Demütigungen, Gewalt und emotionale Härte in einem Ausmaß erfahren müssen, das uns Jahrzehnte später als unvorstellbar und als unwirklich erscheint. Auf das Leben wurden diese Kinder und die jungen Heranwachsenden nicht vorbereitet. Stattdessen wurde ihnen vermittelt, dass sie als Mitglieder der Gesellschaft unerwünscht sind.
Zweifel an der eigenen Identität und dem Selbstwertgefühl wurden nicht mit pädagogischen Mitteln aufgefangen. Viel mehr legten es viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darauf an, durch „Umerzie
Welche Folgen dies für die weitere Biografie eines jungen Menschen haben kann, hat ein heute 59 Jahre altes ehemaliges Heimkind anlässlich des runden Tisches im Deutschen Bundestag deutlich gemacht: „Mein ganzes Leben schämte ich mich, im Heim gewesen zu sein. Ich glaubte, ich sei gekennzeichnet, und jeder würde es sofort merken.“
Das erlebte Unrecht und das erfahrene Leid können nicht mehr ungeschehen gemacht werden. Umso wichtiger ist es deshalb, die Geschichte der Betroffenen und die Umstände der ehemaligen Heimerziehung aufzuarbeiten und ein sehr dunkles Kapitel der Jugendhilfe in Schleswig-Holstein öffentlich zu machen. Der runde Tisch räumt den Betroffenen die Möglichkeit ein, ihr Schicksal öffentlich zu machen. Das ist ein erster und das ist ein wichtiger Schritt. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse muss aber als weiterer Schritt folgen. Sie hilft den ehemaligen Heimkindern bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie. Viele wussten nicht einmal den Grund ihrer Einweisung, viele erfahren ihn erst jetzt aus den Akten. Die Fragen der Betroffenen nach dem Warum brauchen wissenschaftlich aufgearbeitete Antworten, um ihnen ihre Würde zurückzugeben. Aufarbeitung der Geschichte der Heimfürsorge ist deshalb ein erster Akt der Anerkennung der Gesellschaft gegenüber den Opfern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, sie ist aber auch wichtig, um eine Antwort auf die Frage zu erhalten, die auch ich mir immer wieder beim Lesen der Unterlagen gestellt habe: Wie konnte das System der menschenverachteten Behandlung und Unterbringung von Kindern und Heranwachsenden in einem demokratischen Rechtsstaat bis 1974 fortbestehen, obwohl auch offizielle Stellen über diese Zustände informiert waren?
Darüber hinaus ist die Aufarbeitung der Akten ein wichtiger Baustein für die Betroffenen, wenn es um die Anerkennung von Menschenrechtsverletzungen geht. Die meisten der ehemaligen Heimzöglinge wurden unter dem Vorwand „Erziehung durch Arbeit“ als billige Arbeitskräfte missbraucht, schlichtweg missbraucht. Ich finde, das kann man an der Stelle auch ganz deutlich so nennen.
Lehrverhältnisse auflösen. Heute müssen sie um Pensionsansprüche kämpfen, da ihre Arbeitsleistung nach heutigem Recht nicht im Rahmen eines versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses erfolgt ist. Öffentliche Anerkennung kann das entstandene Unrecht nicht wiedergutmachen oder die seelischen und emotionalen Verletzungen heilen. Sie kann aber ehemaligen Heimkindern einen prägenden Teil der Biografie im Nachhinein vielleicht ein wenig erträglicher machen.
Auch ich möchte mich an der Stelle sehr herzlich bei allen Kolleginnen und Kollegen bedanken, dass es möglich geworden ist, diese interfraktionelle Resolution auf den Weg zu bringen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Antrag, den wir heute mit den Stimmen aller Fraktionen beschließen, ist ein Meilenstein in der Aufarbeitung der Fürsorgeerziehung der 50er-, 60erund 70er-Jahre. Zum ersten Mal erkennt der Schleswig-Holsteinische Landtag das Unrecht und Leid an, das Kindern und Jugendlichen damals in den Landesfürsorgeheimen widerfahren ist, und drückt sein tiefstes Bedauern aus. Diese Anerkennung war überfällig. Bis heute haben die verantwortlichen Träger zu den menschenverachtenden Zuständen in den Heimen überwiegend geschwiegen und jede Form einer Entschuldigung oder finanziellen Entschädigung abgelehnt.
Ich danke ganz ausdrücklich den ehemaligen Heimkindern, welche nicht müde wurden, die Aufarbeitung der menschenverachtenden Erziehungsmethoden einzufordern.
Sie sind es, die es auch anderen „Heimzöglingen“ ermöglichen, über ihr Schicksal zu reden und zu erkennen, dass nicht sie die Versager waren, sondern dass die damals Verantwortlichen versagt haben.
Auch das Land Schleswig-Holstein hat damals versagt. Obwohl schon im August 1969 der SPDLandtagsabgeordnete Klinke im Wohlfahrtsausschuss die Feststellung traf: „Es muss bezweifelt werden, ob die in Glückstadt praktizierte Erziehung überhaupt noch verantwortet werden kann“, gesch
ah fünf Jahre lang nichts. Die Jugendlichen erlebten gefängnisähnliche Zustände. Sie waren der Willkür und dem Missbrauch des Personals ausgesetzt. Sie wurden gedemütigt, erniedrigt und misshandelt. Der pädagogische Auftrag wurde pervertiert. Eine parlamentarische Kontrolle fand zwar statt, aber es fand sich keine Mehrheit, um die unhaltbaren Zustände abzustellen. Das Heim wurde erst geschlossen - das muss man sich einmal vorstellen -, als es nicht mehr wirtschaftlich war.
Die Verletzungen der ehemaligen Heimkinder an Körper und Seele wirken bis heute. Meine Damen und Herren, wer über Monate oder Jahre physischer, psychischer und sexueller Gewalt ausgeliefert war, wer von Betreuern systematisch gedemütigt wurde, wer in Anstaltskleidung ohne Vergütung und Sozialversicherung hart arbeiten musste, der hat ein Recht auf Entschuldigung.
Der hat ein Recht darauf, dass durch Zwangsarbeit im Heim verlorene Rentenansprüche ausgeglichen werden.
Diese Punkte umfasste ursprünglich der von uns eingebrachte Antrag. Der heutige gemeinsame Antrag bleibt dahinter zurück. Ich trage ihn dennoch mit, denn er ist ein erster wichtiger Schritt des Landtags, gemeinsam die Vergangenheit aufzuarbeiten. Dies habe ich auch den Betroffenen gesagt, die mir im Vorfeld der heutigen Beratung ihren Unmut mitgeteilt haben. Sie hatten mehr erwartet; ich auch. Ich kann nicht verstehen, warum wir in dem Antrag nicht das Wort „Entschuldigung“ benutzen. Ich kann nicht verstehen, warum wir nicht deutlich machen, dass die Berücksichtigung der Zwangsarbeit bei den Rentenanwartschaften und Rentenzahlungen gerechtfertigt ist.
Dabei hatte sich sogar die Landesregierung für diese Forderung ausgesprochen. Ich zitiere aus einer Pressemitteilung der Sozialministerin vom 26. November 2008: „Die Frage der Entschädigung und Entschuldigung muss endlich geklärt werden.“
Die Große Koalition wollte dies im Antrag aber nicht benennen. Deshalb sage ich: Der heutige Beschluss kann nur ein erster Schritt sein.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung muss konsequent weiter gehen. Die runden Tische in Kiel und Berlin müssen tagen. Dem Landtag muss schriftlich berichtet werden, und es ist wichtig, dass wir die
Auseinandersetzung mit der damaligen „Pädagogik“, die aus Gewalt und Demütigung bestand, heute nicht beenden, sondern immer wieder, wenn es um pädagogische Maßnahmen in der Jugendhilfe geht, sehr genau hinschauen.