Protocol of the Session on November 16, 2000

schaft mit ihren Lebensentwürfen zu ermöglichen, ist notwendig. Neben Ausbildung und Bildung ist die Teilhabe an unserer Gesellschaft ein Angebot, das wir machen müssen. Teilhabe an Bildung, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, an der Gestaltung unseres Gemeinwesens

(Klaus Schlie [CDU]: Da sind wir nicht aus- einander!)

muss eine Perspektive für Einwanderinnen und Einwanderer sein. Nur dann wird die Integration gelingen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und SPD)

Das Wort für den SSW erteile ich Frau Abgeordneter Silke Hinrichsen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Anfang der modernen Einwanderung in die Bundesrepublik stand ein ökonomisches Kalkül. In Südeuropa wurden Arbeitskräfte angeworben, weil der Arbeitsmarkt nicht ausreichte, um die brummende Wirtschaft am Laufen zu halten. Der größte Teil dieser Arbeiter hat schon längst wieder das Land verlassen. Der Rest entschied sich wider Erwarten dafür, mit seinen Familien in unserer Gesellschaft zu leben. „Man hat Arbeitskräfte gerufen und es kamen Menschen“ - wie Max Frisch es ausgedrückt hat. Der Satz ist damals wie heute sehr passend.

Das war auch eigentlich kein Problem. Die Schwierigkeiten entstanden erst, als aus anderen Gründen soziale Probleme entstanden und Gefühle die ökonomische Rationalität verdrängten. Heute stehen wir wieder vor einem neuen ökonomischen Problem, nämlich der Stabilisierung des Wirtschaftsstandortes, des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherungssysteme durch ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger. Erstmals besteht wieder Hoffnung darauf, dass das ökonomische Kalkül dazu beiträgt, die Auseinandersetzung über die Zuwanderung aus dem Ausland zu versachlichen.

Es ist erfreulich, dass sich endlich eine echte Einwanderungsdebatte abzeichnet, denn Mitbürgerinnen und Mitbürger mit ausländischem Hintergrund stellen nicht nur eine Bereicherung für unsere Gesellschaft dar, sie werden in Zukunft lebensnotwendig für unser Land sein. Um diesen Prozess aber planend zu gestalten, brauchen wir mehr Wissen über den wirtschaftlichen Effekt der Einwanderung. Dazu könnte der F.D.P.

(Silke Hinrichsen)

Antrag sehr gut beitragen. Ich danke Ihnen auch für Ihren Wortbeitrag hierzu, Herr Dr. Garg.

(Beifall beim SSW und des Abgeordneten Lothar Hay [SPD])

Daten über den wirtschaftlichen Beitrag der Mitbürgerinnen und Mitbürger mit ausländischem Hintergrund können aber nicht nur als Grundlage für eine rational geplante Einwanderung dienlich sein. Die Antworten auf die Fragen der F.D.P. sind hoffentlich ebenfalls ein geeignetes Instrument, um ausländerfeindlichen Menschen zu zeigen, was diese Mitbürgerinnen und Mitbürger eigentlich für uns leisten.

(Beifall beim SSW)

Wir werden dem Antrag der F.D.P. zustimmen. Ich kann trotzdem allerdings eine gewisse Skepsis nicht verhehlen, ob zu diesen komplexen Fragestellungen in so kurzer Zeit wirklich solide Daten besorgt werden können. Die Fragen sind so speziell, dass die entsprechenden Daten wahrscheinlich nicht unmittelbar greifbar sind. Wir werden also möglicherweise damit leben müssen, dass die Landesregierung nicht so schnell liefern kann, was wir wünschen. Letztlich wird es vermutlich der zuständigen Bundesebene - vor allem der Einwanderungskommission - vorbehalten bleiben, diese komplexen Daten erheben zu lassen.

Eine letzte Bemerkung: Der F.D.P.-Antrag stellt natürlich nur einen Aspekt der Zuwanderung dar. Dies hat der Kollege Steenblock auch schon erwähnt. Auch wenn ein ökonomisches Kalkül vollkommen legitim ist, müssen wir genau darauf achten, dass die Debatte über Migration nach Deutschland nicht nur unter ökonomischen Aspekten geführt werden darf.

(Beifall bei SSW und SPD)

Wirtschaftlich begründete Einwanderung - also die so genannte Greencard - ist nur eine Dimension. Zur Zuwanderung gehört ebenso, dass politisch verfolgte Menschen Zuflucht bei uns finden können. Asylbewerberinnen und Asylbewerber können aber keinen wirtschaftlichen Beitrag leisten, denn sie dürfen nicht arbeiten. Gerade weil hier ganz andere Voraussetzungen vorliegen, müssen Einwanderung und Asyl auch in Zukunft klar getrennt bleiben.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Das Wort für die Landesregierung erteile ich Herrn Minister Rohwer.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! SchleswigHolstein ist ein weltoffenes Land. Ich glaube, das wird nirgendwo so deutlich wie im Bereich Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Der Standort Schleswig-Holstein und sein wirtschaftlicher Erfolg wären gar nicht denkbar, ohne dass Ausländer bei uns als Unternehmensleiter, Krankenschwester, Wissenschaftler oder Einzelhändler arbeiteten, ohne dass ausländische Unternehmen bei uns in Deutschland und in Schleswig-Holstein investierten und ohne dass schleswig-holsteinische Unternehmen im Ausland investierten. Insofern bietet dieser Antrag eine gute Gelegenheit, fraktionsübergreifend und unter Einschluss der Landesregierung zu bekräftigen, dass uns ausländische Arbeitskräfte willkommen sind. Wir brauchen sie.

(Beifall im ganzen Haus)

Das wird in Zukunft noch viel deutlicher werden. Wir wissen, wie die demografische Entwicklung verlaufen wird: Drastischer Rückgang und Alterung der deutschen Bevölkerung und überproportionaler Rückgang der deutschen Erwerbsbevölkerung. Wir wissen auch, dass unsere Wirtschaft Qualifikationen benötigt, die durch Inländer in der nächsten Zeit nicht vollständig abgedeckt werden können. Insofern ist es keine Frage. Die Überschrift des Antrags ist richtig. Die Landesregierung ebenso wie jeder vernünftige Mensch - stimmt ihr zu. Für mich ist es auch keine Frage, dass wir ein Zuwanderungsgesetz brauchen. Wir brauchen es nicht mit dem Ziel der Verringerung, sondern mit dem Ziel der Steigerung von Zuwanderung.

Ich werde den Bericht gern geben, weil das Ziel richtig ist. In vereinzelten Fällen wird es schwierig sein, die geforderten Daten zu beschaffen. Wenn diese Daten eigens erhoben werden sollten, so würde das einem Arbeitsbeschaffungsprogramm gleichkommen. Ich schlage daher vor, dass wir uns bei der Antwort auf die Daten beschränken, die wir mit vertretbarem Aufwand aufbereiten können. Konzentrieren wir uns dann auf die eigentlichen Fragen, nämlich die politischen Konsequenzen.

Worum geht es letztlich? Es geht um die Frage: Wie schaffen wir nicht nur die gesetzlichen Voraussetzungen, sondern auch die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür, dass wir Zuwanderung in angemessener Höhe verkraften und integrieren können. Es geht übrigens auch um die Frage, was angemessen heißt.

Es gibt eine sehr interessante Studie der United Nations. Diese Zahlen muss man kennen. Wollte man die

(Minister Dr. Bernd Rohwer)

derzeitige Wohnbevölkerung in Deutschland über die nächsten 50 Jahre konstant halten, dann müssten 17,2 Millionen Menschen einwandern. Wollte man den Altersquotienten konstant halten, müsste man 181,5 Millionen Menschen einwandern lassen. Das kann man kaum glauben. Wollten wir die Erwerbsbevölkerung konstant halten, bräuchten wir 24,3 Millionen Einwanderer. Ich glaube, diese Zahlen machen deutlich, über welche Dimension des Problems wir sprechen. Herr Kayenburg, Sie haben völlig Recht, es geht weit über die engere Problematik hinaus.

Die Frage ist: Wie schaffen wir es überall in Deutschland - und auch in Schleswig-Holstein -, ein tolerantes und ausländerfreundliches Klima zu sichern, das Einwanderung in einem größeren Umfang möglich macht? Wir brauchen einen Arbeitsmarkt, der für ausländische Arbeitskräfte offen ist. Wir brauchen einen Wirtschaftsstandort, der nicht nach Hautfarbe oder Gehaltsklasse unterscheidet. Dafür müssen Arbeitskräfte willkommen sein. Es darf nicht sein, dass Ausländer zusammengeschlagen werden, es darf nicht sein, dass Synagogen angezündet oder geschändet werden. Es darf nicht sein, dass Moscheen angezündet werden.

(Beifall im ganzen Haus)

Wir müssen auch dem Ausland das klare Signal geben: Deutschland - und Schleswig-Holstein - sind humane Länder mit humanen Gesellschaften. Dafür müssen wir viel mehr tun. Ich werde Ihnen einen Bericht geben, der sicherlich einige Fakten zusammenstellen wird. Ich werde mir aber auch erlauben, aus diesen Zahlen einige Folgerungen zu ziehen, die wir dann gemeinsam - ich hoffe auch fraktionsübergreifend diskutieren können.

(Beifall im ganzen Haus)

Nach § 56 Abs. 4 der Geschäftsordnung erteile ich Frau Abgeordneter Roswitha Strauß zu einem Kurzbeitrag das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Debattenbeitrag von Minister Rohwer als sehr wohltuend empfunden. Ich denke, dass wir einen Schritt vorangehen, wenn wir die Dinge auf dieser Basis diskutieren.

Herr Kollege Steenblock, Sie haben es vorgezogen, in Bezug auf den Begriff Leitkultur Ihre Polemik zum Ausdruck zu bringen.

(Zuruf des Abgeordneten Wolfgang Kubicki [F.D.P.])

- Herr Kubicki, ich danke Ihnen. Ich lese Ihnen Teile eines Artikels von Professor Birg vor, der am 12. November 2000 in der Zeitung „Welt am Sonntag“ erschienen ist, damit wir in dieser Frage ein wenig sachlicher miteinander umgehen können.

„Frage: Was halten Sie von dem Begriff Leitkultur?

Professor Birg: Wenn er ernst gemeint ist, dann bejahe ich ihn. Wenn er als ein politischer Kampfbegriff, sozusagen als leichte Münze, verwendet wird, dann kann ich mich nur wundern.... Der Begriff Leitkultur ist wichtig, wenn man wirklich an den Inhalten interessiert ist. Denn je divergierender eine Gesellschaft wird, je inhomogener, desto wichtiger ist natürlich der gemeinsame Nenner.

Und zum Begriff Leitkultur gehört viel mehr als im Moment diskutiert wird. Ich denke, es gehört die Frage dazu, wie ernst man es erstens mit der Gleichberechtigung der Frauen meint. Die haben wir uns auch schwer errungen. Aber es wird vergessen, dass auch andere Dinge wie Korruptionsfreiheit der Politik und Verwaltung außerhalb Deutschlands, insbesondere in den Dritte-Welt-Ländern, aus denen inzwischen die Mehrzahl der Zugewanderten kommt, keineswegs selbstverständlich sind.“

Ich denke, das sind die Probleme, über die wir miteinander reden müssen. Ich bitte darum, eine dümmliche Diskussion über den Begriff Leitkultur nicht weiter in diesem Parlament zu verfolgen.

(Beifall bei der CDU)

Zu einem Kurzbeitrag hat Herr Abgeordneter KlausPeter Puls das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beschränke mich auf ein Zitat aus den „Uetersener Nachrichten“ vom 8. November 2000, die über einen Vortrag des Landtagsabgeordneten - und unseres Vizepräsidenten - Thomas Stritzl berichteten:

(Zurufe von der CDU)

(Klaus-Peter Puls)

Herausgegeben vom Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landtags - Ausschussdienst und Stenographischer Dienst

„Souverän und kenntnisreich bis ins Detail argumentierte der Kieler Christdemokrat Stritzl.“

(Beifall bei der CDU sowie der Abgeordneten Wolfgang Kubicki [F.D.P.] und Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

„Er benutzte das Wort ‘Leitkultur’ nicht einmal, machte aber deutlich, was er davon hält. Reizvokabeln hätten für ihn nichts in der Diskussion zu suchen. Es gehe darum, einen möglichst breiten Konsens in der Gesellschaft über die Ausländerpolitik der Zukunft zu finden.“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

(Beifall bei SPD, F.D.P., BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SSW und des Abgeordneten Thorsten Geißler [CDU])