an Säuglinge und alte Menschen, die an vielen Tausenden Orten in Europa verfolgt, gefoltert, gequält, beraubt und ermordet wurden.
Wir denken an Kriegsgefangene, – an Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, – an die psychisch und physisch Kranken, – an die oppositionellen Christen und an die Zeugen Jehovas, – an Homosexuelle, – an politisch Andersdenkende, – an die Mitglieder der Frauenbewegung und des Widerstands.
Wir denken an die vielen Menschen, die nach Ansicht der Rassenideologie nicht zur „Volksgemeinschaft“ gehörten und an mehr als 42.000 Orten gequält, festgehalten, zur Arbeit gezwungen und ermordet wurden.
Wir haben uns erhoben, um zu versprechen, dass sich solches nie mehr wiederholt. Dafür wollen wir uns Tag für Tag einsetzen. Das versprechen wir.
Der Ort Auschwitz ist heute eine staatliche Gedenkstätte. Der Ort ist zu einem Ort des Gedenkens, aber auch der Aufklärung und der Erziehung zu Demokratie und Menschenrechten geworden. Auschwitz hat mehr als eine Million Besucher im Jahr. Es ist gut, dass viele Schulen dort hinfahren.
Vor 70 Jahren fanden die Soldaten der Roten Armee – das gehört auch dazu, egal, wie die Zeiten heute vielleicht aktuell politisch sind –, die durch ihr durch die Deutschen zerstörtes Land 2.500 Kilometer bis zur Oder gekommen sind, in Auschwitz auch Überlebende vor. Welche Gefühle werden sie gehabt haben? Man hatte Auschwitz geräumt und die Leute auf Todesmärsche geschickt. Die Mehrzahl von ihnen waren Frauen.
Wir haben dies zum Anlass genommen, um in diesem Jahr besonders an verfolgte Frauen zu erinnern, insbesondere an jüdische Frauen; denn die Verfolgung machte vor ihnen nicht halt. Frauen und Kinder hatten praktisch keine Chance.
Wenn ich in den „SPIEGEL“ dieser Woche schaue, lese ich immer wieder, wie das Verfahren war, und dass Dr. Mengele bei Frauen und Kinder sofort „links raus“ sagte und sie damit zum Vergasen schickte. Es gab keinen, der seine Stimme erheben konnte.
Meine Damen und Herren, am Anfang der NaziHerrschaft stand die Verfolgung politischer Gegner. Am 30. Januar 1933 schon hatte das Regime politische Gegnerinnen festgenommen. Eine davon war die KPDReichstagsabgeordnete Franziska Kessel aus dem ehemaligen Volksstaat Hessen, wie es früher hieß, die als Folge der erlittenen Folter erblindet war. Sie starb im Untersuchungsgefängnis Mainz, dem heutigen IsenburgKarree.
Das größte Frauenlager war das KZ Ravensbrück. Ich nenne die Namen der Reichstagsabgeordneten Elise Augustat und der Reichstagsabgeordneten Johanna Tesch. Sie starben in KZ-Haft. In Ravensbrück – wir haben die Ausstellung im Haus – waren überwiegend Kommunistinnen, Sozialistinnen, Pazifistinnen und „asoziale“ Frauen inhaftiert. Ein Fünftel der Gefangenen waren Juden. Es soll nach den Berichten von Überlebenden das Schrecklichste sein, was ein Mensch auf dieser Erde an Hölle erfahren kann.
Meine Damen und Herren, nun wende ich mich unserer Gastrednerin zu, Frau Ruta Wermuth-Burak. Sie ist als Überlebende in dreifacher Hinsicht für uns wichtig. Sie kann uns sagen, wie es war, und unter welchen Bedingungen sie überleben konnte. Sie ist Jüdin. Sie ist Polin, und sie war Zwangsarbeiterin. Ich will nicht vorwegnehmen, was Ihnen Ihre Lebensgeschichte abverlangt hat.
Sie ist in Kolomea aufgewachsen. Das gehörte früher zu Polen und gehört heute zur Ukraine. Das sind die kleinen Hinweise auf die Weltgeschichte; denn diese Menschen aus Polen sind später irgendwann in Schlesien gelandet. Sie waren Flüchtlinge wie andere auch. Frau Wermuth-Burak musste als Jugendliche Zwangsarbeit im pfälzischen Rülzheim im Landkreis Germersheim leisten.
Heute begrüßen wir auch den Ortsbürgermeister von Rülzheim, Herrn Reiner Hör. Seien Sie herzlich willkommen! Schön, dass Sie mitgekommen sind, um Frau Wermuth-Burak zuzuhören.
Es gibt ein Buch über die Lebensgeschichte von Frau Wermuth-Burak. Das Buch heißt „Im Mahlstrom der Zeit“.
Sie hat mir erzählt, dass sie von ihrem Haus aus die Schneekoppe sehen kann. Diese bildet im südlichen Polen die Grenze zum Nachbarland. Es ist der höchste Berg, der etwa 120 Kilometer südlich von Oppeln, unserer Partnerstadt und Woiwodschaft, liegt.
Liebe Frau Wermuth-Burak, wir danken Ihnen ganz aufrichtig, dass Sie die Strapaze auf sich genommen haben. Bei Damen sagt man kein Alter. Es ist schon ein außerordentliches Stück Arbeit, von Schlesien mit dem Flugzeug hierherzukommen. Wir danken auch dem Bistum dafür, dass es Frau Wermuth-Burak geholfen und unterstützt hat. Wir danken auch der eigenen Verwaltung für die Anstrengungen, um es Ihnen so angenehm wie möglich zu machen.
Auschwitz beginnt dort – so fing ich an –, wo geschwiegen wird und wo wir zu Unrecht nichts mehr sagen und bei Unrecht wegschauen. Wo müssen wir beginnen, tapfer zu sein? Ich habe kürzlich in der Zeitung gelesen, dass in Berlin jemand die Leute in der U-Bahn belästigt hat. Eine junge Frau ist aufgestanden und wurde dann niedergeschlagen. Keiner ist aufgestanden und stand ihr bei. Das geht einem schon nahe. Man weiß nur eines: Man hätte aufstehen müssen. Das wäre die richtige Reaktion gewesen.
Meine Damen und Herren, jeder von uns hat die Möglichkeit, für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte
Nun kommen wir zu dem eben angesprochenen Pfälzer Fotografen Martin Blume, der „Auschwitz heute“ fotografiert hat und dessen Bilder heute in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung an vielen Orten in Deutschland gezeigt werden. Wir tun es jetzt.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, vier Minuten Geduld zu haben und sich die Bilder anzuschauen. Als ich sie zum ersten Mal sah, war ich verwirrt. Vielleicht werden Sie es auch sein. Es werden Foto für Foto Assoziationen und Erinnerungen einsetzen, wenn Sie diesen furchtbaren Platz sehen.
Ich werde jetzt ein Zitat aus Goethes „Dichtung und Wahrheit“ lesen, welches ich als Motto für meine Lesung gewählt habe. Ich meine, es entspricht sehr gut meinem Schicksal: „(…), das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden seyn.“ –
Das war bei mir der Fall. Ich wurde einfach wie ein Hündchen am Genick gefasst und in den Mahlstrom des Krieges geworfen. Leider ist unsere Zeit begrenzt. Kurz so eine Geschichte wie die meine zu schildern, ist fast unmöglich. Darum hatte ich zu Hause lange überlegt, wie das doch zu machen sei. Ich bin mir im Klaren, dass Sie die Leute sind, die in diesem Land über so manche Rechte der Gesellschaft zu bestimmen haben. Darum, wenn ich auch schon alt und teilweise behindert bin, wie
Sie feststellen können, und die weite Reise für mich schwierig ist, beschloss ich, Ihre Einladung anzunehmen.
Nun bin ich hier und möchte mich entschuldigen und um Verständnis für mein unvollkommenes Deutsch bitten.
Um es irgendwie doch kurz zu machen, werde ich mich nur auf die meiner Meinung nach wichtigsten Geschehnisse aus meiner Geschichte begrenzen. Alles andere können Sie in meiner Biografie nachlesen, wenn Sie wollen.
Ich möchte nur erklären, dass meine Biografie im Polnischen heißt: Mir sind Menschen begegnet. – In Polen schreibt man die Nomen mit kleinen Buchstaben. Im Deutschen schreibt man sie mit großen Buchstaben. Ich habe speziell auch in Polnisch – das ist der Clou des Titels – die Buchstaben mit großen Buchstaben geschrieben, weil die Menschen, die mir begegnet sind, Menschen waren, die man mit großen Buchstaben schreiben kann.
Ich hoffe, dass Sie mir das nicht übel nehmen, wenn ich mir mit Spickzetteln und Lesungen aus meiner Biografie helfe.
Ich möchte nur noch bemerken, was in der Gegenwart ist, dass mit Mainz auch meine ganz anderen, sehr guten Erinnerungen verbunden sind, die sich auf die 1990iger-Jahre beziehen, nämlich die mit Dr. Stefan Heizmann, der leider verstorben ist, und den heute hier anwesenden Herrn Alois Bauer und seinen Mitarbeitern aus dem Bistum Mainz. Zusammen haben wir viele Schulen in der Region besucht, um für junge Leute über die Vergangenheit zu erzählen.
Ich begrüße auch herzlich die eingeladenen Gäste, zwischen denen auch meine ganz persönlichen Freunde sind, und ich freue mich auf die kurze Zeit, die wir zusammen verbringen können.
Nun zurück zu der schlimmen Vergangenheit: Geboren 1928 in einer kleinen Stadt an der Ostgrenze des damaligen Polens als die jüngste und einzige Tochter in einer fünfköpfigen jüdischen Familie habe ich bis 1939 eine glückliche und sorglose Kindheit gehabt. Hier darf ich mich bei der Musik bedanken, weil das eine Musik meiner Kindheit war. Danke schön.
Das aber änderte sich über Nacht mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges, als das Schicksal mich mit kaum elf Jahren in den grausamen Mahlstrom des Zweiten Weltkrieges geschleudert hat.
In Folge der Ribbentrop-Molotow-Vereinbarung geriet der Osten Polens – darunter also auch die Stadt, in der wir gelebt haben, Kolomea – unter die sowjetische Okkupation.
Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Wir, eine Kaufmannsfamilie, wurden durch die russischen Machthaber als Erzfeinde des kommunistischen Systems erklärt, über Nacht wurden das Hab und Gut enteignet, wir fast an die Straße gestellt und mit einer Aussiedlung nach Sibirien bedroht.