Protocol of the Session on January 30, 2019

Die junge Demokratie der Bundesrepublik tut sich anfangs schwer. Zerstörung, Tod und Schuld sind allgegenwärtig. Das Trauma des Krieges zeichnet die Menschen. Diejenigen, die den Krieg überlebt hatten, sind verängstigt. Das Dach über dem Kopf, das Essen für den nächsten Tag und ein warmes Zimmer im Winter sind die großen Herausforderungen.

Für meine Generation und diejenigen danach sind dies alles Erzählungen, aber sie sind durch Eltern und Großeltern zumindest noch präsent. Doch dann, wenn die Familien die historische Erlebenswelt nicht mehr kennen, kommt der Schule allergrößte Bedeutung zu. Das Geschichtsbuch kann dabei eine Grundlage schaffen, aber das geschriebene Wort bleibt hinter der erlebten Wirklichkeit zurück.

Wir konnten dies am vergangenen Sonntag anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus hautnah erleben. Henriette Kretz nahm uns in ihre Welt mit, eine Welt, die sie als Kind erlebt hatte und die uns noch heute das Schaudern lehrt. Meine Damen und Herren, deshalb ist es richtig, Zeitzeugen in den Unterricht einzuladen. Ihre ganz persönliche Geschichte wird den Schülerinnen und Schülern im Gedächtnis bleiben.

Zeitzeugen setzen darüber hinaus mit ihrem Einsatz ein Zeichen der Versöhnung. Sie wollen Schülerinnen und Schüler motivieren, sich für eine friedliche Zukunft einzusetzen. Mit den Zeitzeugen wird Geschichte „heruntergebrochen“, um einen Ausdruck zu wählen, den Parlamentspräsident Hering am vergangenen Sonntag verwendete.

Gleiches gilt für die sogenannten außerschulischen Lernorte. Wer einmal die Verbrennungsöfen in einem KZ gesehen hat, wird diese niemals mehr vergessen. Gedenkorte sind mehr als der Begriff suggeriert. Wir gedenken der Menschen, die dort Leid erfahren haben oder starben. Diese Orte bleiben aber nicht nur in unserem Gedächtnis. Sie brennen sich in unsere Seelen. Gerade junge Menschen saugen die Botschaften auf und verinnerlichen sie.

Deshalb ist es ein guter und richtiger Weg, wenn heute im Rahmen einer Regierungserklärung der Vorschlag unterbreitet wird, dass jeder Schüler und jede Schülerin im Lauf der Schulzeit mindestens einmal mit einem Gedenkort in Kontakt kommen soll oder mit einem Zeitzeugen sprechen kann.

Die Verankerung in allen Phasen der Lehrerbildung ist eine Voraussetzung für die erfolgreiche Umsetzung, und auch in diesem Punkt wird die Regierungserklärung dem gerecht. Die entsprechende Servicestelle beim Pädogogischen Landesinstitut und damit ein wichtiger Baustein zur Demokratie und Werteerziehung wird ausgebaut.

Meine Damen und Herren, dem Sozialkundeunterricht kommt im Rahmen der Demokratieerziehung herausragende Bedeutung zu, und ich bin froh, dass jetzt der Stundenanteil an Sozialkunde endlich erhöht wird. Bereits am 1. August 2018 erschien in der Allgemeinen Zeitung ein sechsspaltiger Artikel, in welchem ich ausführte, weshalb wir eine Stärkung des Sozialkundeunterrichts an unseren

Schulen brauchen. Damals schrieb die Allgemeine Zeitung: „Bildungsministerin lehnt Stärkung des Sozialkundeunterrichts ab. (...) Das Nein aus Mainz ist eine DIN-A4-Seite lang.“

Ich bin froh, dass mit der heutigen Regierungserklärung Einsichten in Notwendigkeiten dokumentiert werden. Ohne ein solides Fundament an politischem Wissen bleiben Kenntnisse an der Oberfläche. Es gilt immer noch der Satz, ich sehe nur, was ich weiß. Der Verpflichtung der Durchgängigkeit ist dabei besonderes Augenmerk zu schenken: Von der 8. respektive 9. Klasse an müssen Geschichte und Sozialkunde durchgängig unterrichtet werden. Die sogenannte Zubringerlösung ist definitiv zu wenig.

Die Entscheidung, Sozialkunde aufzustocken, kommt dennoch spät. Aktuell diskutieren die Schülerinnen und Schüler eher auf der Straße als im Unterricht, weil es im Sozialkundeunterricht dafür wenig Raum und Zeit gibt. Der Stoff steht im Mittelpunkt. „Fridays For Future“: Dafür gehen die jungen Menschen auf die Straße, auch in Mainz, und zeigen damit ihr Interesse und ihre Betroffenheit politischen Fragestellungen gegenüber, die ganz konkret ihre Zukunft betreffen.

(Beifall der Abg. Jutta Blatzheim-Roegler, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Mir stellt sich die Frage, ob die Exekutive in dieser konkreten Frage des Sozialkundeunterrichts eher reagiert anstatt zu regieren. Neben der Sozialkunde müssen aber auch andere Fächer ihren Beitrag leisten. Viele Schulen haben ein Wertekonzept oder Leitbild erarbeitet. In der Klassenleiterstunde kommt der Klassenrat zum Tragen.

Da ich heute im Landtag rede, möchte ich nicht versäumen, an die Angebote des Landtags für Schulklassen zu erinnern, die nach einem erfolgreichen Start für Grundschulen nunmehr deutlich ausgeweitet werden sollen.

Meine Damen und Herren, politische Zusammenhänge werden nur dann verstanden, wenn unsere Schülerinnen und Schüler sie einordnen können. Wir gehen oftmals von unserem Verständnis aus und vergessen dabei, dass die Generationen nach uns durch eine andere Erlebens- und Lebenswelt geprägt wurden. Krieg findet woanders statt, Frieden ist selbstverständlich, und in der Demokratie kann man es sich gemütlich einrichten.

Ich überspitze bewusst, um deutlich zu machen, dass Demokratie hart erarbeitet wurde und immer wieder gelebt werden muss, um unser Zusammenleben in Freiheit und Frieden zu garantieren. Der Blick aus dem eigenen Fenster – um noch einmal eine Formulierung des Präsidenten vom vergangenen Sonntag zu verwenden – ist dabei von allergrößter Wichtigkeit, weil unsere eigene Lebenswirklichkeit davon berührt wird.

Ein Baustein dieses Friedens in Freiheit ist und bleibt Europa. Dabei spielen für uns als Rheinland-Pfälzer die Beziehungen zu unserem Nachbarland Frankreich eine besondere Rolle. 56 Jahre nach der Unterzeichnung des ÉlyséeVertrags durch Adenauer und de Gaulle unterzeichneten im Krönungssaal des Aachener Rathauses Macron und Merkel jetzt einen Nachfolgevertrag. Dies ist ein starkes

politisches Bekenntnis zu guten nachbarschaftlichen Beziehungen.

Der symbolträchtige Ort Aachen, von wo aus einst Karl der Große das Frankenreich regierte, war mit Bedacht gewählt. Der Vertrag betont in seiner Präambel, das – ich zitiere – „beispiellose Geflecht bilateraler Beziehungen“, das „auf eine neue Stufe“ gehoben werden soll. Besonders – so wörtlich – „in den Grenzregionen“ soll sich eine neue Dynamik entfalten. Auf die Bildung bezogen bedeutet das die gegenseitige Anerkennung von Schul- und Bildungsabschlüssen sowie die Entwicklung von Programmen zur Förderung der Zweisprachigkeit.

Der rheinland-pfälzische Landtag arbeitet im Europaausschuss und im Ausschuss für Bildung ebenfalls an einem Antrag, der die Sprache des Nachbarn stärken soll. Eine Anhörung im Europaausschuss hat allerdings zu Tage gefördert, dass – so ein Sachverständiger – 70 % der Schülerinnen und Schüler Französisch nach der 10. Klasse komplett abwählen. Die verbleibenden 30 % findet man dann zum größten Teil in Grundkursen.

Herr Baldauf – ich weiß nicht, er sitzt jetzt hinten, er hört mir zu –, Sie formulierten in Anlehnung an unsere Forderung, Spanisch als zweite Fremdsprache in Rheinland-Pfalz anzubieten: Spanisch geht auf Kosten von Französisch. – Wenn ich die Lateiner frage, sagen die mir, Spanisch geht auf Kosten von Latein.

(Abg. Christian Baldauf, CDU: Als zweite Fremdsprache!)

Ich sage Ihnen, auf wessen Kosten das geht. Das geht auf Kosten der Schüler, die aus den 13 anderen Bundesländern zu uns in die Mittelstufe eines Gymnasiums in Rheinland-Pfalz wollen und vom Schulleiter gesagt bekommen, das geht nicht, Du hast die falsche Sprache gelernt. Du brauchst entweder Französisch oder Latein. Das sind Dinge, die auf Kosten von Menschen gehen. Darüber sollten wir uns einmal unterhalten.

(Abg. Christian Baldauf, CDU: Wir sind in Rheinland-Pfalz, Frau Lerch!)

Herr Baldauf, ich darf noch etwas sagen: Wer glaubt, er könne von diesem Pult aus oder als Regierung sagen, wir müssen Französisch in den Schulen stärken, der kann das nicht von oben herab machen. Der muss auch Rahmenbedingungen schaffen, damit die Schüler das akzeptieren und bereitwillig annehmen.

(Zurufe der Abg. Hedi Thelen und Christian Baldauf, CDU)

Das ist das, was wir fordern. Es darf nicht bei wohlgemeinten Erklärungen bleiben,

(Zuruf von der AfD: Wahlfreiheit wird hier falsch gemacht!)

sondern die Jugendlichen müssen gerne die Sprache des Nachbarn lernen.

Übrigens reden wir ganz viel von Europa. Auch Spanisch ist eine europäische Sprache, ganz nebenbei gesagt.

(Beifall des Abg. Thomas Roth, FDP – Abg. Simone Huth-Haage, CDU: Es ist keine Sprache des Nachbarn!)

Die Verordnung über Klassenfahrten muss unseres Erachtens dahin gehend geändert werden, dass Sprachreisen auch in der Mittelstufe nach Frankreich möglich werden. Wir haben nämlich eine Fahrtenregelung, die Auslandsfahrten in der Mittelstufe nicht vorsieht. Das macht die Sache nicht einfacher. Je früher man anfängt, desto besser.

Dabei muss der Schwerpunkt auf dem Erwerb der Fremdsprache liegen, zum Beispiel durch den Besuch einer Sprachschule oder einer französischen Schule. Je früher wir Schülerinnen und Schüler motivieren, desto nachhaltiger wird die erreichte Sprachkompetenz sein.

(Unruhe im Hause – Glocke der Präsidentin)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Geräuschpegel ist relativ hoch. Würden Sie ihn bitte ein bisschen absenken?

Auch finanzielle Anreize, zum Beispiel die Erstattung der Fahrtkosten oder Ähnliches, sowie die intensive Förderung von Austauschprogrammen weit über das bestehende Angebot hinaus sind Möglichkeiten, die Akzeptanz des Französischen zu steigern. Eine Anordnung von oben dagegen – ich wiederhole mich –

(Abg. Simone Huth-Haage, CDU: Das ist nicht von oben angeordnet!)

wäre der völlig falsche Weg und führt zu Reaktionen, die niemand von uns will. Man lernt nur dann erfolgreich und mit Freude, wenn dem ein überzeugter Wille zugrunde liegt.

Meine Damen und Herren, wenn wir bildungspolitisch europäisch denken, sollten wir nicht bei Frankreich stehen bleiben. Sprachen öffnen das Tor zur Welt. Deshalb ist jede Sprache, die in der Schule gelehrt und gelernt wird, ein Wert an sich.

Für uns als FDP-Fraktion hat die erweiterte Selbstständigkeit von Schulen auch etwas mit Entscheidungsfreiheit zu tun. Das gilt ebenso hinsichtlich der Entscheidung, welche Sprache zu welchem Zeitpunkt in der jeweiligen Schule angeboten wird. Dass Schulen verantwortungsbewusst mit ihren Freiheiten umgehen, beweist der im letzten Jahr zu Ende gegangene Schulversuch „Erweiterte Selbstständigkeit“. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Rheinland-Pfalz diesen Weg, den schon einige Bundesländer gegangen sind, beschreiten würde.

Bevor ich zum Abschluss komme, möchte ich nicht versäumen, auf unsere deutsch-deutsche Geschichte zu verweisen. Die heute 30-Jährigen waren beim Mauerfall gerade geboren. DDR-Geschichte mit all ihren belastenden, einengenden und freiheitsraubenden Ausformungen ist für die junge Generation weit weg. Das Fenster der Geschichte

hat sich 1989 für einen kurzen Moment geöffnet und machte eine friedliche Revolution und die Wiedervereinigung möglich. Die deutsch-deutsche Gegenwart kann jedoch nur verstanden werden, wenn 40 Jahre DDR und der Weg zur Einheit in den Köpfen präsent sind. Erinnerungskultur leistet auch dazu einen wichtigen Beitrag.

(Beifall des Abg. Martin Louis Schmidt, AfD)

Meine Damen und Herren, viele kleine und große Schritte, die wir heute hinsichtlich der Demokratiebildung in unseren Kitas, in den Schulen und anderen gesellschaftlichen Bereichen gehen, führen zu einem Miteinander, das geprägt ist von Toleranz und Vielfalt. Die gelebte Erinnerungskultur ist Mahnung und Ansporn zugleich, damit Diktatur und Unterdrückung keinen Platz mehr finden und ein Leben in einem freiheitlichen, friedlichen Europa eine Zukunft hat.

Vielen Dank.

(Beifall der FDP, der SPD, des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Martin Louis Schmidt, AfD)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich Herrn Daniel Köbler das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Kretz, auch ich bin noch ganz angetan von Ihrer Rede am vergangenen Sonntag.

Das hat uns alle wirklich tief beeindruckt. Auch wenn Sie sich selbst nicht als Opfer bezeichnen müssen, ich möchte Ihnen doch sagen: Dass Sie diese Arbeit hier bei uns machen – im Land der Täter, im Land der Mörder Ihrer Eltern, die Sie dies persönlich erlitten haben, das größte, durch nichts zu relativierende Verbrechen der Menschheitsgeschichte –, vor allem die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern in unserem Land, ich glaube, dafür kann man gar nicht genug danken, davor kann man gar nicht genug Respekt haben. Vielen Dank dafür, liebe Frau Kretz!

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der FDP und des Abg. Uwe Junge, AfD)

Meine Damen und Herren, wir feiern in diesem Jahr 2019 70 Jahre Grundgesetz. Das Grundgesetz buchstabiert das Gründungsversprechen der Bundesrepublik Deutschland aus. Das heißt: Nie wieder – nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz. – Das ist unser Auftrag, der aus dem Grundgesetz erwächst: Die Würde jedes einzelnen Menschen achten, die universellen Menschenrechte für alle durchsetzen und ein friedliches, freiheitliches und demokratisches und soziales Miteinander gestalten. Das ist der Auftrag unserer Verfassung, unserer Demokratie, das ist der Auftrag der Parlamente, aber auch des gesamten Staats, und nicht zuletzt ist das auch der Auftrag unserer Bildungseinrichtungen.