Protocol of the Session on April 29, 2002

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 22. Tagung des Schleswig-Holsteinischen Landtages. Ich habe diese Tagung gemäß § 46 Abs. 2 der Geschäftsordnung auf Antrag der Fraktion der CDU als außerordentliche Tagung einberufen. Die Einberufung ist ordnungsgemäß erfolgt. Das Haus ist beschlussfähig.

Erkrankt sind die Abgeordneten Frau Kleiner und Herr Plüschau. Ich wünsche beiden im Namen des Hauses gute Genesung.

(Beifall)

Beurlaubt sind die Abgeordneten Herr Jensen-Nissen, Frau Schümann und Herr Lehnert. Wegen dienstlicher Verpflichtung wird außerdem Herr Minister Dr. Rohwer abwesend sein.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben. - Die Bluttat von Erfurt am vergangenen Freitag hat uns alle tief erschüttert. Die Brutalität ebenso wie die Sinnlosigkeit dieses Verbrechens, durch das 17 Menschen an einem scheinbar ganz normalen Schul- und Arbeitstag um ihr Leben kamen, übersteigt unsere Vorstellungskraft und macht es schwer, wenn nicht unmöglich, unsere Empfindungen in Worte zu fassen.

Es drängen sich Fragen auf, Fragen, die nicht leicht zu beantworten sind und auf die schon gar nicht vorschnell reagiert werden sollte. Aber, die Geschehnisse von Erfurt dürfen nicht ohne Antwort bleiben. Unsere ganze Gesellschaft ist dazu aufgerufen - und zuallererst diejenigen, die als Politiker in Bund und Ländern Verantwortung tragen.

Wir trauern um die Toten. Unser tiefes Mitgefühl gehört den Opfern und ihren Angehörigen. Wir werden um 11:05 Uhr die Sitzung unterbrechen und im Rahmen der bundesweiten Schweigeminute der Toten gedenken.

Meine Damen und Herren, die Frau Ministerpräsidentin hat mir mit Schreiben vom 16. April 2002 Folgendes mitgeteilt:

„Mit Ablauf des 15. April 2002 ist der Chef der Staatskanzlei, Herr Staatssekretär Klaus Gärtner, in den einstweiligen Ruhestand getreten. Aus diesem Grunde darf ich Ihnen mitteilen, dass ich auf Vorschlag der Landesregierung als seine Nachfolgerin Frau Ulrike Wolff-Gebhardt mit Wirkung vom 16. April 2002 zur Staatssekretärin ernannt und ihr die Funktion als Chefin der Staatskanzlei übertragen habe.“

Frau Wolff-Gebhardt, ich gratuliere Ihnen im Namen des Hauses und wünsche Ihnen für Ihre künftige Arbeit eine glückliche Hand und alles Gute.

(Beifall)

Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen eine Aufstellung der im Ältestenrat vereinbarten Redezeiten übermittelt. Wir werden heute unter Einschluss einer einstündigen Mittagspause bis längstens 15:30 Uhr tagen. - Widerspruch höre ich nicht. Dann werden wir so verfahren.

Auf der Tribüne haben Besucherinnen und Besucher Platz genommen, und zwar Schülerinnen und Schüler der Realschule Raisdorf mit ihren Lehrkräften. Herzlich Willkommen!

(Beifall)

Ich rufe den einzigen Punkt der Tagesordnung auf:

Zweiter Parlamentarischer Untersuchungsausschuss

Antrag der Fraktion der CDU Drucksache 15/1785

Antrag der Fraktion der SPD Drucksache 15/1803 (neu)

Das Wort zur Begründung wird nicht gewünscht. Dann eröffne ich die Aussprache und erteile das Wort dem Oppositionsführer, Herrn Abgeordneten Kayenburg.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach den Ereignissen von Erfurt ist es sicherlich schwierig, zum normalen Tagesgeschäft überzugehen. Ich glaube aber, dass wir als Politiker auch eine Verantwortung haben, unsere Arbeit zu machen, und die besteht heute darin, einen Untersuchungsausschuss, den wir beantragt haben, auf den Weg zu bringen. Ich bitte also um Verständnis, wenn wir trotz der schwierigen Ereignisse und trotz der Gemütslage, die sicherlich alle erfasst, in der heutigen Debatte auch ganz konkret die Dinge ansprechen, die uns veranlasst haben, diesen Antrag zu stellen.

Frau Simonis, Ihre Regierung hat aufgrund von Affären, Verstrickungen und Versagen bei der Kontrolle von Mitarbeitern Vertrauen verloren, Regierungsfähigkeit eingebüßt und Ansehen kontinuierlich verspielt. Mit unserem heutigen Antrag fordern wir die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der einen umfangreichen Arbeitsauftrag bekommen wird. Es geht um Rechtsverletzungen durch Mitglieder der Landesregierung und/oder durch Be

(Martin Kayenburg)

schäftigte des Landes und es geht um Korruption, Bestechlichkeit und Filz.

Auch Schleswig-Holstein ist wieder in die Schlagzeilen geraten, nicht als Land mit prosperierendem Wirtschaftswachstum oder glänzenden Tourismusbilanzen, sondern als Land der Affären. Frau Simonis, dafür tragen Sie - unabhängig von möglichen eigenen Verstrickungen - die politische Gesamtverantwortung.

(Beifall bei CDU und FDP)

Schleswig-Holstein hat es nicht verdient, mit negativen Nachrichten über Filz, Korruption und Bestechlichkeit bundesweit die Schlagzeilen zu beherrschen. Wenn es aber in einem Land eine solche Zusammenballung von Skandalen und Ungereimtheiten gibt, kann niemand ernsthaft verlangen, dass darüber hinweggesehen wird. Im Gegenteil, auch diesmal verdanken wir journalistischer Recherche die Aufdeckung von Sachverhalten und Hintergründen. Die Medien sind ihrer Verantwortung gerecht geworden. Dafür danke ich.

Frau Simonis, ich gebe Ihnen Recht, dass niemand vor krimineller Energie von Mitarbeitern gefeit ist, aber es geht in diesem Fall um mehr. Es geht um ein Klima von Burschikosität, von Küsschen-links-Küsschenrechts Mentalität, Kumpanei und Klüngel, in dem sich diese Grauzonen erst entwickeln konnten.

(Beifall bei CDU und FDP - Konrad Nabel [SPD]: Dummes Zeug!)

Ich will die skandalöse Chronik, die unseren Antrag begründet, versuchen nachzuzeichnen, wobei zur Stunde niemand sicher sein kann, dass sie vollständig ist.

Wie war das noch? - Im Januar 2002 taucht ein Prüfvermerk des Landesrechnungshofs auf, in dem dem Finanzministerium schwere Vorwürfe im Zusammenhang mit der Beschaffung eines Kosten- und Leistungsrechnungssystems der Firmen debis/SAP gemacht werden. Der Prüfvermerk des Landesrechnungshofs stellt Verstöße gegen das Haushalts- und Vergaberecht fest, die die Qualität von Gesetzesbrüchen haben. Im Zuge dieses unglaublichen Vorgangs wird ein Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Staatssekretär im Finanzministerium Dr. Lohmann wegen Bestechlichkeit eingeleitet.

Finanzminister Möller erklärt, er übernehme die politische Verantwortung - und dann wörtlich: Aber das war's dann. - Ich sage Ihnen heute, Herr Möller: Genau das war’s eben nicht.

(Beifall bei CDU und FDP)

Sie haben über einen langen Zeitraum versucht, dem Landtag beziehungsweise dem Finanzausschuss vor

zugaukeln, dass es bei der Beschaffung des Kostenund Leistungsrechnungssystems mit rechten Dingen zugegangen sei. Es bedurfte erst einer Prüfung des Landesrechnungshofes, um festzustellen, dass genau dies nicht der Fall war. Sie haben nicht genug zur Aufklärung getan. Warum haben Sie nicht sofort bei debis/SAP nachgefragt, als Sie dazu im Finanzausschuss im Januar dieses Jahres angeregt worden sind?

Es gab keine ordnungsgemäße Aktenführung und es gab keinen ordnungsgemäßen Vergabevermerk, nicht für den Beratungsauftrag und erst recht nicht für die Vergabe des Millionenauftrages an debis/SAP. Ich habe mich lange gefragt, wie so etwas eigentlich passieren kann. Für mich liegen zwei mögliche Motive auf der Hand.

Da sind zum einen die Beraterverträge selbst, die der damals zuständige Staatssekretär Dr. Lohmann abgeschlossen hat und die ihm dem Vernehmen nach einen Betrag von mehreren 100.000 € eingebracht haben sollen. Zum anderen kann ich mir aber auch gut vorstellen, dass die Entscheidung für debis/SAP insgeheim schon vor dem Vergabeverfahren gefallen war. Dann wäre das ganze Vergabeverfahren eine einzige Farce und die Vorspiegelung falscher Tatsachen gewesen. Ich würde mich nicht wundern, wenn es zum Beispiel einen Brief oder einen Vermerk aus der Staatskanzlei geben würde mit dem Hinweis, den Auftrag mit debis/SAP abzuwickeln.

Aber wie dem auch sei: Die Staatskanzlei war in jedem Fall an der Kabinettsentscheidung direkt beteiligt. Herr Möller hat nach der SAP-Präsentation den Auftrag vergeben und bis heute gibt es keine vernünftige Funktionskontrolle. Warum eigentlich, Herr Möller? Die Auftragsvergabe ist auch ein Beispiel dafür, wie durch die Einsetzung einer Projektgruppe notwendige Kontrollmöglichkeiten der Verwaltung ausgeschaltet und nicht genehme Gutachten kassiert werden.

Wie hat Generalstaatsanwalt Rex noch gesagt? Er sagte: Korruption wird erleichtert durch lasche Aufsicht. - Nun, in diesem Fall gab es gar keine Aufsicht. Die Aufsicht war nicht nur lasch, sondern sie war offensichtlich nicht gegeben.

(Beifall bei CDU und FDP)

Auch hier haben wir in Ihrer Regierung, Frau Simonis, also einen Fall, in dem Kontrollen umgangen und damit Verantwortlichkeiten ignoriert worden sind. Auch dafür tragen Sie, Frau Simonis, die Verantwortung. Aber es kommt noch schlimmer. Am 28. Februar wurde im Finanzausschuss enthüllt, was heute unter dem Fall Pröhl bekannt ist, den Chef der Staatskanzlei den Job kostete und ein erschreckendes Licht auf die Zustände in Ihrer Staatskanzlei, Frau Simonis, warf und

(Martin Kayenburg)

noch wirft: Kumpanei, Klüngel und Kontrollverlust. Sie haben doch längst die Übersicht verloren oder weggeschaut, Frau Simonis!

(Beifall bei CDU und FDP)

Es ist nicht Aufgabe dieses Parlaments, die Handlungen eines Ihrer engsten Mitarbeiter rechtlich zu untersuchen. Wir haben volles Vertrauen in die Arbeit der Staatsanwaltschaft und der Gerichte. Was dieses Parlament allerdings aufklären muss, sind Widersprüche zwischen den verschiedenen Aussagen von Ihnen, Frau Simonis, und anderen Beteiligten sowie die Arbeit und Verantwortung der Beamten in der Staatskanzlei.

Meine Damen und Herren, in Schleswig-Holstein wiegen seit der Affäre der Jahre 1987/88 und seit dem Schubladenausschuss aus gutem Grund Lügen von Politikern schwerer als anderswo. Ich will Sie auch daran erinnern, dass ein SPD-Landesparteitag 1993 die „Eckernförder Erklärung“ beschlossen hat, in der es heißt, dass derjenige, der kriminelle Vorgänge von Parteimitgliedern deckt oder sie toleriert, nicht mehr auf die Solidarität der Partei zählen darf. - Unter Tolerieren ist auch Weggucken, ob bewusst oder durch Verzicht auf Kontrollmechanismen, zu verstehen.

Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben sich nach einiger Zeit des Zögerns voll hinter Frau Simonis gestellt. Damit tragen Sie auch Verantwortung für alles, was zu verantworten ist. Frau Simonis haftet für Gärtner, die SPD-Fraktion haftet inzwischen für Frau Simonis.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren, die Fragen, die der Untersuchungsausschuss mit dem Komplex Pröhl aufklären muss, zielen vor allem auf das Handeln der Staatskanzlei, also des unmittelbaren Umfeldes der Ministerpräsidentin. Wir wollen wissen, wer welche Nebentätigkeiten ausübt oder ausgeübt hat und wie das Verfahren bei der Genehmigung von Nebentätigkeiten gewesen ist. Uns interessiert die Frage, ob es eine sorgfältige Kontrolle gegeben hat oder ob nach dem Motto verfahren wurde: Nun mach das mal. - Wir wollen auch wissen, wer von den Nebentätigkeiten wann wusste.

Mir fällt es einfach schwer zu glauben, dass die Ministerpräsidentin selbst erst im Februar 2002 von einer Nebentätigkeit ihres engen Mitarbeiters Pröhl erfahren hat, obwohl doch ihr engstes Umfeld schon seit Monaten genau Bescheid wusste. Aber bei einem Geburtstagsessen oder anderen Gelegenheiten redet man über so etwas natürlich nicht.

Sie, Frau Simonis, haben doch über Herrn Gärtner einen entscheidenden Satz gesagt, wobei Sie heute

wirklich noch einmal überlegen sollten, ob Sie ihn noch aufrechterhalten wollen. Unter anderem im „Hamburger Abendblatt“ und im „Spiegel“ vom 15. April werden Sie mit dem Satz zitiert: Wenn ich es gewusst hätte, hätte er es gewusst - und umgekehrt.