Protocol of the Session on January 27, 2015

Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Wir, eine Kaufmannsfamilie, wurden durch die russischen Machthaber als Erzfeinde des kommunistischen Systems erklärt, über Nacht wurden das Hab und Gut enteignet, wir fast an die Straße gestellt und mit einer Aussiedlung nach Sibirien bedroht.

Meine Eltern waren verzweifelt. Damals haben sie gedacht, das sei das Ende ihrer Welt. Die Armen. Wie haben sie sich geirrt! Denn das wirkliche und grausame Ende kam knappe zwei Jahre später mit den Deutschen und ihrem Rassenhass. Zuerst war also der Klassenhass, und dann kam der Rassenhass.

Sie erlauben, dass ich mich hinsetze. Das ist ein schweres Kapitel, das ich jetzt zu lesen habe.

Nach einer Razzia im Ghetto im September 1942, also im Apogäum des in Osteuropa tobenden Holocausts, wurde unsere Familie im Ghetto eingesperrt.

Was war eigentlich ein NS-Ghetto? – Mein Vorredner, Herr Mertes, hat Ihnen die vielen Lager beschrieben. Die Nazis in ihrem Mörderwahnsinn haben sehr viele Arten von Lagern erfunden, in denen sie das tun konnten. Aber ein Ghetto war kein Konzentrationslager. Es war kein Gefängnis, aber auch kein Platz zum Leben. Ein Ghetto war ein Warteraum zum Tod.

Allein während dieser Razzia wurden etwa 5.000 Menschen in einen Viehwaggon in einem Zug auf eine unerhört grausame Weise buchstäblich hineingestopft.

Ich, Vater und Mutter waren auch dabei. In dieser Zeit waren nur noch wir drei aus unserer Familie am Leben geblieben.

So – wie folgt – habe ich diese „Verladung“ in meiner Biografie geschildert: Wie lange hat das gedauert? Stunden? Eine ganze Ewigkeit? Zuletzt aber wurden die schweren Waggontüren kreischend zugezogen und mit lauten Hammerschlägen von außen plombiert. Damit schien das Schicksal der Insassen besiegelt. Wir ahnten, wohin die Reise gehen sollte. Nach Belzec in ein Vernichtungslager – eine Reise ohne Wiederkehr.

In einem der Waggons stand ich, vor Entsetzen halb gelähmt, zwischen meinen Eltern. Noch waren wir zusammen. In diesen Viehtransporter, der bestenfalls 50 Menschen aufnehmen konnte, mit Mühe vielleicht 80, waren mindestens 200 hineingepresst worden. Wir hatten uns sämtliche Kleidungsstücke vom Leibe gerissen, um etwas mehr Luft zu bekommen und nicht gleich zu ersticken oder an einem Hitzschlag zu sterben. Ich glaubte zu ersticken und wurde bewusstlos, kam wieder zu mir, kaum bewusst, was sich in dem finsteren Güterwaggon abspielte, ein Bild jenseits aller Vorstellungen vom Jüngsten Gericht.

Wie lange ging das schon? Ich wusste es nicht. Ich wusste überhaupt nichts. Immer, wenn ich das Bewusstsein für einige Momente wiedererlangte, nahm ich wahr, dass meine Eltern mit ihren Armen und Körpern eine Schutzmauer um mich formten, um mich vor dem stetig wachsenden Druck der anderen Leiber zu schützen. Mutter und Vater hatte ich es zu verdanken, noch nicht zerquetscht worden zu sein. Wir standen eng gegeneinander gepresst, nackt, und die Menschenmenge drückte uns an die Holzwand des Waggons. So hatten wir zumindest ein wenig Luft zum Atmen. Jene, die sich etwa in der Mitte des Menschenhaufens befanden, waren nicht mehr am Leben, aber ihre Körper standen

weiterhin aufrecht. Sie konnten weder fallen noch zu Boden gleiten.

Als ich wieder einmal zu mir kam, hörte ich Mama mir ins Ohr flüstern. Einigen jungen Leuten ist es gelungen, eine Öffnung in der Waggonwand herauszureißen, und sie springen hinaus. Papa und ich haben beschlossen, das Gleiche zu tun. Vielleicht werden wir umkommen; denn die Wachen schießen auf uns. Aber wenn wir bleiben, kommen wir auf jeden Fall um.

Bevor ich das Ganze richtig verstehen konnte, packten mich kräftige Hände, hoben mich hoch und schoben mich durch eine schmale Öffnung. Da hing ich nun, noch immer gehalten von den unbekannten Händen. Ich fühlte den kühlen Luftstrom, konnte endlich richtig atmen. Meine Sinne kehrten zurück. Plötzlich ließen mich die Hände los. Ich fiel in eine bodenlose Dunkelheit.

Ich habe überlebt, was Sie selber sehen können. Ich wäre imstande, noch lange über die Existenz eines von nun an gehetzten Tieres zu erzählen, das am Rande der Gesellschaft bis zum Kriegsende leben musste und nur auf sich selbst angewiesen war.

Niemand von meinen Liebsten hat überlebt. Das habe ich damals gedacht. Meine polnischen Freunde und Menschen haben mir geraten, mich freiwillig als eine polnische Zwangsarbeiterin im Dritten Reich zu tarnen. Das war einer meiner Rettungsversuche. Es ist mir gelungen, diese gefährliche Zeit buchstäblich „im Maul des Löwen“ zu überleben, indem ich vorgetäuscht habe, eine polnische Zwangsarbeiterin zu sein. Es war nicht einfach, aber es ist mir gelungen, diese Tarnung bis zum Kriegsende zu erhalten.

Unter anderem habe ich nicht weit von Mainz, nämlich in Rülzheim bei Speyer, in einer Schuhfabrik gearbeitet. Ich werde Ihnen kurz unseren Empfang in einem Zwangslager für ausländische Arbeitskräfte schildern. Dieses Lager war auch nicht gut. Das werden Sie sehen. Es war aber damals für mich in meiner Lage im Vergleich zum Ghetto ein Paradies.

Zurück nach Rülzheim. Vor unsere verängstigte Gruppe polnischer und ukrainischer Frauen stellte sich breitbeinig ein SA-Mann mit der unentbehrlichen Peitsche in seiner Hand und hielt eine Rede: Ich erwarte, dass ihr hier pflichtbewusst und effizient arbeitet, und wenn ihr euch weigert, werde ich euch schon mithilfe der Gestapo dazu zwingen. Ich habe euch gewarnt. Ab morgen früh fünf Uhr beginnt die Arbeit. – Kurz, bündig und deutlich.

Es war schwer und sehr gefährlich; denn wenn jemand, auch von meinen Leidensgefährtinnen, entdeckt hätte, dass ich eine Jüdin bin, hätte das den Tod bedeutet. Es ist mir aber gelungen. Ich habe überlebt.

Am 8. Mai 1945 ist endlich der ersehnte Tag der Befreiung gekommen. Gewöhnlich durfte eine Geschichte wie meine in diesem Moment enden. Aber mehr als ein halbes Jahrhundert später passierte etwas, was noch immer im Holocaust gesteckt hat.

Am 20. Juni 1994 war ich in meiner kleinen Zweizimmerwohnung mit Vorkehrungen für eine kurze Reise

beschäftigt. Das Telefon läutete. Ich hob ab. „Ein Anruf aus dem Ausland“, sagte die Vermittlung. In dem Städtchen hatten die Telefone noch keinen Direktanschluss an das polnische, geschweige denn an das internationale Netz, und so kamen Auslandsgespräche nur über die Vermittlung zustande.

Dieser grenzüberschreitende Anruf brachte mich nicht aus der Fassung. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus war meine Welt erheblich größer geworden. Ich besaß viele neue Freunde, nicht nur in Polen, sondern auch in anderen Ländern und Kontinenten. Diese Freunde hatten Gerüchte an mich weitergeleitet, nach denen einer meiner Brüder den Krieg überlebt habe und zwischenzeitlich in England verstorben sei.

Geduldig wartete ich auf die Verbindung. Im statischen Knistern und Knacken der Leitung versuchte die Stimme eines Mannes durchzukommen. Er sprach polnisch mit einem Akzent, der mir sofort das Herz erwärmte. Es war die Sprachmelodie meiner Heimat, des östlichen Grenzlandes. – Ist dort Rut Burak?“

Plötzlich überlief es mich kalt und heiß. Diese Stimme war ähnlich meiner eigenen! – „Ja, Rut Burak, geborene Wermuth“, antworte ich. Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum ich mich auf diese ungewöhnliche Art am Apparat meldete. Niemals vorher hatte ich mich mit meinem alten, schon so lange nicht benutzten jüdischen Namen vorgestellt.

Der Mann am anderen Ende schien zu zögern. „Weißt du, wer anruft?“, fragte er schließlich. Natürlich wusste ich es nicht. Wie konnte ich? Aber ich wurde immer aufgeregter. Genau wie in diesem Moment. In der letzten Zeit hatte ich mit einem Israeli korrespondiert, der vor vielen Jahren ein Schulfreund meines Bruders Salek gewesen war. Ich dachte spontan, dass er am Telefon sei, auch wegen des vertrauten polnischen Akzents. „Bist du Bezio? Professor Dov Noy aus Israel?“ – „Nein. Ich rufe aus England an.“

Dann begriff ich plötzlich. Irgendwie wusste ich es, bevor ein Name fiel. Ich kannte niemanden in England. Wer also konnte von mir erwarten, ihn an der Stimme zu erkennen? Mein Herz schlug bis zum Hals. – „Salek!“, schrie ich in den Hörer. „Salek, Bruderherz, du lebst?“ – Sekunden verstrichen. War er es wirklich? Ich durchlebte im Zeitraffer alle nur denkbaren Gefühle: Jubel, Glück, Trauer, aber auch Angst. War er es wirklich?

„Ja, ich bin es, meine kleine Schwester.“ – Die Stimme am Telefon brach und kippte in ein herzzerreißendes Schluchzen um. Die Vermittlung schaltete sich besorgt ein: „Hallo, was ist los? Hallo, hallo, sind Sie noch da?“

Ja, ich war da, und nichts Besonders war los, nur dass sich ein Bruder und eine Schwester nach 53 Jahren wiedergefunden hatten. Beide hatten ein halbes Jahrhundert lang geglaubt, der andere habe den Krieg nicht überlebt. Nein, nichts von Belang.

Einige Tage später sind wir uns am Flughafen Heathrow begegnet. Wir haben gar nichts von der Menschenmenge um uns wahrgenommen. Nur wir zwei haben uns mit Tränen übergossenen Gesichtern eng umarmt. Wir

beide waren nicht mehr jung, beide lebensmüde. Aber ich sah in dem kahlen und bärtigen Mann den 15jährigen Jungen mit einem dunklen Lockenschopf und er in der alten und ergrauten Frau das kleine Mädchen mit einer Schleife im Haar. In diesem Moment war aller Hass und Grimm gewichen. Doch die Trauer blieb.

Es bleibt auch die Frage: Wie wurde es möglich, dass Menschen fähig waren und immer noch fähig sind, sich gegenseitig so etwas anzutun? Diese Frage ist auch heute aktuell. Die Antwort durfte ein jeder im eigenen Gewissen suchen. Der innige Wunsch der Zeitzeugen ist, dass alle, die uns zuhören, das verstehen und es anderen weitererzählen. Darum hört auf uns. Wir sind die Letzten!

(Die Anwesenden erheben sich von den Plätzen und spenden Beifall)

Ich wollte Ihnen noch vorher sagen, dass ich Sie nicht um Beifall bitte. Ich wusste nicht, ob ich welchen haben werde. Wir wollen nur über alle Opfer, die Millionen, die nicht mehr sprechen können, erzählen. In einem von den Lagern steht heute die Inschrift: Wenn wir nicht erzählen, werden die Steine schreien. – Darum müssen wir erzählen.

Ich danke Ihnen.

Musik

Peter Przystaniak „In the beginning“

Komposition nach Marc Chagalls Fenster “Schöpfung”, Sankt Stephan, Mainz

„Colalaila“ classic

Ansprache

der Ministerpräsidentin Malu Dreyer

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen vom Parlament und von der Regierung, sehr verehrte Ehrengäste, liebe Repräsentanten und Repräsentantinnen der in der NS-Zeit verfolgten Bevölkerungsgruppen, sehr verehrte Herren und Damen, liebe sehr verehrte Frau Ruta Wermuth-Burak!

Auf den Tag genau 70 Jahre ist es her, dass die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz stattgefunden hat. Allein in Auschwitz haben die Nationalsozialisten mehr als 1 Million Menschen ermordet.

Es war, es ist, und es bleibt unser aller Auftrag, die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus wach zu halten; denn von dem Wissen über das, was damals geschehen ist, hängt ab, ob die Menschen die Lehren aus dieser Zeit beherzigen.

Deshalb sind die Rückschau auf diese Zeit und auch das Gedenken an diesem Tag für unser kollektives Gedächtnis unverzichtbar.

Auch heute haben wir von den furchtbaren Jahren und den Geschehnissen während der nationalsozialistischen Herrschaft gehört: Wie es dazu kommen konnte, dass eine Gesellschaft auf einen solchen katastrophalen und mörderischen Irrweg gelangte, bis er im Zusammenbruch des Mai 1945 endete. Welche Folgen diese Jahre hatten – auf ganze Nationen ebenso wie auf so viele Einzelbiografien.

Wir haben dies Menschen wie Ruta Wermuth-Burak zu verdanken, die uns als Zeitzeugen mitnehmen in ihr Leben, ein Leben, das uns als nachgeborene Generationen – das, was sie erlebt haben – zutiefst berührt, zutiefst beschämt, auch traurig macht und uns sehr stark in die Verpflichtung nimmt.

Verehrte Frau Wermuth-Burak, Sie haben uns teilhaben lassen an Ihrem Leben, in dem Sie so viel Leid spüren und ertragen mussten, in dem Sie so viele Mitglieder Ihrer Familie verloren haben. Es ist keine Selbstverständlichkeit, es ist eigentlich geradezu eine Zumutung, über dieses Leben immer wieder zu berichten. Umso dankbarer sind wir Ihnen heute, dass Sie zu uns gekommen sind und uns teilhaben ließen; denn es macht uns so immer wieder deutlich, welche Verantwortung wir für diese Welt tragen. Herzlichen Dank an Sie!

(Starker Beifall im Hause)

Mit Ihnen wird auch das Schicksaal verfolgter Frauen im Nationalsozialismus noch einmal klar: Aus Polen stammend, jüdischen Glaubens, ein junges Mädchen und Zwangsarbeiterin – das war eine mehrfache, ganz besondere Bedrohung des Lebens. Es ist wichtig, auch Frauen als Opfer des Nationalsozialismus einen angemessenen Platz im Gedenken zu geben.

Bei vielen der Überlebenden hat es zum Teil Jahrzehnte gebraucht, bis Ihnen das bis dahin Unaussprechliche über die Lippen kommen konnte oder sie ihre Erinnerungen niedergeschrieben haben.

Sie haben vor 13 Jahren Ihre Lebensgeschichte veröffentlicht. 2005 erschien die deutsche Ausgabe. Heute sprechen Sie wieder unsere Sprache, die damals so viel Furchtbares und Schlechtes für Sie bedeutete.