Protocol of the Session on January 27, 2015

................................................................................................................ 5702 Präsident Mertes:............................................................................................................................... 5697, 5704 Frau Wermuth-Burak................................................................................................................................... 5700

86. Plenarsitzung am 27. Januar 2015

aus Anlass des Gedenktages für die

Opfer des Nationalsozialismus

B e g i n n d e r S i t z u n g: 10:03 Uhr.

Gedenkworte für die Opfer der Terroranschläge

von Paris

des Landtagspräsidenten Joachim Mertes

Guten Morgen, meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist das erste Mal, dass der Landtag und die Landesregierung nach den terroristischen Anschlägen von Paris vom 7. Januar zusammenkommen. Viele Zeichen der Verbundenheit, der Trauer und des Gedenkens wurden bereits öffentlich gesetzt. Heute wollen wir gemeinsam der 17 Menschen, die bei diesen Anschlägen starben, und der Verletzten gedenken. Die ermordeten Menschen gehörten verschiedenen Religionen an, es waren Männer und Frauen muslimischen, jüdischen und christlichen Glaubens.

Dieser verabscheuungswürdige Anschlag war ein Angriff auf unsere Grundwerte, auf die Demokratie und die Freiheit, auf alles, wofür wir stehen und stehen wollen. Wir bekennen uns heute ausdrücklich zu diesen Grundwerten und bekunden unsere Solidarität mit unseren französischen Freunden, den Familien der Ermordeten und Verletzten und teilen ihre Trauer.

Der Terror wird keine Chance haben, wenn wir weiter konsequent für unsere Grundwerte einstehen und sie anwenden, mutig sind und gemeinsam bleiben, wenn wir die Freiheit und die Rechte verteidigen, die uns als Europäer verbinden. Freiheit ist ebenso wenig teilbar wie Gleichheit und ebenso wenig wie Brüderlichkeit. Das ist unser Erbe, und das ist auch unsere Zukunft. Diesen Weg weiterzugehen, sind wir den Opfern und uns selbst schuldig.

Ich bitte Sie, sich jetzt kurz von den Plätzen zu erheben, um der Opfer von Paris in einem Moment der Stille zu gedenken.

(Die Anwesenden erheben sich kurz von ihren Plätzen und nehmen danach wieder Platz)

Danke schön, vielen Dank.

Musik

Traditional

Oriental Hora – Gan Eydn

Arrangiert von Peter Przystaniak

„Colalaila“ classic

(Beifall im Hause)

Begrüßungsansprache

des Landtagspräsidenten Joachim Mertes

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muss ein paar formelle Sätze vorweg sagen. Ich eröffne hiermit die Plenarsitzung des Landtags Rheinland-Pfalz im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.

Die entschuldigten Kolleginnen und Kollegen gebe ich zu Protokoll, sodass das auch seine Ordnung hat.

Ich freue mich, dass Sie da sind, die Damen und Herren Abgeordnete, die Mitglieder der Regierung, allen voran Frau Ministerpräsidentin Dreyer.

Ich freue mich über unsere Gäste auf der Tribüne, und ich freue mich natürlich auch über Sie, unsere Musiker. Wir haben eben einmal kurz innegehalten und gefragt: Können wir denn eine so gut gemachte Musik ganz ohne Beifall hier hören? – Nein, das kann man nicht. Kunst verdient Anerkennung. Diese Anerkennung haben wir Ihnen ganz bewusst ausgedrückt.

Meine Damen und Herren, bei einer solchen Sitzung des Landtages haben wir zahlreiche Ehrengäste, zum einen den Vorsitzenden des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz, Herrn Avadislav Avadiev, mit dem ich verabredet hatte, dass wir vorweg an die Opfer von Paris denken.

Ich freue mich, dass Herr Adelbert Heilig und seine Frau Isolde, beide Überlebende des Holocaust und Mitglieder des Ältestenrates des Vorstandes des Verbandes deutscher Sinti und Roma aus Rheinland-Pfalz, bei uns sind. Grüßen Sie Herrn Delfeld, den wir sonst immer hier begrüßen können, ganz herzlich.

Ich freue mich, dass Herr Dieter Skala und Herr Dr. Thomas Posern, die Vertreter von katholischer und evangelischer Kirche beim Land, sowie der Mainzer Domdekan, Herr Heinz Heckwolf, bei uns sind. Herzlichen Dank, dass Sie gekommen sind.

Ebenso begrüße ich Herrn Wolfgang Faller als Vertreter der Landeszentrale für politische Bildung RheinlandPfalz.

Ich freue mich, dass der Bürgerbeauftragte, Dieter Burgard, bei uns ist, der auch die verdienstvolle Arbeit als Vorsitzender des Sprecherrats der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten- und Erinnerungsinitiativen leistet.

Ebenso freue ich mich, dass der Beauftragte der Landesregierung für Migration und Integration, Herr Miguel Vicente, sowie der Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Herr Dr. Lars Brocker, bei uns sind.

Zahlreiche ehemalige Abgeordnete sind bei uns. An ihrer Spitze darf ich stellvertretend Herrn Dr. Alfred Beth, den Präsidenten der Vereinigung ehemaliger Mitglieder des Landtags, begrüßen.

Für die Landeshauptstadt Mainz ist Frau Beigeordnete Marianne Grosse gekommen. Seien Sie herzlich willkommen!

Einen Gast begrüße ich jetzt ganz besonders. Monsignore Klaus Mayer ist Ehrenbürger dieser Stadt. Er hat das Schicksal, über das wir heute reden, persönlich erlebt. Er ist Zeitzeuge und Pfarrer in Sankt Stephan gewesen und hat es geschafft, die Chagall-Fenster dort hinzubringen und diese Kirche zur Friedenskirche zu machen und uns zur Chagall-Stadt. Schön, dass Sie bei uns sind. Wir freuen uns immer darüber.

Eben hat das Quartett „Colalaila“ classic gespielt, das wir in seinem Temperament und in seiner Form ganz besonders begrüßen. Meine Damen und Herren, diese Musik sollten wir nicht mehr hören; das war von den Nazis vor 80 Jahren vorgesehen. Sie sehen, was uns verloren gegangen wäre. Es gibt gleich zwei besondere Stücke. Peter Przystaniak hat zwei Motive der ChagallFenster von Sankt Stephan sozusagen vertont, und wir freuen uns darauf, das zu hören.

Schließlich begrüße ich den Pfälzer Fotografen Martin Blume, dessen Fotos wir nach meiner Rede sehen werden. Sie werden später auf die Wand projiziert, und sie sind ein bisschen verwaschen, glaubt man im ersten Moment, aber man entdeckt in dem Moment, in dem man es durchschaut und anschaut, dass alle diese Assoziationen von Auschwitz auf einmal von Bild zu Bild irgendwie näher kommen.

Meine Damen und Herren, ich begrüße im Wappensaal eine internationale Gruppe von Geschichtsstudentinnen und -studenten der Universität Mainz zu dieser Sitzung. Seien Sie herzlich willkommen! Wir freuen uns, dass Sie Interesse zeigen.

Meine Damen und Herren, Auschwitz beginnt dort, wo geschwiegen wird, dort, wo zugelassen wird, dass Menschen bedroht oder ausgegrenzt, stigmatisiert, gedemütigt, entrechtet oder verfolgt werden. Auschwitz beginnt im Grunde im Kopf bei dem, der den anderen nicht achtet. Heute ist es möglich, diese Entwicklung vom Ende und vom Anfang her zu betrachten. Heute wissen wir, warum der 27. Januar 1945 und der 30. Januar 1933, die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, der 9. November 1938, die Pogromnacht, und der 1. September 1939, der Einfall in Polen, und der 20. Januar 1942, die Wannsee-Konferenz, nicht voneinander getrennt werden können. Heute gedenken wir, weil Roman Herzog, unser ehemaliger Bundespräsident, diesen Tag zum Gedenktag bestimmt hat. Heute gedenken wir der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee vor genau 70 Jahren.

Im Dom ist eine Ausstellung zu sehen, die sehr genau beschreibt, wie die russischen Soldaten auf die Menschen stießen, die noch übrig geblieben waren: 7.000. – Es ist auch nicht so, dass die Tore offen waren oder die Schlüssel irgendwo lagen. Es gab immer noch Kampf. 243 Soldaten der Roten Armee sind dabei gefallen. Das ist sicher relativ unbekannt, ich wollte darauf hinweisen, damit man es einmal weiß. Es war früh morgens um 10:00 Uhr, ein nebliger Tag, Januar, kalt, nass, so wie heute. Sie gingen dann durch das Tor hinter den Sta

cheldraht und trafen auf eine Stätte des Leidens, der Folter und des Todes eines riesigen Ausmaßes: Allein die Lager I und II umfassten 40 Quadratkilometer. Das ist etwa das Stadtgebiet von Speyer.

Auschwitz – heute steht der Name dieser Stadt im Süden Polens als Symbol für den von den Deutschen begangenen Holocaust, für den Völkermord und den damit verbundenen größten Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte, den wir zu verzeichnen haben. In Auschwitz wurden mehr als eine Million jüdische Frauen, Männer und Kinder ohne Gnade und ohne Entrinnen ermordet. Es war ein Ort der Vernichtung durch Arbeit, Gewalt, Hunger und Gas.

Heute ist Auschwitz in Polen auch das Symbol für das Martyrium der Polen unter deutscher Besatzung. Die Polen hatten im Verhältnis zu ihrer Größe als Volk die meisten Opfer. Danach kommen schon die Luxemburger, unsere Nachbarn, im Verhältnis zur Größe ihres Volkes.

Über Auschwitz nachzudenken, heißt nachzuforschen. Heute, 70 Jahre nach dem Völkermord, weiß man noch lange nicht alles, und wir schon gar nicht, über den Völkermord in Osteuropa. Millionen Juden starben in den deutsch besetzten Gebieten in Polen, der Sowjetunion, dem Baltikum, Weißrussland und der Ukraine an Orten wie Minsk, Riga und Babyn Jar bei Kiew oder in der Nähe ihrer Wohnorte. Im Mainzer Dom findet eine Ausstellung statt. Der amerikanische Historiker Snyder hat dieses Land Bloodlands – „Blutland“ – genannt, ein Streifen von der Ostsee bis zur Krim.

Auschwitz steht heute für ein Lagersystem des nationalsozialistischen Staates mit über 42.500 Einzellagern. Eines davon war Hinzert. Das wird jeder in RheinlandPfalz kennen. Kennen wir auch die Arbeitslager in TreisKarden und an der Autobahn in Wittlich? Auch das gehört dazu.

Es gibt Konzentrationslager und Außenlager, wie Treblinka, Chelmo, Sobibór, Belzec, „Judenhäuser“, Kriegsgefangenen- und Zwangsarbeiterlager, Zwangsbordelle, Heime für spätere Opfer der sogenannten „Euthanasie“ und andere.

Das Schweigen hat Auschwitz und den Holocaust erst ermöglicht. Wir wollen nicht schweigen. Ich danke jedem Kommunalpolitiker – unter Ihnen befinden sich viele –, die in ihren Gemeinden helfen, dass Stolpersteine für die Opfer dazu führen, das Vorhaben der Nazis zu konterkarieren. Durch Stolpersteine werden den Menschen ihre Namen zurückzugeben. Man muss wissen, die Menschen mussten sich im Konzentrationslager mit ihrer Nummer melden. Sie hatten keinen Namen mehr. Für die Stolpersteine in unseren Gemeinden ist zu danken.

Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben:

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen)

Wir denken an Millionen Menschen: – an Frauen und Männer, – an Mädchen und Jungen,

an Säuglinge und alte Menschen, die an vielen Tausenden Orten in Europa verfolgt, gefoltert, gequält, beraubt und ermordet wurden.