................................................................................................................ 2566 Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hassemer:............................................................................................................... 2561 Präsident Mertes:......................................................................................................................................... 2559
41. Plenarsitzung am 27. Januar 2013 aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste, ich begrüße Sie alle und eröffne unsere Plenarsitzung am 27. Januar aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich weiß, dass es bei solchen Gedenktagen immer eine schwierige Frage ist, ob man applaudieren soll oder nicht. Ich habe es gerade auch im Mainzer Dom bei einer Ausstellung erlebt. Dann haben sich Herr Giebelmann, der Generalvikar, und ich uns geeinigt: Ja. – Wir applaudieren dann nämlich jemandem, der künstlerisch für uns etwas ganz Besonderes ausgesucht hat und diesem Ziel auch ganz genau entsprochen hat, indem er Herrn Gál gefunden hat, der vollkommen aus unserer Welt verschwunden ist, obwohl er in den 30er-Jahren in Mainz eine große Rolle gespielt hat. Das Werk, aus dem heute zwei Stücke gespielt werden, ist das zweite Streichquartett von Hans Gál aus seiner Zeit in Mainz. Er hat es 1929 komponiert!
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in drei Tagen vor genau 80 Jahren hat Hitler die Macht an sich genommen, bekommen von einem zwar greisen, aber handlungsfähigen Reichspräsidenten.
Meine Damen und Herren, als er sie einmal in der Hand gehabt hat, hat er all das gemacht, was er vorher beschrieben hatte. Es war nichts Überraschendes dabei. Es war genau angekündigt. Inhumanität als Teil der Staatsräson, Völkermord als Staatsziel, die Ausrottung von Menschen, die Entrechtlichung, all das ist vorher gesagt worden.
Wir, das rheinland-pfälzische Parlament, kommen schon lange am 27. Januar – und zwar exakt am 27. Januar – zusammen, um den Beginn der Verfolgung noch einmal ganz deutlich anzusprechen und daran zu erinnern. Wir haben auch in dieser KZ-Gedenkstätte damals zum allersten Mal begonnen. Ja, es hieß damals schon Konzentrationslager!
Voller Stolz haben es die Nazis noch in der Zeitung veröffentlicht und die wunderbare Anbindung mit der
Eisenbahn beschrieben. Man konnte nachlesen, dass Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christdemokraten, alle Gegner eben, hier versammelt worden sind.
Um ein anderes Beispiel zu nehmen, 60 Mitarbeiter der Gestapo in Koblenz haben vollkommen gereicht, einen ganzen Regierungsbezirk in Angst und Schrecken zu versetzen, den Widerstand zu lähmen. So war es hier auch.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns heute einen Redner eingeladen haben, der eine Verbindung hierher hat, dann ist es diese. Hier war ein gewisser Martin Hassemer. Er stammte aus Gau-Algesheim. Das liegt hier um die Ecke. Sein Sohn heißt Winfried Hassemer, Professor Dr. Winfried Hassemer, ehemaliger Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts. Wir sind froh, dass Sie gekommen sind; denn mit der Entrechtlichung der Menschen begann alles. Sie werden uns darüber einen Vortrag halten. Schön, dass Sie da sind!
Sein Vater war drei Wochen hier. Dies war kein Lager, das mit Auschwitz oder mit anderen vergleichbar war, aber das war der Beginn der Einschüchterung, des Prügelns, des Hungernlassens, des Alleinlassens der Familie, des Nichtwissens, was wirklich geschah. Das war hier.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass viele Abgeordnete zu dieser besonderen Plenarsitzung gekommen sind. Ich freue mich, dass die Vorsitzenden der Fraktionen da sind, Herr Hering, Frau Klöckner und Herr Köbler. Danke schön auch an alle anderen, die gekommen sind.
Ich freue mich, dass Frau Ministerpräsidentin Malu Dreyer unter uns weilt. Herzlich willkommen! Ich freue mich natürlich auch, dass der ehemalige Ministerpräsident Kurt Beck bei uns ist. Seien Sie ebenso herzlich willkommen!
Ich bitte Sie um Verständnis dafür, dass ich jetzt die Reihe der zu Begrüßenden durchgehe und Sie dann vielleicht erst am Ende mit einem freundlichen Beifall Ausdruck geben, dass Sie froh sind, dass wir zusammen sein können. Das wäre praktisch. Ich habe das auch zuvor bei mehreren Veranstaltungen gelernt. Insofern kann man das auch anwenden.
Zum einen freue ich mich, dass der Vorsitzende des Verbandes der Sinti und Roma, Herr Delfeld, und sein Stellvertreter, Romeo Franz, bei uns sind. Wir haben nicht nur sehr gute und vernünftige Arbeitsbeziehungen, mehr noch, wir haben Freundschaft miteinander geschlossen. Wir haben begriffen, dass wir in RheinlandPfalz zueinander gehören.
Ich freue mich natürlich auch, dass die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mainz und Worms, Frau Stella Schindler-Siegreich, und Herr Rabbiner Julien Soussan bei uns sind.
Ich freue mich, dass die dritte Gewalt bei uns ist, Herr Dr. Brocker als Präsident des Verfassungsgerichtshofes.
Wir haben internationale Gäste, nämlich Madame Christine, die Botschafterin von Ruanda. Sie hat mit uns einen kleinen Pakt geschlossen, dass wir das Aussprechen ihres Nachnamens gar nicht erst probieren müssen. Sie wissen aber, wie herzlich wir uns freuen, dass Sie da sind. Herr Hassemer, jetzt sehen Sie, wie die RheinlandPfälzer mit einem Problem umgehen.
Etwas leichter haben wir es mit dem französischen VizeGeneralkonsul, Herrn Stanislas Mrozek, ebenso mit Herrn Konsul Andrzej Dudzinski aus Polen. Herzlich willkommen! Ich glaube, Sie sind zum ersten Mal bei uns in einer öffentlichen Veranstaltung. Wir freuen uns, dass Sie da sind. Ich freue mich auch, dass die Vertreterin des amerikanischen Generalkonsulats, Frau Barbara Bloeth, bei uns ist.
Natürlich freue ich mich, die Vertreter der Kirchen begrüßen zu können, weil sie nachher durch das christlichjüdische Gebet diese Veranstaltung ganz besonders bereichern werden. Ich freue mich, dass der Weihbischof von Mainz, Herr Dr. Ulrich Neymeyr, bei uns ist sowie der Beauftragte der Evangelischen Kirchen im Lande Rheinland-Pfalz, Herr Kirchenrat Dr. Posern. Schön, dass Sie da sind. Ich weiß, mit diesem Hiersein verbindet sich auch ein Gruß des Kardinals. Das soll ich extra sagen, weil er ausrichten lässt, er hat keine Gelegenheit zu kommen. Aber er grüßt Sie alle mit.
Bei uns sind auch der Bürgerbeauftragte, Dieter Burgard, und der Beauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Edgar Wagner. Herzlich willkommen!
Meine Damen und Herren, eben haben Sie eine Musik gehört: Hans Gál. – Aus dessen Streichquartett in a-moll haben wir soeben einen Teil gehört. Er war gefeierter Komponist, und zwar auch in Mainz. 1933 war dann Schluss. Die Entrechtlichung, das Wegschieben von allem, was diese Menschen geleistet haben, das werden wir nachher noch im Einzelnen hören.
Ich freue mich ganz besonders, dass wir heute dieses Streichquartett von unserer Villa Musica hier präsentiert bekommen haben und Herr Professor Alexander Hülshoff die Noten ausgegraben hat. Das ist ein später Dank an den Menschen und Komponisten Hans Gál, der künstlerisch für uns Wertvolles geleistet hat.
Meine Damen und Herren, 1933 begannen hier im Lager Osthofen und überall im Deutschen Reich die Verfolgungen. Man kann es sich gar nicht vorstellen. Eben haben wir darüber geredet, wie wir uns bei einer solchen Brutalität, die wir gar nicht gewohnt sind, verhalten würden. Was würden wir für Gefühle haben?
Hitler und seine Schergen haben zwölf Jahre gebraucht, Deutschland an allen Ecken in Brand zu stecken, Europa in Brand zu stecken. Wir versuchen jetzt, in Europa einen neuen gemeinsamen Weg mit unseren Nachbarn zu schaffen. Es ist aber schon bemerkenswert, wie schwer wir alle daran zu tragen haben, was in deutschem Namen gemacht worden ist. Es waren zu Viele dafür. Es waren zu Wenige dagegen. Das muss man einfach feststellen.
Es hat auch lange gedauert – und Roman Herzog sei ganz besonders gedankt, dass er es gewagt hat. Es war in Deutschland nicht einfach, ein Wort zu sagen „Die Rote Armee hat Auschwitz befreit“. Das war überhaupt nicht einfach. Aber er hat es gemacht. Seitdem ist dies ein Gedenktag bei uns. Am 27. Januar wurde nämlich das KZ Auschwitz – die unglaublichste Form, Menschen zu vernichten – befreit. Danach haben Leute gefragt: Kann man eigentlich nach Auschwitz noch Gedichte schreiben?
Wir sind zu dieser Plenarsitzung zusammengekommen, um die Opfer zu ehren – das findet jetzt im Lande bei vielen Veranstaltungen statt –, die einzige Ehre, die wir all diesen Menschen noch spät geben können. Ich bitte Sie jetzt, sich von den Plätzen zu erheben.
Meine Damen und Herren, wir denken an Frauen und Männer, an Mädchen und Jungs, an Menschen, die auch sehr oft nur mit Etiketten vorgetragen werden, an Juden, an Sinti und Roma, an slawische Völker, an Minderheiten, an Zwangsarbeiter, an politische Gefangene.
Das waren Menschen. Sie hatten Träume. Sie hatten Familie. Sie hatten kleine Kinder. Man hat sie weggenommen.
Wir denken an Christdemokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten, Gewerkschafter, an Zeugen Jehovas, an Behinderte, an geistig Behinderte, an Kranke, an Homosexuelle und alles, was die Nazis sich als „rassisch entartet“ vorgestellt haben.
Wir denken an Kriegsgefangene. An der A 48 wird heute ein Denkmal enthüllt werden, mit dem deutlich wird, dass Kriegsgefangene – darunter auch sehr viele Nachbarn aus Luxemburg – begonnen haben, im Krieg die Autobahn zu bauen, die wir heute A 48 nennen.
Machen wir uns klar: Diese Menschen hatten solche Träume, wie wir sie haben. Sie wollten so leben, wie wir leben, aber sie sind ermordet worden. Es waren eben Frauen und Männer, Mädchen und Jungen.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit dem Erheben und dem Respekt klar machen: Nie wieder! – Unser „Nie wieder!“ ist natürlich nicht das „Nie wieder!“ von damals. Es ist das „Nie wieder!“ von heute, wenn wir in einem Bus sind und irgendjemand geschmäht wird, weil er brauner aussieht als wir, weil er dunklere Haare hat als wir, weil er schlichtweg Ausländer ist. Da fängt unser „Nie wieder!“ an. Ich weiß, ich habe gut reden. Wann sitze ich denn einmal in einem Bus? – Ich weiß. Und dennoch, es gibt tausend Gelegenheiten, bei denen wir beweisen können, unser „Nie wieder!“ heißt: Wir lassen nicht mehr zu, dass andere Menschen geschmäht werden wegen Hautfarbe, Form des Redens, Herkunft. – Alles das wollen wir nicht mehr zulassen. Wir wollen nicht mehr zulassen, dass Menschen so wie hier der
Willkür von Bewachern vollkommen ausgeliefert sind, dass sie verprügelt werden dürfen, dass sie auf dem blanken Boden schlafen müssen. Wir wollen nicht haben, dass jemand Angst haben muss um seinen Mann, um seine Frau, um seine Kinder. Alles das wollen wir nicht mehr haben, weder hier noch anderswo.
Meine Damen und Herren, wir wissen genau, dass wir das mit dem Anderswo so einfach gar nicht schaffen. Aber wenn wir wegschauen und uns nicht engagieren, dann haben wir das „Nie wieder!“ nicht verstanden.
Ich weiß, dass bei solchen Fragen in uns zwei Seelen toben: Muss sich Deutschland da einmischen? Haben wir nicht genug mit uns selbst zu tun? – Ich will heute diesen Tag nicht dazu nutzen, darüber zu reden, aber den Gedanken muss ich Ihnen schon vorlegen und sagen: Wir müssen darüber nachdenken, wie wir dann intervenieren. –
Meine Damen und Herren, ich komme nun auf diese Gedenkstätte zu sprechen. Das hier ist sozusagen noch der „schönste“ Raum. Wenn wir in diese Halle hinübergehen, in der wir schon einmal waren und in der wir auch vor Kälte gezittert haben und in der wir sozusagen auch die Angst gespürt haben, dann wissen wir, warum wir diese Gedenkstätte erhalten müssen.
Ich danke ganz besonders Herrn Dr. Dieter Schiffmann und dem Leiter dieser Gedenkstätte, Herrn Uwe Bader, die uns diese Gedenkstätte über die Jahre nahegebracht haben, damit viele Kinder, Schülerinnen und Schüler hierherkommen. Ich freue mich auch, dass ich den Vorsitzenden des Fördervereins Osthofen, Herrn Volker Gallé, begrüßen darf.
Meine Damen und Herren, das sind die Ehrenamtlichen, die außerhalb der Gedenktage dafür sorgen, dass es hier möglich ist, Dinge zu sehen, zu verstehen und weiterzutragen, die wir vielleicht nicht jeden Tag sehen können. Aktuell wird ein Film – ich bin ganz interessiert, und ich bin sicher, viele von Ihnen auch – über die Philosophin Hannah Arendt gezeigt. Ich habe erste Auszüge gesehen, und da ist mir schon klargeworden: Den musst du sehen, weil diese Frau in der Tat auch in meinem Leben insoweit eine Rolle spielte. –
Das war die Zeit, in der ich anfing, politisch zu werden. Da gab es den Eichmann-Prozess. Es war für mich vollkommen unverständlich, wie so ein „kleiner“ Mann – ich will es jetzt nicht übertreiben, aber nicht so sehr bedeutend, imposant oder charismatisch – in der Lage war, das zu organisieren, was das schrecklichste Verbrechen im 20. Jahrhundert ist. Er war es.