Protocol of the Session on June 22, 2017

Abschließen möchte ich mit einem Appell. Machen wir uns, wenn es uns um das so wichtige Thema Gedenkkultur und Erinnerungskultur geht, ein Zitat des dänischen Schriftstellers, Theologen und Philosophen Søren Kierkegaard zu eigen: „Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden, aber nur in der Schau nach vorwärts gelebt werden.“

Vielen Dank.

(Beifall der AfD)

Für die FDP-Fraktion hat Frau Kollegin Lerch das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Dass der vorliegende Antrag der Koalitionsparteien zur Förderung der Gedenkkultur in Rheinland-Pfalz heute im Landtag zur Behandlung ansteht, ist kein Zufall. Dieser Antrag ist Ausdruck der Sorge, dass aktuell – ich zitiere aus dem Antrag – „menschenfeindliche Parolen und pauschale Verurteilungen gegenüber Flüchtlingen, Mitbürgerinnen und Mitbürgern mit Migrationshintergrund, gegen Homo- und Transsexuelle sowie Menschen anderen Glaubens bis in die Mitte der Gesellschaft wieder hof- und parteifähig werden.“ Auch der Antisemitismus gewinnt verstärkt Raum in unserer Gesellschaft. Mit dem Antisemitismus werden wir uns heute noch befassen.

Meine Damen und Herren, das Nie wieder hat meine Generation geprägt. „Die Welle“ war und ist eine viel gelesene Schullektüre. Dass wir heute das Niemals wieder als Leitgedanken über diesen Antrag schreiben müssen, zeigt, dass in der Gesellschaft Entwicklungen Platz greifen, die wir vor Jahren noch als unmöglich bezeichnet hätten. In den neuen Medien sind Diffamierungen von Menschen, die anders sind, an der Tagesordnung. Umso wichtiger ist es, dass die Politik, dass wir hier ein Zeichen setzen. Deshalb ist unser Antrag heute richtig und wichtig.

Er richtet sich in allererster Linie an jene, die sich noch in der Phase der Orientierung befinden. Der Lehrplan für Geschichte formuliert – ich zitiere –: Auf der Grundlage des erworbenen Wissens muss der junge Mensch sich orientieren, indem er zu Themen, Fragen und Inhalten Stellung bezieht. Er muss sich selbst fragen, welche Rolle er einnehmen will und kann. – So weit der Lehrplan.

Orientierungskompetenz wird zur Leitkompetenz, aus der Handlungskompetenz erwachsen muss. Die Schule befasst sich insbesondere im Fach Geschichte mit Fragen des Totalitarismus, der Diktatur des Holocaust, des Widerstandes und der Menschenrechte und gibt zugleich Anregungen zur „Öffnung von Schule“.

Außerschulische Lernorte gut durch die unterrichtliche Arbeit vor- und nachbereitet – hier sind wir auf einer Linie, Herr Kollege –, sind das A und O. Die gute Vor- und Nachbereitung bleiben im Gedächtnis. Den Besuch von Kriegsgräbern, Gedenkstätten, Kriegsdenkmälern und Konzentrationslagern vergisst kein Schüler. Auch das Gespräch mit Zeitzeugen ist nachhaltig und authentisch.

Meine Damen und Herren, ich habe in meiner Zeit als Lehrerin immer wieder in Verbindung mit der Aufarbeitung der DDR-Diktatur und der DDR-Vergangenheit das StasiGefängnis in Hohenschönhausen mit meinen Schülerinnen und Schülern besucht. Ehemalige Gefangene führen durch die Anlage. Keiner meiner Schülerinnen und Schüler wird den Besuch je vergessen, und ich auch nicht; denn ich habe zutiefst betroffene und auch weinende Schüler erlebt.

Meine Damen und Herren, Betroffenheit ist ein nachhaltiger Lehrmeister. Als dann noch in unmittelbarer zeitlicher Nähe „Das Leben der Anderen“ in die Kinos kam und zum Unterrichtsgegenstand wurde, war die Nachhaltigkeit vollständig.

(Beifall bei der AfD)

Deshalb ist es gut, dass der vorliegende Antrag eine Stärkung der Landeszentrale für politische Bildung einfordert, die Gedenkkultur in Rheinland-Pfalz weiter fördern will, auch das Engagement vieler Ehrenamtlicher in diesem Bereich unterstützt und schließlich die Verankerung von Gedenkarbeit in den Schulen weiter vorantreibt. Die Zeitzeugenplattform des Pädagogischen Landesinstituts „Zeugen der Zeit“ sowie das virtuelle Migrationsmuseum www.Lebenswege.rlp.de können beispielhaft genannt werden.

Lassen Sie uns gemeinsam ein Zeichen setzen wider das Vergessen und für das Niemals wieder!

Vielen Dank.

(Beifall der FDP, der SPD, der CDU und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat Frau Abgeordnete Binz das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Als der 17-jährige Eugen Salomon im Oktober 1905 zum Vorsitzenden des von ihm und einigen Freunden gerade gegründeten 1. Mainzer Fußballclubs Hassia 05 gewählt wurde, ahnte er wohl nicht, was aus seinem Verein einmal werden würde. 113 Jahre später ist aus dem wilden Gebilde, wie die jungen Vereinsgründer damals ihren Verein nannten, mit dem 1. FSV Mainz 05 ein Fußballbundesligist geworden, der im beliebtesten Sport der Deutschen oben mithält.

(Zuruf des Abg. Dr. Bernhard Braun, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die FCK-Fraktion muss jetzt stark bleiben.

(Zurufe aus dem Hause)

Kommen wir einmal zurück zum Thema.

(Glocke des Präsidenten)

Die Geschichte von Salomon könnte eine tolle Heldengeschichte von jungen Menschen sein, die sich engagieren, und aus deren kleinen Ideen mit der Zeit etwas ganz Großes wird, nämlich eine Geschichte, die auch jungen Menschen heute zeigt, dass Engagement, Freundschaft und auch Sportsgeist dazu führen können, dass man Geschichte schreibt.

Doch durch den Verlauf der deutschen Geschichte, durch den Nationalsozialismus mit seinem Rassenwahn, durch Arisierung und Gleichschaltung ist diese wunderbare Geschichte von Eugen Salomon, dem jüdischen langjährigen Vereinsvorsitzenden, in Vergessenheit geraten. Auch über seinen weiteren Lebensweg wusste man außer seiner Flucht 1933 nach Frankreich wenig.

Erst 2010, als eine Straßenbenennung zum neuen Stadion des Vereins anstand und sich Fußballfans für Eugen Salomon als Namensgeber einsetzten, weckte das ein breiteres Interesse an dem Schicksal von Eugen Salomon. Dank der gemeinsamen Nachforschungen des Stadtarchivs Mainz, der Gedenkstätte KZ Osthofen und dem Institut für Geschichtliche Landeskunde konnte 2011 Klarheit über sein Schicksal geschaffen werden. 1942 wurde Salomon von Drancy in Frankreich nach Auschwitz deportiert. Dort wurde er am 14. November ermordet.

Ihm und seiner Familie zu Ehren wurden 2013 vor seinem letzten Wohnhaus in Mainz Stolpersteine verlegt. Die Geschichte um das Gedenken an Eugen Salomon zeigt sehr gut, wie Gedenkkultur entsteht und was es für eine starke und lebendige Gedenkkultur benötigt. Gedenkkultur entsteht dann, wenn Menschen ihr Lebensumfeld, ihr Dorf, ihre Stadt und ihren Verein als einen Ort mit einer Geschichte wahrnehmen, wenn sie sich mit dieser Geschichte auseinandersetzen und diese Geschichte ins Heute ins Gedenken übertragen.

Gedenkkultur benötigt wissenschaftliche Einrichtungen, wie die Archive, historische Institute oder das NSDokumentationszentrum in Osthofen; denn auch heute, 73 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus, ist noch längst nicht alles, was damals geschah, erforscht und für die Öffentlichkeit aufgearbeitet.

Gedenkkultur braucht auch starke politische Bildung, auf der sie aufbaut. Mit unserem heutigen Antrag zeigen wir auf, wie wir die Gedenkkultur in Rheinland-Pfalz durch die Unterstützung des Engagements der Gedenkstättenarbeit und auch der politischen Bildung stärken und unterstützen wollen.

Zur Gedenkkultur in Rheinland-Pfalz gehören auch unsere Gedenkstätten. Wir brauchen die Gedenkstätten an Orten des nationalsozialistischen Verbrechens, um den Opfern ein ehrendes Andenken zu bewahren. Wir brauchen die Gedenkstätten aber auch für uns selbst; denn erst durch diese Orte und durch die unmittelbare Auseinandersetzung mit dem Verbrechen am Ort des Geschehens wird überhaupt die Dimension klar und den heutigen Generationen bewusst, warum wir von der Einzigartigkeit der Schoah sprechen.

Es geht in unserem Antrag aber auch um die Orte in unserem Land, die Schauplatz nationalsozialistischer Verbrechen wurden, an denen es bislang noch keine Gedenkstätten gibt, Orte wie beispielsweise das ehemalige KZ-Außenlager Bruttig/Cochem an der Mosel, wo sich die Kommunalpolitik jetzt zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung aufmacht; Gedenkorte zu schaffen; denn wenn wir ehrlich sind, müssen wir auch sagen, dass an vielen Orten, an denen Verbrechen geschehen sind, jahrzehntelang ein Mantel des Schweigens über das Geschehene gelegt worden ist.

Oft ist es erst durch das hartnäckige Engagement von Bürgerinnen und Bürgern zu einer Aufarbeitung gekommen. Daher gebührt diesen Menschen heute unser besonderer Dank, ebenso wie allen in der Gedenkarbeit engagierten Bürgerinnen und Bürgern.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU und der FDP)

Schlussendlich geht es uns bei der Gedenkarbeit aber vor allen Dingen um eines, nämlich den Menschen zu gedenken, die zu Opfern wurden und deren Leben und Lebensleistungen vernichtet wurden. Es liegt heute auch an uns, ihrer nicht nur als Opfer zu erinnern; denn ihre Leben waren weit mehr.

Ich finde, Christian Gomolzig, der Sprecher der Mainzer Fan-Organisation, die sich damals für das Erinnern an Salomon eingesetzt hat, fasste das in einem Satz sehr schön zusammen. Als das Ergebnis der Nachforschungen bekannt wurde, dass Eugen Salomon in Auschwitz ermordet wurde, sagte er: Wir sind sehr traurig darüber. Aber Sie haben Eugen Salomon mit Ihrer Arbeit wieder ein bisschen Gesicht gegeben. – Darum sollte es uns mit dem Gedenken und der Gedenkkultur an die Opfer des Nationalsozialismus gehen.

Vielen Dank.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, der SPD, der CDU und der FDP)

Für die Landesregierung spricht Herr Staatsminister Wolf.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Das heutige Thema der Gedenkkultur und die Aussprache, die von den Fraktionen der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebracht wurde, nimmt ein sehr wichtiges Thema auf, das in seiner Bedeutung eher noch zunimmt, und ist daher keinesfalls ein Schaufensterantrag, Herr Abgeordneter Schmidt.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

An der Gedenkstätte in Hinzert, die an das dortige Konzentrationslager mit der Bezeichnung SS-Sonderlager erinnert, haben 1997 ehemalige französische Deportierte eine Erinnerungstafel an der Sühnekapelle angebracht, die die Aufschrift trägt: Kein Hass, aber auch kein Vergessen.

Diese Mahnung wird in letzter Zeit zunehmend infrage gestellt. Das beobachten wir mittlerweile fast täglich. Es gibt Forderungen nach Beendigung der Erinnerungsarbeit und nach einem Schlussstrich unter die deutsche NSVergangenheit, die in der Öffentlichkeit und in den Medien von Parteivertretern am rechten Rand vorgebracht werden.

Gleichzeitig nehmen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit bis hin zu Hass und menschenverachtenden Parolen deutlich zu. Wir müssen den mahnenden Überlieferungen der Zeitzeugen, den Menschen, die für unsere Freiheit, die heute möglich ist, und die wir heute leben, die ihr Leben eingesetzt haben, verfolgt, gequält und ermordet wurden, weiterhin und auch noch mehr Gehör in der Gesellschaft verschaffen.

Über die Zukunft der Gedenkkultur wird derzeit viel diskutiert. Daher freue ich mich, dass wir sie heute auch im Landtag in dem besagten gemeinsamen Antrag thematisieren.

Meine Damen und Herren, wie hat sich die Gedenkarbeit in Rheinland-Pfalz entwickelt? Wir gehen zurück in den Anfang der 90er-Jahre, als die Landesregierung und der Landtag in Rheinland-Pfalz die Aufklärungsarbeit über den Nationalsozialismus und das Gedenken an die Opfer der Gewaltherrschaft zur kontinuierlichen staatlichen Aufgabe erklärt haben.

Zu diesem Zeitpunkt wurde damals das ehemalige KZGelände in Osthofen vom Land angekauft und zu einer landeseigenen Gedenkstätte ausgebaut. Der Friedhof, auf dem Opfer des ehemaligen SS-Sonderlagers Hinzert von der französischen Militärverwaltung nach Kriegsende bestattet wurden, ist 2005 um das Dokumentations- und Begegnungshaus erweitert und zur zweiten Landesgedenkstätte entwickelt worden.

In der Unterrichtung des Landtags am 26. Januar 1993 bekannte sich die damalige Landesregierung zu folgenden Zielen und Grundsätzen: In Osthofen könnten die Anfänge des Dritten Reichs und in Hinzert die Endphase der NS-Dikatur eindringlich geschildert werden. Beide Gedenkorte bilden Eckpunkte für die NS-Zeit im heutigen Rheinland-Pfalz. Damals bereits haben Kreise, Städte und Gemeinden zusammen mit dem Land die Verantwortung übernommen, die Ereignisse von 1933 bis 1945 nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Das vor 25 Jahren von der Landeszentrale für politische Bildung entwickelte Konzept zum Aufbau der beiden landeseigenen KZ-Gedenkstätten hat sich bis heute bewährt. Beide Gedenkstätten, für die es bis 1993 kein Personal und keine Landesmittel für pädagogische Arbeit gab, sind heute fest etabliert. Sie sind bundesweit und auch im Ausland als kompetente Institutionen anerkannt.

Die mithilfe der Landeszentrale 2001 gegründete Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Rheinland-Pfalz hat – das ist besonders wichtig – heute 63 Initiativen. Sie tragen viel dazu bei, dass in Kreisen, Städten und Gemeinden, die dortigen Aktivitäten zur Gedenkarbeit in starkem Umfang gestiegen sind.

Die Zusammenarbeit zwischen der staatlichen Gedenkarbeit der Landeszentrale und der vom bürgerschaftlichen und ehrenamtlichen Engagement zahlreicher Menschen in unserem Land getragenen Initiativen ist gut, braucht aber natürlich auch ein starkes Fundament. Dieses zu sichern, ist eine Aufgabe, die vom Land, von Kreisen, Städten und Gemeinden gemeinsam getragen werden muss.

(Beifall der SPD, der FDP und des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)