Regierungschefs einen inhaltlich schludrigen und von nationalen Egoismen geprägten Vertrag über die Mechanismen und die Machtverteilung in der Union geschlossen, sodass sie selber relativ bald begriffen, dass eine Reparatur nicht mehr durch die hinter verschlossenen Türen tagende Regierungskonferenz, sondern nur noch durch das offene und öffentliche Ereignis eines Konvents aus demokratisch legitimierter Politik möglich war.
Der gut lesbare Verfassungsentwurf offenbart ein größeres gemeinsames Grundverständnis unter den Europäern, als angesichts der Verwerfungen aufgrund des Irak-Krieges zu erwarten gewesen wäre. In den zähen, teilweise von scharfen Auseinandersetzungen geprägten Debatten ist man doch nie wirklich an den Punkt eines Bruchs geraten. Selbst Briten oder Spanier, aber auch die Polen, die als besonders reformresistent gelten, wagten am Ende nicht, das Werk zu gefährden.
Wie sehr im Konvent um Einigkeit gerungen wurde, machten die letzten Tage deutlich: Noch auf den Sitzungen am 30. und 31. Mai und am 5. und 6. Juni dieses Jahres waren die Fronten zwischen den verschiedenen Lagern festgefahren. Der Erfolg war ungewiss. Als sich Anfang Juni 18 Regierungsvertreter, angeführt von Großbritannien und Spanien, gegen institutionelle Veränderungen und für ein Festhalten am Vertrag von Nizza aussprachen, befand sich der Konvent am Rande einer offenen politischen Krise. Die politische Einigung über alle Parteigrenzen hinweg kam dennoch zustande. Dies halte ich für besonders bemerkenswert,
weil die Vertreter des Europäischen Parlaments, der nationalen Parlamente und der Kommission den Konvent unterstützten, um einen politischen Erfolg dieses Gremiums zu sichern.
In der Plenarsitzung vom 11. Juni kristallisierten sich die verbliebenen Hauptstreitpunkte heraus. Ich benenne die fünf wichtigsten: Erwähnung des Christentums in der Präambel, Befugnisse und Bestellung der Kommission, Zusammensetzung der Kommission, Ausbau der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und Ausdehnung der qualifizierten Mehrheit im Rat. Im Übrigen machten einzelne Mitgliedstaaten ihre wichtigsten Verhandlungspunkte deutlich: Deutschland forderte, die nationale Zuständigkeit für den Zugang zum Arbeitsmarkt beizubehalten. Frankreich verlangte weiterhin Einstimmigkeit bei WTOVerhandlungen über kulturelle, audiovisuelle und gesundheitliche Dienstleistungen.
Auf der Plenarsitzung am 13. Juni haben die Sprecher aller Komponenten des Konvents den Verfassungsentwurf des Präsidiums als ausgeglichenen Gesamtkompromiss gebilligt. Die Teile III - Politik in der Europäischen Union - und IV - Schlussbestimmungen - werden allerdings in der Zeit vom 9. bis zum 11. Juli abschließend behandelt werden. Der Konvent zeigt, dass die demokratische und transparente Arbeitsmethode richtig war.
Der Inhalt des Vertrages entspricht in großem Maße den Erwartungen und Hoffnungen, die wir alle in diese Unternehmung setzten. Die sozialdemokratische Familie in Europa war es, die von Anfang an für eine Verfassung war, die sich vor allen anderen für den Konvent ausgesprochen und dafür geworben hat. Sie arbeitete sehr aktiv mit, denn sie hatte gute Gründe, die neuen Vorschläge zu unterstützen. Wir glauben, dass dies gerade im Moment der Erweiterung ein Quantensprung in der Geschichte der Europäischen Union ist. Wir Sozialdemokraten werden uns bemühen, dass unseren Forderungen nach einem sozialen Europa und einer einheitlichen Wirtschaftsregierung nachgekommen wird.
Obwohl sich nicht alle unsere Bestrebungen im Text des neuen Verfassungsentwurfs wieder finden, ist die Bilanz des Kompromisses, der für den Konsens notwendig war, zufrieden stellend, denn wir lesen darin die Vorschläge, die für die institutionelle Erneuerung der Europäischen Union und für die Vereinfachung seiner Vertragstexte mit einer neuen Hierarchie und Definition der Gemeinschaft nötig waren.
Ich will jetzt nicht auf die ganzen Erfolge eingehen. Das hat die Ministerpräsidentin bereits ausreichend gemacht. Ich möchte Sie jedoch gern auf Folgendes hinweisen: Das Mitglied des Europäischen Parlaments, Elmar Brok, CDU, würdigte als Sprecher der EVP-Gruppe den Konvent als eine große Leistung, die weit über das hinausgehe, was in Maastricht, Amsterdam und Nizza erreicht worden sei. Der Entwurf werde von allen Parlamentariern getragen und dürfe jetzt nicht in Diplomatenkonferenzen kaputtgemacht werden.
Recht hat er! Leider ist es ihm nicht gelungen, Bayerns Ministerpräsidenten davon zu überzeugen. Unmittelbar nach der Verabschiedung der wichtigsten
Teile des Verfassungsentwurfs hat dieser sich mit scharfer Kritik zu Wort gemeldet. Nach der Vorstellung des Bayern sollen 16 Punkte geändert werden. Elmar Brook ist entsetzt und warnt, jetzt noch einmal nachzulegen und Forderungen zu erheben, die nicht durchsetzbar sind. Der CDU-Abgeordnete fragte - ich zitiere -: „Wie soll denn das noch eingebracht werden?“ - Auch hier stimme ich ihm zu; denn der erzielte Konsens darf jetzt nicht mehr aufgeschnürt werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch ich werde zum Schluss meiner Rede noch einen besonderen Blick auf den Teil des Vertrages werfen, in dem die Länderparlamente eine besondere Rolle spielen. Aus meiner Sicht sind die Vorschläge des Konvents in vielen Punkten positiv zu bewerten. Die zentralen Anliegen, die die Ministerpräsidentenkonferenz am 23. Mai und der Ausschuss der Regionen mit 40 Änderungsanträgen formuliert haben, finden sich zu einem großen Teil in dem Verfassungsentwurf wieder.
So wird das Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung und das der Regionen ausdrücklich respektiert. Außerdem werden die innerstaatlichen Zuständigkeiten der Regionen als Teil der staatlichen Ordnung anerkannt und auch das Ziel der territorialen Kohäsion dem der sozialen und ökonomischen angefügt. Dem Ausschuss der Regionen wird das Recht zugestanden, den Europäischen Gerichtshof wegen des Verstoßes eines Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip anzurufen.
Lassen Sie mich mit einem Zitat von Klaus Hänsch, Mitglied des Präsidiums des Konvents und der SPEFraktion im Europäischen Parlament, enden:
„Verträge beruhen auf Misstrauen, das aus der Vergangenheit erwächst - Verfassung auf Vertrauen in die Zukunft! Mit dieser Verfassung verbinden die Bürgerinnen und Bürger Europas ihr Schicksal miteinander für eine bessere Zukunft. Geben wir den Weg frei und stellen wir die Regierung vor ihre europäische Verantwortung!“
(Beifall bei SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt beim SSW sowie des Abgeordneten Joachim Behm [FDP])
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Am 13. Juni, also am letzten Freitag, hat der Konvent den Entwurf der europäischen Verfassung, von wenigen Details abgesehen, vollendet. Anschließend wurde die europäische Hymne gesungen; alle sollen gerührt gewesen sein. Heute wird der Entwurf an die Regierungschefs übergeben. Ob dabei auch gesungen wird, werden wir morgen oder Montag erfahren.
Können wir behaupten, dass mit der Verabschiedung des Verfassungsentwurfs ein europäischer Funke auf uns, auf die Bürgerinnen und Bürger von Helsinki über Schleswig-Holstein bis nach Lissabon, die vielleicht mit Spannung auf die Konventsarbeit und den Abschluss gewartet haben, übergesprungen ist? „Erträumen wir Europa“ - so hieß es in der Eröffnungsrede des Präsidenten des Konvents. Ist der Traum ausgeträumt? Was ist das Ergebnis dieses Konvents? In welche Verfassung bringen wir Europa? Wir als Landespolitiker sollten vielleicht fragen, in welche Verfassung Europa uns bringt.
Um das Ergebnis der Beratungen zum europäischen Verfassungskonvent beurteilen zu können, möchte ich in Kürze noch einmal die vier Herausforderungen an die Europäische Union verdeutlichen.
Erstens. Ab dem nächsten Jahr muss die Erweiterung der Europäischen Union von 15 auf 25 Mitglieder bewältigt werden. Der Vertrag von Nizza von Ende 2000 hat die Europäische Union zwar politisch erweiterungsbereit, aber nicht fähig gemacht, diese Erweiterung auf Dauer zu bewältigen. Es musste eine substanzielle Reform, vor allem die Vereinfachung der Verträge, erfolgen.
Die zweite Herausforderung ergibt sich aus der internationalen Verantwortung. Die Europäische Union ist keine Weltmacht, sie hat aber die Verantwortung einer Weltmacht. Aufgrund des ökonomischen und technologischen Gewichts und auch aufgrund der fast 470 Millionen Europäer in der Europäischen Union nach der Erweiterung beeinflusst diese Europäische Union - gewollt oder ungewollt - die Entwicklungschancen, Ressourcentransfers und Stabilität überall in der Welt. Die EU muss international spürbar werden.
Aufgrund der bisherigen institutionellen Strukturen mit sich überschneidenden Verantwortlichkeiten kann sie dieser Forderung nicht gerecht werden.
Die dritte Herausforderung für die europäische Verfassung sind Regelungen, die in Kernbereiche und traditionelle Hoheitsrechte der Mitgliedstaaten hineinragen. Wenn traditionelle Hoheitsrechte von Ländern
zugunsten von Entscheidungen durch die Europäische Union aufgegeben werden müssen oder sollen, dann kann und darf das nicht ohne eine verfassungsgemäße Legitimation geschehen.
(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD sowie Beifall des Abgeordneten Detlef Matthiessen [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Die vierte Herausforderung für die europäische Verfassung trifft uns unmittelbar. Wir müssen die Akzeptanz der Europäischen Union und der europäischen Politik deutlich verbessern. Es ist erstaunlich, wie groß die Attraktivität der Europäischen Union nach außen ist; die Erweiterung zeigt es.
Innerhalb der Europäischen Union mangelt es bei den Menschen aber an der Begeisterung. Es gibt viel unberechtigte Kritik an Europa. Daneben gibt es aber auch eine berechtigte Kritik: Kein normaler Mensch kann verstehen, wer in Brüssel und Straßburg wann, was und mit welcher Berechtigung entscheidet.
Das bedeutet: Der Konvent hatte mit dem europäischen Verfassungsentwurf erstens die Aufgabe, die Institutionen effektiver zu gestalten, zweitens, die Entscheidungsverfahren demokratischer und transparenter zu machen und drittens, die Kompetenzbereiche deutlich und in einer klaren Gliederung festzulegen, nämlich in eine ausschließliche Kompetenz der Europäischen Union, in geteilte Kompetenzen zwischen der Union und einzelnen Ländern und in eine ergänzende oder unterstützende Kompetenz. Richtschnur für die Zuordnung der Kompetenzen waren die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowie die Verpflichtung, die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten zu wahren.
Die neue europäische Verfassung darf nicht zur Folge haben, dass noch mehr Kompetenzen nach Brüssel verlagert werden, ohne dass die Länderparlamente - auch unser Parlament - am Entscheidungsprozess wirklich beteiligt werden.
460 Artikel hat der Entwurf der europäischen Verfassung. Ob damit alles besser wird, wird sich zeigen. Fragen wir lieber, wann es endlich gut wird. Auf alle Fälle ist der Entwurf der europäischen Verfassung ein fortschrittlicher Kompromiss der unterschiedlichen Interessen von föderalen und zentralistisch regierten, von kleinen und großen sowie von reichen und ärme
ren Staaten. Vielleicht ist es der beste Kompromiss seit den EWG-Verträgen von 1957 in Rom - so war es zu lesen.
Zuzüglich zur Präambel ist der Entwurf in vier Teile gegliedert. In der Präambel wird die Europäische Union als Wertegemeinschaft definiert, die auf das kulturelle, religiöse und humanistische Erbe der europäischen Geschichte gründet und daraus ihr Leidbild für die Zukunft gewinnt. Monatelang wurde um die Aufnahme des Gottesbezuges in die Präambel gerungen. Jetzt fehlt er im Entwurf. Es fehlt auch jeder Hinweis auf die christlichen Wurzeln dieses Kontinents. Hier haben sich die deutschen Konventsmitglieder leider nicht durchsetzen können. Auch die Forderung der Ministerkonferenz war damit - bisher jedenfalls - vergeblich. Allerdings - das ist positiv zu bewerten - ist die rechtliche innerstaatliche Stellung der Kirchen in der Verfassung anerkannt worden.
Ein bedeutendes Ergebnis ist - dieses wird im ersten Teil mit 57 Artikeln dokumentiert -, dass die Europäische Union künftig eine eigene Rechtspersönlichkeit sein wird. Dies wird den Abschluss internationaler Verträge erleichtern und die Rolle der Europäischen Union stärken.
In diesem ersten Teil werden auch die künftige Machtbalance der Institutionen sowie die Kompetenzen geregelt.
Der Kompromiss sieht einen hauptamtlichen EURatspräsidenten, einen europäischen Außenminister, eine personell gestraffte Kommission, mehr Kompetenzen für das Parlament und veränderte Beschlussverfahren für die Regierungen vor.
Die Aussicht, dass Deutschland phasenweise keinen stimmberechtigten Kommissar in die Kommission entsenden wird, ist zumindest gewöhnungsbedürftig. Das kann passieren, wenn ab 2009 aufgrund des Rotationsverfahrens nur noch 15 der künftigen 25 Kommissare ein Stimmrecht haben.
Bedeutend ist die Einführung der doppelten Abstimmungsmehrheit im Ministerrat und in der Kommission. Damit wird neben der Stimmenmehrheit auch die Gewichtung der Größe der Bevölkerung der einzelnen Staaten Grundlage der Entscheidungen sein. Dadurch wird das Gewicht Deutschlands bei den europäischen Entscheidungen deutlich erhöht.