Wir kommen zur Aussprache über den Gesetzentwurf. – Ich darf Herrn Abgeordneten Schreiner von der Fraktion der CDU das Wort erteilen.
Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Leistungen der Eingliederungshilfe orientieren sich künftig noch stärker am persönlichen Bedarf der Menschen mit Behinderung. So formuliert es das Bundesteilhabegesetz. Der Behinderte steht im Mittelpunkt. Ein hoher Anspruch. Die Frage, der wir uns heute stellen müssen, ist:
Geschätzte Frau Ministerin, Sie gestatten, dass ich Ihnen widerspreche. Nein, das Ausführungsgesetz wird diesem hohen Anspruch nicht gerecht; denn wenn man es liest, geht es in weiten Punkten nur um die Kostenoptimierung, und zwar um die Kostenoptimierung für das Land. Das ist im Entscheidenden die Frage der geteilten Zuständigkeit; denn die Zuständigkeit für minderjährige Menschen mit Behinderung soll bei den Landkreisen und Städten angesiedelt sein. Alternativen? – „Keine.“ Kosten? – „Finanzielle Mehrbelastungen in Rahmen der individuellen Leistungsgewährung sind für die Kostenträger nicht zu erwarten.“ – Spannend, mutig.
Sie selbst formulieren schon ganz anders. Sie haben gesagt, was von bundesgesetzlicher Seite kommt, können wir nicht sagen, und im Übrigen sei das alles sowieso schwierig.
Frau Machalet war im Sozialausschuss so ehrlich und hat schon vor einem Jahr oder wann wir diese Sitzung hatten, als wir uns das erste Mal darüber unterhalten haben, gesagt, das ist ein Blick in die Glaskugel, was da an Kosten auf wen auch immer zukommt. Insofern ist die Formulierung „Finanzielle Mehrbelastungen im Rahmen der individuellen Leistungsgewährung sind für die Kostenträger nicht zu erwarten“ schlicht und ergreifend falsch. Es geht bloß darum, dass das Land sich mit diesem Ausführungsgesetz einen schlanken Fuß macht, indem es die eigenen Kostenrisiken minimiert.
Deshalb ist es gut und richtig, dass wir diesen Antrag zu einer begleitenden Gesetzesfolgenabschätzung gestellt haben; denn die kommunalen Ausgaben im Sozialbereich sind seit Jahren der wesentliche Kostentreiber und zu einem großen Teil dafür verantwortlich, dass die Kommunen in Rheinland-Pfalz eine finanzielle Schieflage haben.
Aber unabhängig vom Geld geht es um den Menschen, es geht um die Behinderten. Es ist die Frage, ob die im Ausführungsgesetz getroffenen Regelungen, beispielsweise die Aufteilung – um Minderjährige kümmern sich die Kreise, sobald Du 18 bist, kümmert sich das Land darum –, sachgerecht sind. Wir als CDU sagen nein, es ist nicht sachgerecht. Wenn Sie sagen, okay, die Opposition muss immer eine andere Meinung haben als die Regierung, so ist das nicht nur unsere Meinung, sondern es ist die Meinung aller, die sich in diesem Feld bewegen und mit Behinderten arbeiten.
Ich kann Sie immer wieder nur mit dem konfrontieren, was andere sagen, was beispielsweise die Lebenshilfe sagt. Ich erlaube mir, aus der Stellungnahme der Lebenshilfe zu zitieren: Eine gleichwertige Leistungsgewährung muss auch und gerade im Kinder- und Jugendalter gefordert werden, da diese frühen Jahre entscheidend für die psychomotorische und psychosoziale Entwicklung sind. In diesem Alter werden wesentliche Bildungs- und Entwicklungschancen gewährt oder vertan, die für Teilhabe und Inklusion auch in späteren Lebensphasen entscheidend sind. Der Landesverband der Lebenshilfe bezweifelt, dass
es mit der beabsichtigten Aufgabenteilung möglich sein wird, die gewünschten gleichwertigen Lebensverhältnisse bei der Eingliederungshilfe herzustellen. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Minderjährigen, sondern auch hinsichtlich der Erwachsenen. –
Das haben sie nicht heute gesagt. Das haben sie immer gesagt und uns mit auf den Weg gegeben. Das Schreiben, das ich gerade zitiert habe, stammt aus dem April dieses Jahres. Leider haben Sie es bei der Erstellung Ihres Ausführungsgesetzes nicht berücksichtigt.
Es war nicht nur die Lebenshilfe. Die LIGA der Freien Wohlfahrtsverbände – da ist beispielsweise die Arbeiterwohlfahrt dabei – hatten in einer gemeinsamen Erklärung von Gemeinde- und Städtebund, den Wohlfahrtsverbänden und der LAG Selbsthilfe bekräftigt, dass das Land der alleinige Träger der Eingliederungshilfe sein muss. Eine unmissverständliche Formulierung. Umso erstaunter sind die Vertreter der LIGA, dass beabsichtigt ist, die Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche vollständig den Kommunen zu überlassen.
Die Diakonie sagt das Gleiche. Sie votiert für eine Verortung der Zuständigkeiten beim Land, weil alles andere nicht sachgerecht ist.
Jetzt kommen wir noch einmal zu den Kommunen, mit denen Sie im Gespräch sind, immer gut reden und immer alles so toll ist. Was haben denn die Gespräche gebracht? – Die Gespräche sind augenscheinlich dringend notwendig. Aber wenn man miteinander spricht, dann kann es nicht so sein, dass die Kommunen Ihnen ihre Sorgen vortragen, Sie eifrig nicken und nachher nichts machen.
Es ist nicht so, dass wir da irgendwie bei Null sind. Im März 2018 lief die Diskussion schon eine ganze Zeit. Im März 2018 gibt es eine gemeinsame Stellungnahme von Gemeinde- und Städtebund, Landkreis- und Städtetag, allen Trägern der kommunalen Eingliederungshilfe. Die schreiben damals zu dem Referentenentwurf – der hat sich in diesem Punkt nicht geändert – zu der Frage, inwiefern sie Träger für die Minderjährigen sein sollen: „Die vorgelegten Regelungen können wir nicht akzeptieren.“ Sie werden noch deutlicher: „Diese Selbstbedienungsmentalität ist das komplette Gegenteil der kommunalen Forderung und eine äußerst nachteilige Regelung für die Kommunen.“ – Das heißt, Sie haben wirklich dringend Redebedarf.
Wenn Ihnen die kommunale Seite sagt, dass das, was Sie im Ausführungsgesetz zum Bundesteilhabegesetz regeln, nichts mit dem zu tun hat, was für die Hilfe für die Behinderten sachgerecht ist, sondern „Selbstbedienungsmentalität“ ist und Sie alle Kosten und Risiken auf die kommunale Seite abschieben, dann haben Sie ein Problem.
Wenn Sie sagen, okay, das ist schon alles lange her, und wir sind aktuell in ganz guten Gesprächen, kurz vor den Haushaltsberatung sind die sowieso immer handzahm usw. – – –
Am 20. August 2018 – das ist gerade einmal drei Tage her – schreibt der Städtetag, die Kernforderungen der kommu
nalen Spitzenverbände bleiben in Gänze unbeachtet. So kann man ein Gesetz nicht machen, bei dem die kommunale Seite und das Land als Partner für die Schwächsten der Schwachen, für die Behinderten, die unsere Hilfe und unsere gemeinsame Solidarität brauchen, auftreten sollten, weil man für diese Menschen das Beste erreichen muss.
Geschätzte Frau Ministerin, gestatten Sie mir zu sagen, dass wir an dieser Stelle einen erheblichen Dissens haben und großen Wert darauf legen, dass wir die Möglichkeit, die uns die Geschäftsordnung gibt, eine begleitende Gesetzesfolgenabschätzung zu beantragen, nutzen und diesen Antrag stellen mussten und darauf bauen, auf diese Art und Weise vielleicht bei Ihren regierungstragenden Fraktionen Verständnis dafür bekommen, dass das Gesetz an dieser Stelle unbedingt geändert werden muss.
Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes in Landesrecht ist eine große sozialpolitische Reform und wird eine gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung deutlich stärken.
Es war meine Partei, die SPD, die dieses Vorhaben in den Koalitionsvertrag der vergangenen Legislaturperiode im Bund eingebracht hat.
Es war unsere damalige Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles, die den gesamten Prozess gesteuert, immer wieder vorangetrieben, Anregungen aus den Anhörungen von Abgeordneten aufgenommen sowie am Ende den Kompromiss in einem 110 Seiten umfassenden Änderungsantrag ausformuliert hat.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Reform läutet einen entscheidenden Systemwechsel ein. Die heutige Eingliederungshilfe wurde aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe gelöst und in das Neunte Buch Sozialgesetzbuch integriert. Das bringt entscheidende Verbesserungen für die Menschen, die heute Leistungen aus der Eingliederungshilfe beziehen, und sie können mehr von ihrem Einkommen und Vermögen zurücklegen. Ehepartner werden nicht mehr zur Finanzierung herangezogen, und dies ist ein erheblicher Fortschritt.
Auf dem Weg zum Bundesteilhabegesetz gab es einen beispiellosen Beteiligungsprozess von betroffenen Menschen und ihren Verbänden. Ulla Schmidt, die ehemalige Bundesgesundheitsministerin und Vorsitzende der Bundesvereinigung der Lebenshilfe, sprach von einem beispiellosen Engagement der Menschen mit Beeinträchtigung. Das erste Mal überhaupt wurden die Betroffenen auf der Bundesebene mit eingebunden.
In Rheinland-Pfalz gab es ebenfalls im vergangenen Jahr einen intensiven und breit angelegten Meinungsbildungsund Diskussionsprozess über die Ausgestaltung dieses Ausführungsgesetzes. Dabei wurde vor allem über die künftige Trägerschaft der Eingliederungshilfe diskutiert. Für diese sieht das Gesetz nun eine geteilte Trägerschaft zwischen Land und Kommunen vor.
Die Einbeziehung aller Ebenen und ihrer spezifischen Fähigkeiten ist mit Blick auf die gesamtgesellschaftliche Dimension dieser Herausforderung notwendig. Die Aufteilung ist sinnvoll, da die Verantwortung für die unter 18-Jährigen bei den Kommunen liegt. So ist gewährleistet, dass in dieser für die Inklusion so wichtigen Lebensphase die Hilfen aus einer Hand erfolgen. Durch die geteilte Trägerschaft bleibt in Zukunft diese Aufgabe wie in der Vergangenheit eine duale zwischen Land und Kommunen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang kurz auf den Antrag der CDU für eine gesonderte Gesetzesfolgenabschätzung für die betroffenen kommunalen Gebietskörperschaften eingehen.
Im Landesgesetz ist bereits eine solche Kostenfolgeabschätzung verpflichtend vorgesehen. Vor diesem Hintergrund ist der Antrag unverständlich. Man hätte diese Redezeit besser für eine inhaltliche Auseinandersetzung genutzt.
Eine echte Verbesserung stellt hingegen die im Gesetzentwurf vorgesehene Einbeziehung der Interessenvertretung von Menschen mit Behinderung bei der Entwicklung der Rahmenbedingungen für die individuelle Bedarfsermittlung getreu dem Grundsatz: „Nichts über uns – ohne uns!“ Die hier erfolgende Stärkung der Interessenvertretungen behinderter Menschen ist richtig und zukunftsweisend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Beschäftigung von Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist schon lange ein vorrangiges Ziel der Behindertenpolitik des Landes Rheinland-Pfalz und dieser Ampelkoalition. Das im Jahr 2006 erstmalig in Rheinland-Pfalz eingeführte „Budget für Arbeit“ ist ein wesentliches Instrument, um dies zu erreichen. Die damals zuständige Sozialministerin hieß übrigens Malu Dreyer. Es ist ein großer Erfolg, dass es uns gelungen ist, dieses Landeskind über das Bundesteilhabegesetz in den Bundesländern zu etablieren.
Das „Budget für Arbeit“ hilft Menschen mit Behinderungen dabei, eine Stelle auf dem regulären Arbeitsmarkt zu bekommen. In Rheinland-Pfalz bleibt es mit diesem Gesetz bei den bisherigen Regelungen. Mit 400 bewillig
ten „Budgets für Arbeit“ hat Rheinland-Pfalz bereits jetzt eine Vorreiterrolle. Eine Förderung über das „Budget für Arbeit“ ist dabei nicht nur günstiger als ein Werkstattplatz, er ermöglicht den Betroffenen auch mehr Teilhabe an der Gesellschaft, ganz im Sinne der Inklusion.
Durch meine lange Praxiserfahrung durfte ich bereits an dem Moment teilhaben, wenn ein Mensch mit Behinderung voller Stolz seinen Arbeitsvertrag unterschrieben hat und von da an seinen Lebensunterhalt selbst verdienen konnte. Bei der Einführung dieses „Budgets für Arbeit“ wünschte unsere heutige Ministerpräsidentin in einem Grußwort, dass es sich landesweit durchsetzt und reger Gebrauch von ihm gemacht werden würde. – Man kann feststellen, diese Hoffnung hat sich heute, zwölf Jahre später, mehr als erfüllt.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordnete und Regierungsmitglieder! Der Gesetzentwurf der Landesregierung zum Landesgesetz zur Ausführung des Bundesteilhabegesetzes steht heute zur Debatte. Damit geht ein soziales Großprojekt dieser Republik in die Phase der finalen Umsetzung auch hier in Rheinland-Pfalz, zu einer Zeit, in der man durchaus von einem Aufstand der Kommunen gegen Land und Bund reden kann.
Noch nie bisher hat es wohl solche Kontroversen und teilweise auch emotionale Debatten um die Finanzierung der kommunalen Haushalte, den Finanzausgleich und den notwendigen Schuldenabbau gegeben. Man könnte das Gefühl bekommen, dass eine Ära zu Ende geht, eine Ära, in der die durchaus sinnvollen Prinzipien der Subsidiarität und Konnexität benutzt wurden, um einen sich immer weiter aufblähenden Sozialstaat – wir sind bald bei einer Billion Euro pro Jahr – kommunal finanzieren zu lassen, derweil sich Bundes- und Landeshaushalte langsam sanieren.
Möglicherweise wird man in nicht allzu langer Zeit über eine grundsätzlich andere Art der Finanzierung des Sozialstaates nachdenken müssen. Der vorgelegte Entwurf jedoch gehört noch zum alten Prinzip, welches ich gern „die Bigotterie unserer Zeit“ nenne. Bundes- und Landespolitik sowie Sozialverbände und Kirchen entwickeln große, nicht immer nur soziale Ambitionen. Die Bürger und Kommunen sollen diese dann umsetzen. Finanziert werden sie zum Teil mit dem Budget künftiger Generationen.