Das war die Zeit, in der ich anfing, politisch zu werden. Da gab es den Eichmann-Prozess. Es war für mich vollkommen unverständlich, wie so ein „kleiner“ Mann – ich will es jetzt nicht übertreiben, aber nicht so sehr bedeutend, imposant oder charismatisch – in der Lage war, das zu organisieren, was das schrecklichste Verbrechen im 20. Jahrhundert ist. Er war es.
Dieser Satz vom gedankenlosen kleinen Bürokraten ist bei ihr umgeschlagen in „Banalität des Bösen“. Es hat lange gedauert, bis wir das akzeptiert haben, aber mit der „Banalität des Bösen“ ist auch gemeint, das, was wir tun oder was wir nicht tun, kann ganz banal sein. Es muss nicht immer das Heroische sein. Es kann das Wegschauen sein, das Sich-nicht-Interessieren, das Türeschließen, wenn etwas auf der Straße geschieht. Und gegen das Böse gibt es eben nur eines, aufzustehen.
Unsere Gedenkstätten sind in diesem Sinne „Denkstätten“. Wenn Sie einmal in Hinzert waren – auch da versammelte sich der Landtag bereits –, stehen da auf dieser windigen Höhe, stellen Sie sich vor, dort standen Menschen, nicht wie wir bekleidet. Stellen Sie sich vor, wie heute Luxemburger und auch die Wallonier, die Franzosen, die Belgier in ihren Uniformen – jetzt alles alte Männer über 80 –, die im Widerstand waren, immer noch Tränen darüber haben, was ihnen hier geschehen ist.
Meine Damen und Herren, ich wollte Sie mit diesen Worten hier begrüßen und die Sitzung hier eröffnen, weil es dem rheinland-pfälzischen Landtag wichtig ist, die Verbrechen der Nazi-Zeit nicht dem Vergessen anheimzugeben. Sie sind gekommen und beweisen uns die Unterstützung dieses Anliegens.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! „Wir, Wilhelm Bischel, Peter Kneib und ich, Mitglieder der Sturmschar Gau-Algesheim, fuhren mit unseren Rädern sonntags nach Osthofen, um Martin Hassemer zu besuchen. Ein SS-Mann brüllte uns vor dem KZ an, was wir hier suchten. Als wir nach Martin fragten, wurde er wütend und trat Wilhelm Bischel, unserem Bezirksvorsitzenden, in den Hintern. Ich wäre am liebsten abgehauen. Aber wir wurden jetzt in das Lager geführt und Martin wurde geholt. Wir mussten uns an einen langen Tisch setzen, hinter uns SS-Leute mit geschultertem Gewehr. Wir brachten vor Angst kaum ein Wort heraus. Ich war damals der Jüngste in der Sturmschar des Jungmännerverbands, noch keine 14 Jahre alt.“
Das erzählte im Jahr 1984 Ludwig Faust dem Pfarrer Dr. Ludwig Hellriegel, der es in einer Dokumentation über „Widerstand und Verfolgung in den Pfarreien des Bistums Mainz 1933 bis 1945“ veröffentlicht hat.
Martin Hassemer war mein Vater. Über ihn vermerkt der Chronist: „Martin, geboren 1912, war Vorsitzender des Jungzentrum und Leiter im Katholischen Jungmännerverband Gau-Algesheim. Er hatte sich wochenlang verstecken können und wurde schließlich doch noch im Sommer 1933 verhaftet und drei Wochen im KZ Osthofen festgehalten.“
Mir hat mein Vater über diese drei Wochen fast nichts erzählt. Ich glaube, ich bin keine Ausnahme. Er hat immer abwiegelnd betont, dass Osthofen zu diesem Zeitpunkt kein Typ von KZ gewesen sei, wie es sich für die Konzentrationslager in unsere Köpfe und unsere
Herzen eingebrannt habe, er außer Prügeln körperlich nicht verletzt wurde und richtig schlimm eigentlich nur gewesen sei, dass er nach seiner Freilassung als junger Mann keine Chance auf Arbeit oder Ausbildung gefunden habe und ihn Bewohner aus Gau-Algesheim geschnitten und beleidigt hätten.
Im Rahmen von Überlegungen über Bestand und Zerschlagung des Rechts ab 1933 sind das Quisquilien. Es ist kein Blut geflossen, und die Freiheitsberaubung hielt sich in Grenzen.
Mein Vater durfte tröstlich die Freundschaft erfahren, die ihm auf dem Fahrrad entgegengebracht wurde. Einer dieser drei „Weisen aus dem Morgenlande“, übrigens mein Onkel, Wilhelm Bischel, war nach der Nazi-Zeit für lange Jahre Bürgermeister von Gau-Algesheim, einer – wie Sie alle wissen – kleinen, aber feinen Stadt nicht weit vom Rhein. Sein Sohn, Rupertus Bischel, ist heute ebenso anwesend wie meine beiden Brüder Volker und Raimund.
Und dennoch lässt die kleine Geschichte aus Osthofen wie unter einem Brennglas die Spur erkennen, die zur späteren Erosion des Rechts führt, zum Verfall der Verbürgungen, Versicherungen und Verheißungen, ohne die man eine funktionierende Ordnung nicht „Recht“ nennen kann.
Die Ordnung der Nationalsozialisten hat über lange Jahre immerhin praktisch funktioniert – viel zu lange und viel effektiver, als das der Politik zu Zeiten von Weimar gelungen war.
Diese Spur, die später zur Zerrüttung des Rechts führen wird, lässt sich benennen. Sie hat ihre Grundlage in der Verwirrung und Verunsicherung derer, die von der braunen Gewalt bedroht waren in ihrer Unfähigkeit, sich verlässlich im Heute und Morgen zu orientieren.
Ohne Recht waren sie schlicht ausgeliefert. Sie wurden, wie mein Vater, in vielerlei Hinsicht verletzt – Herr Mertes hat es vorhin schon angedeutet –: in ihrem Vertrauen auf morgen, in ihren Lebensperspektiven, in ihrem Gefühl für Gerechtigkeit und am Ende auch in ihrer Würde. Der „aufrechte Gang“, den Biologen und Philosophen für ein Kennzeichen des entwickelten, des freien Menschen halten, dieser „aufrechte Gang“ mag unter der Last solcher Verletzungen nicht mehr allen gelingen.
„Er trat ihm in den Hintern“ und „Wir brachten vor Angst kaum ein Wort heraus“ – diese deftige Beschreibung des 13-jährigen Ludwig Faust beleuchtet nicht nur das natürliche Gewaltverhältnis zwischen Alt und Jung, zwischen Stark und Schwach, sondern auch das Gewaltverhältnis zwischen Bürger und Staat dann, wenn es kein gerechtes oder kein funktionierendes Recht mehr gibt.
Dass der junge Wilhelm Bischel bei seinem Besuch in Osthofen nicht zum ersten mal einen Tritt in den Hintern bekommen hat und vor Angst verstummt ist, wird man getrost annehmen dürfen. Meinen kindlichen Erfahrungen jedenfalls widerspräche das nicht. Allein darin wird das Problem nicht gelegen haben. Dazu musste noch mehr zusammenkommen:
Es war wohl dieser Widerspruch zwischen vertrauensseliger Freundlichkeit der Jungen und der abrupten grotesken Antwort der Gewalt. Sie waren gekommen, um einen Freund zu besuchen, und wurden getreten und eingeschüchtert. Es war in dieser Szene völlig klar, wer Herr im Ring ist. Für die einen gab es keinen Anlass, zu reden oder gar sich zu rechtfertigen, und für die anderen gab es keinen anderen Ausweg, als zu zittern und zu flüchten.
So sieht sie am Ende aus, die Spur einer zerrütteten Rechtsordnung: freche, spontane Gewalt, in der satten Gewissheit der Herrschenden, den anderen überlegen zu sein und das auch zu bleiben; Ratlosigkeit, Sprachlosigkeit, kreatürliche Angst und Resignation der Opfer; Schweigegebote für alle und die Pflicht, sich notfalls zu verstellen; Selbstrechtfertigung und Unterwerfung der Schläger in einer militanten Struktur gegenüber denen, die auch dazugehörten, nicht aber gegenüber der Allgemeinheit.
Man spürt, zerrüttet war nicht nur die Rechtsordnung, zerrüttet war auch die Gesellschaft, das Zusammenleben der Menschen. Das eine hat mit dem anderen zu tun. Das werde ich noch genauer begründen.
Das ist die breite Spur, die in die Erosion des Rechts führte. Die Einzelheiten, aus denen sich diese Spur, die zur Zerschlagung des Rechts ab 1933 führt, zusammensetzt, sind uns allen bekannt. Dazu gibt es nichts Neues vorzutragen.
Forschung und Medien haben in den letzten Jahrzenten ihren Teil dazu beigetragen, dass sich hierzulande – ich betone hierzulande – die Kenntnis dessen verbreitet und vertieft hat, was die Nazis angerichtet und die anderen ertragen haben.
Ich rufe diese Erinnerungen, soweit sie das Recht betreffen, deshalb nur kurz und exemplarisch in Erinnerung, damit sich das Bild vor Ihrem geistigen Auge noch einmal ausbreiten kann, das Bild, das doch schon in Ihrem Kopf ist. Dieses Bild rufe ich an den vier klassischen Rechtsgebieten herauf: Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Straf- und Polizeirecht und am Ende auch Zivilrecht.
Dem Verfassungsrecht, das die rechtliche Ordnung begründen, der politischen Welt ihren Platz zuweisen und den Menschen ihre fundamentalen Rechte verkünden und sichern soll, diesem Verfassungsrecht wurden frühzeitig die Zähne gezogen. Statt eines streitenden und am Ende entscheidenden Gremiums, wie der Landtag von Rheinland-Pfalz, mutierten die Parlamente zu einem Theater, in dem immer wieder das Stück von bedingungsloser Einigkeit, kämpferischer Entschlossenheit und Weihrauch aufgeführt wurde.
Die Institutionen, wie etwa Polizei oder Wirtschaftsaufsicht, die ein moderner Staat braucht, wanderten – soweit sie nicht zerschlagen wurden – unter den großen Schirm der Partei und verloren dort ihren Eigensinn, der sich neben anderem eigentlich auch auf die Kontrolle dieser Partei erstreckt hätte.
Das Verwaltungsrecht und die Verwaltungsgerichtsbarkeit fanden alsbald nach der Machtergreifung nicht mehr statt oder bedienten doch jedenfalls nicht mehr die Aufgaben, derentwegen sie eigentlich in der Welt sind, nämlich die Kontrolle der Macht und der Machtausübung im Innern.
Es ist vielleicht überraschend, aber wohl zutreffend, ausgerechnet ein funktionierendes Verwaltungsrecht als Garanten eines Rechtsstaats anzusehen, ich aber sehe das so. Man stelle sich nur diesen gewaltigen Schritt hin zu Gerechtigkeit und Freiheit vor: Mithilfe des Verwaltungsrechts konnten Bürgerinnen und Bürger gegen den Staat, gegen den Leviathan, Recht bekommen!
Darum ging es auch hier: Mit fremder, gar mit gerichtlicher Kontrolle konnte der Nationalsozialismus natürlich überhaupt nichts anfangen. Stattdessen bliesen die Nazis diesen Pfeiler eines jeglichen Rechtsstaats zu einer Sozial- und Politfolklore auf, die ihnen nicht wehtun konnte: Verwaltungsrecht diene der Neugestaltung des völkischen Gemeinschaftslebens und mache die nationalsozialistische Weltanschauung bei der praktischen Gestaltung des deutschen Lebens wirksam, so tönte es.
Viel schönes deutsches Leben, viel dichter Nebel und was für ein Unsinn. Hinter diesem Schirm konnten Polizei, Geheimdienste und Blockwarte ihre „segensreichen“ Tätigkeiten ungestört entfalten.
Strafrecht und Polizeirecht waren den Nazis ein inniges Anliegen – geht es doch vor allem dort um ihr Mantra: um Gewalt und Ordnung. Auch hier war bei ihnen die „Weltanschauung“ ein Wegweiser. Er zeigte eindeutig auf den Rückbau lästiger Schranken staatlicher Macht, etwa des alten Bestimmtheitsgebots, und setzte stattdessen das „gesunde Volksempfinden“ auf den Thron, also das, was die Herrschenden jeweils als „Volksempfinden“ verkünden mochten.
Sie begannen, sich wissenschaftlich und politisch auf die Personen des Verbrechers und des Störers zu konzentrieren, aber nicht, um denen besser gerecht zu werden, sondern um die Gefahren schneller herauszubekommen, die in ihrer Einschätzung von diesem Menschen ausgehen. Sie brutalisierten Strafen und andere Eingriffe und vor allem: Sie klopften die Beschreibung der Tatbestände weich, um mit ihnen härter und unkontrolliert zuschlagen zu können.
Sie schufen unterschiedliche Rechtsordnungen für Teile der Bevölkerung und damit gleichheitswidrige Sonderrechte, und sie etablierten unterhalb des Strafrechts, da es ihren Bedürfnissen im Einzelfall nicht weit genug entgegenkam, weitere Gewaltregimes für diejenigen, die durch die Reusen von Strafrecht und Polizeirecht hindurch gekommen waren. So wartete auf viele Menschen nach dem Freispruch vor Gericht oder nach der Strafverbüßung das KZ – mit weniger Regeln und mit mehr Gewalttätigkeiten. Eine teuflische Konstruktion.
Selbst im Zivilrecht, dem in seinen Ausprägungen von Familienrecht über das Erbrecht bis zum Handelsrecht weniger Blutgeruch anhaftet als dem Straf- und Polizeirecht, waren die nationalsozialistischen Spuren gut
sichtbar. Verachteten Volksgruppen wie etwa den Juden wurde die geschuldete Gleichberechtigung verweigert, und viele Gerichte schurigelten sie nach Belieben.
Auch unterhalb der Schwelle des Rechts, etwa im Bereich der Sozialmoral, zerbrachen die Regeln der Anständigkeit, wenn Opfer sich gezwungen sahen, ihr Eigentum hastig und unter Wert an „Volksgenossen“ zu verschleudern oder diesen auf dem Bürgersteig auszuweichen und ihnen Platz zu machen.
Diese Einzelheiten der Zerschlagung des Rechts zeigen freilich nur die Vorderseite der Entwicklungen und Ergebnisse – und das auch nur beispielhaft. Was sich wirklich getan hat, im Kern des deutschen Rechts, lässt sich besser sehen, wenn man sich die Strukturen anschaut, die zu den Einzelheiten geführt haben. Auch das geht hier natürlich nicht ab ohne Vereinfachung und Typisierung.
Drei Strukturen sind es, auf die ich mich konzentriere. Ich nenne sie „Formalisierung“, „Freiheitlichkeit“ und „Sozialmoral“ und will damit im Ergebnis dreierlei zum Ausdruck bringen:
„Zerschlagung des Rechts“ meint vor allem Entformalisierung des Rechts, meint das Abwerfen von Fesseln und das Einreißen von Schranken.
Das Prinzip der Freiheitlichkeit verbietet es dem Gesetzgeber und der Justiz, die scharfen Instrumente des Rechts gegen das legitime Freiheitsinteresse der Bürgerinnen und Bürger einzusetzen, und gebietet ihnen, Freiheit zu gewähren und zu schützen.
Der Blick auf soziale Normen soll sichtbar machen, dass sich die Erosion des Rechts nicht nur im abgedunkelten Raum der Gesetze und nicht nur in den Gerichtssälen vollzogen hat, sondern auch in den Köpfen und Herzen der Menschen.
Diese drei Strukturen möchte ich Ihnen an drei Beispielen greifbar machen: die Formalisierung an einem der schlimmsten Höhepunkte ihrer Verletzung, nämlich der Einsetzung der Geheimen Staatspolizei; die Freiheitlichkeit an der Religionsfreiheit und die Sozialmoral an den Chancen von Toleranz und Solidarität im modernen Recht.
Den Nationalsozialisten waren Formalisierung des Rechts und Freiheitlichkeit ein Dorn im Auge. Sie haben beides von Anfang bis Ende ihrer Zeit bekämpft und verletzt. Die ideologische Besetzung der Sozialmoral – die Köpfe der Menschen – ist ihnen weitgehend und frühzeitig gelungen. Dies war und ist der Grund dafür, dass das deutsche Volk im Frühjahr 1945 nicht erobert wurde, sondern befreit.
Zuerst komme ich zur Formalisierung. „Das Recht möchte formal sein“ hat der amerikanische Rechtsphilosoph Stanley Fish jüngst getitelt, und wenn man ihn wohlwollend liest, hat er recht. Ich behaupte, dass ein entformalisiertes Recht keines ist und dass die Zerschlagung des Rechts im Wesentlichen in dessen Entformaliserung bestanden hat.
Das Recht möchte formal sein, weil es sich ohne Formalisierung von seiner dunklen Schwester, der Gewalt, nicht abgrenzen kann. Ein jedes Recht ist zur Gewalt fähig und stützt sich am Ende auf Gewalt; selbst das kühle Zivilrecht braucht einen Gerichtsvollzieher. Wenn Bundesverfassungsrichter darauf hinweisen, sie hätten gar keinen Gerichtsvollzieher (und damit leise und stolz zum Ausdruck bringen wollen, sie bräuchten ihn ja auch nicht, weil alle ihren Urteilen sowieso folgen), so ist das nur an der Oberfläche richtig und ansonsten eine fromme Täuschung: In einem Rechtsstaat und in einer Mediengesellschaft wie der unseren gibt es hinreichend viele Regeln und Mechanismen, die zur Durchsetzung des Rechts wenigstens eine stille Gewalt in Aussicht stellen.
Formalisierung des Rechts ist eine notwendige Voraussetzung einer Kontrolle. Sie meint Klarheit des Gesetzes und Offenheit seiner Durchsetzung, sie meint Begründungspflichten, sie meint Einrichtung, Effizienz und Zugänglichkeit von Rechtsbehelfen, kurz: Sie meint die Bindung des Rechts an Regeln und die Chancen der Bürgerinnen und Bürger, diese Regelbindung erfolgreich einzuklagen. – Gewalt lässt sich nur beherrschen, wenn das Recht zugleich mächtig ist und gebunden. Mächtig, um sich gegenüber jeglicher Bedrohung von Wahrheit und Gerechtigkeit zu behaupten; und gebunden, um nicht selbst zur Bedrohung von Wahrheit und Gerechtigkeit zu werden. Man sieht: Ein formalisiertes Recht ist anstrengend, es ist aufmerksam und immer unterwegs.