4. Inwieweit erwägt die Landesregierung eine Flexibilisierung des Systems der Ganztagsschule, sodass auch dauerhaft ehrenamtliches Engagement von Schülerinnen und Schülern möglich bleibt?
Herr Präsident, meine Damen und Herren Abgeordnete! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung. Bewegung, Spiel und Sport prägen die außerunterrichtlichen Zusatzangebote in der Ganztagsschule in besonderer Weise. Dies wurde durch die jüngst vorgestellte – sehr geehrter Herr Abgeordneter Ernst, vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur finanzierte – Thieme-Studie eindrucksvoll bestätigt. 98 % aller Ganztagsschulen machen neben dem Sportunterricht sportliche Angebote, zwischen 20 % und 30 % aller Angebote sind Sport- und Bewegungsangebote und machen damit einen wesentlichen Bestandteil des Ganztagsschulkonzeptes aus. Über zwei Drittel der Ausbilder haben eine Qualifikation als A-, B- oder C-Trainerin und -Trainer, fast 80 % der Vereine sind mit der Kooperation zufrieden oder sogar sehr zufrieden.
Zu Frage 1: Die Zahl der Ganztagsschülerinnen und Ganztagsschüler hat sich trotz zurückgehender Schülerzahlen an den entsprechenden Standorten weiter er
Ich nenne Ihnen jetzt jeweils als Erstes die Zahl der Schülerinnen und Schüler an den Ganztagsschulen insgesamt, als Zweites die Zahl der Ganztagsschülerinnen und -schüler, die an Schulangeboten teilnehmen, und als Drittes die entsprechende Prozentzahl.
Im Schuljahr 2007/2008 hatten wir insgesamt 102.543 Schülerinnen und Schüler an den Ganztagsschulen, und 29.776 Schülerinnen und Schüler haben am Ganztagsschulangebot teilgenommen. Dies entspricht 29,04 %.
Ich könnte Ihnen nun die Zahlen für jedes Schuljahr bis zum Jahr 2012/2013 nennen, ich kann aber auch die voraussichtliche Zahl im Schuljahr 2012/2013 nennen.
Im Schuljahr 2012/2013 sind voraussichtlich insgesamt an den Ganztagsschulen 177.081 Schülerinnen und Schüler, an den Angeboten nehmen voraussichtlich 63.055 Ganztagsschülerinnen und -schüler teil, und dies entspricht 35,6 %. Dies sind aber nur voraussichtliche Zahlen.
Zu Frage 2: Die Thieme-Studie – wie bereits erwähnt, vom Ministerium finanziert und gemeinsam vom Landessportbund und vom Ministerium in Auftrag gegeben – stellt zunächst fest, dass nahezu alle Ganztagsschulen zusätzliche sportliche Angebote vorhalten. Das ist ein toller Wert, der die erfolgreichen Anstrengungen aller Beteiligten in diesem Bereich ausdrücklich bestätigt.
Die Thieme-Studie empfiehlt dem Bildungsministerium, Sportvereinen einen Vorrang bei der Kooperation mit Ganztagsschulen einzuräumen. Bereits im Januar 2012 sind dieser Empfehlung entsprechend alle Ganztagsschulen aufgefordert worden, mit Sportvereinen vertragliche Vereinbarungen über den Einsatz in ihrem Angebot zu treffen. Der Sportverein und nicht die Einzelperson soll erster Ansprechpartner für alle sportlichen Aktivitäten sein. Gemeinsame Fachtagungen von Vereinen und Schulen werden dies deutlich machen. Eine erste Fachtagung organisierte der Rheinhessische Turnerbund am 11. September 2012, andere Verbände werden diesem Beispiel folgen.
Aus der Studie und auch aus den Rückmeldungen der Vereine geht hervor, dass diese oft keine Möglichkeit haben, Übungsleiterinnen und Übungsleiter in ausreichender Zahl zur Verfügung zu stellen. Es fehlen sogar Kapazitäten für die Vereinsarbeit. Daher greifen Ganztagsschulen auf Einzelpersonen zurück, obwohl sie auch daran interessiert wären, Sportvereine vertraglich zu binden, da diese attraktive Angebote machen und auch etwaigen Vertretungsbedarf abdecken können.
Zu Frage 3: Die Thieme-Studie führt aus, dass die Fülle der verfügbaren Freizeitangebote so enorm angewachsen sei, dass Kinder und Jugendliche teilweise die Qual der Wahl hätten und der Sport sich in einem harten Konkurrenzkampf befinde. Deutlich wird, dass die Ganztagsschule diese Situation nicht verschärft. Vereine sehen die Kooperation positiv, wenn es gelungen ist, diese auszubauen. Sie sind dann auch erfolgreich in der Mitgliedergewinnung und betrachten sich als Gewinner
der Kooperation. Die Schulen bezeichnen sich ebenfalls als Gewinner der Kooperation. Im Übrigen verweise ich auf die Ausführungen in meiner Vorbemerkung.
Zu Frage 4: Die Festlegung von acht Zeitstunden pro Ganztagsschultag ist erforderlich, um verbindliche unterrichtliche Veranstaltungen, Projektarbeit, Lernzeit, Fördermaßnahmen und Freizeitgestaltung in einen den Bedürfnissen der Kinder entsprechenden Rhythmus zu bringen. Besonders wichtig ist dabei, dass gerade die von Eltern gewünschte Ganztagsklassenbildung ermöglicht wird. In solchen Klassen findet an vielen Standorten auch Pflichtunterricht an Nachmittagen zwischen 15:00 Uhr und 16:00 Uhr statt. Eine Befreiung zwecks Teilnahme an außerschulischen Aktivitäten in dieser Zeit ist daher nicht möglich. Im Übrigen gelten bei besonderen Anlässen die Freistellungsregelungen nach den Schulordnungen, zum Beispiel § 38 ÜSchO.
Ehrenamtliches Engagement und Ganztagsschule schließen sich nicht aus. Schülerinnen und Schüler entdecken ihre Interessen und Neigungen, wenn sie an den Angeboten von Sportvereinen, Musikschulen, Chören, Orchestern, caritativen Einrichtungen etc. teilnehmen. Sie entscheiden sich dann auch für das entsprechende außerschulische Engagement.
Frau Ministerin, wie steht das Land beim Ganztagsschulangebot im Vergleich zu den anderen Bundesländern da?
Diese Frage gibt mir natürlich die Möglichkeit, ein flammendes Plädoyer für die Ganztagsschule zu halten.
Ich könnte sagen, hervorragend, und die Entwicklung vor allen Dingen in den westdeutschen Flächenländern zum Ausbau von Ganztagsschulen hat nun nachweislich ihren Ausgangspunkt in Rheinland-Pfalz.
Wenn Sie es etwas differenzierter wissen möchten, würde ich Folgendes sagen: Wenn man sich die bundesweiten Statistiken ansieht, in denen rein auf die Quoten der Beteiligung abgestellt wird nach den Kriterien, wie sie bundesweit festgelegt sind, befindet sich Rheinland-Pfalz nicht an der Spitze; denn die bundesweiten Kriterien nehmen auch offene Angebote mit auf, an
denen ein Kind einmal pro Woche am Nachmittag teilnimmt und bei denen es nur Angebote bis um 14:30 Uhr oder 15:00 Uhr gibt, und all das findet sich auch in der Statistik wieder.
Aber ich sage Ihnen, ich empfinde auch das als einen Fortschritt, weil es Eltern ermöglicht, Beruf und Familie besser miteinander zu vereinbaren, und Kindern ein sinnvolles Freizeitangebot unterbreitet.
Aber das rheinland-pfälzische Ganztagsschulkonzept war von Anfang an ein deutlich anspruchsvolleres: Verlässlichkeit an mindestens vier Tagen in der Woche bis 16:00 Uhr, verbindliche Teilnahme der Schülerinnen und Schüler, nicht nur additive Angebote, sondern ein integriertes pädagogisches Konzept. Mit dieser Ausgestaltung von Ganztagsschulen sind wir nach wie vor bundesweit an der Spitze.
Wir sind übrigens auch bundesweit an der Spitze und werden nach wie vor immer wieder darauf angesprochen, was die Ausstattung unser Ganztagsschulen angeht, und zwar sowohl die Möglichkeit, zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer einzustellen, als auch die finanziellen Möglichkeiten der Schulen, entsprechende Kooperationen mit Vereinen einzugehen. Auch nach zehn Jahren Ganztagsschulgeschichte in Rheinland-Pfalz werden wir an dieser Stelle bundesweit immer noch mit viel Hochachtung angesprochen, sehr oft auch als Beraterinnen und Berater genutzt, wenn es darum geht, das Ganztagsschulangebot qualitativ weiterzuentwickeln. Insofern stehen wir gut da.
Frau Ministerin, können Sie sich vorstellen, den Ganztagesablauf so zu flexibilisieren, dass Kinder und Jugendliche dann auch regelmäßigen außerschulischen Aktivitäten nachkommen können? Sie haben erwähnt, dass es natürlich bei besonderen Anlässen möglich ist. Ich denke, das ist ein Stück weit selbstverständlich.
Es gibt aber mit Sicherheit auch die eine oder andere exotische Sportart, die zum Beispiel in der Ganztagsschule nicht angeboten wird. Sehen Sie hier Möglichkeiten?
Herr Abgeordneter Brandl, die Diskussion damals um die Ganztagsschule hier im Parlament war zugegebenermaßen vor Ihrer Zeit. Aber ich erinnere mich noch an die Diskussion, die damals geführt worden ist, an „Tanz
mit Hans“. Das war das Stichwort, das aus der CDUFraktion gefallen war. Das sollte mir sozusagen suggerieren, Ganztagsschule sei doch nur, wenn man acht Stunden nacheinander Unterricht machen würde. Nur dann wäre das eine gute Ganztagsschule.
Da mussten wir darum kämpfen, dass heute zur Entwicklung und Bildung von Kindern viel mehr gehört, als dass man nur acht Unterrichtsstunden aneinanderreiht. Wir haben dafür kämpfen müssen, dass die Ganztagsschule die Kooperationen mit Vereinen, mit den Musikschulen trifft und in Wirklichkeit ein ganzheitliches Bildungsangebot macht.
Dass Sie mir jetzt an dieser Stelle diese Frage stellen, zeigt mir, irgendwie war unser Ansatz doch erfolgreich.
Wir haben also Überzeugungsarbeit geleistet. Ich möchte aber in der Tat nicht – das sage ich auch –, dass wir die Ganztagsschule so zerfleddern, dass wir am Ende am Nachmittag ein Angebot haben, bei dem es AGs gibt, und die Kinder nehmen entweder in der Schule teil oder nehmen nicht teil, und sie nehmen dann ein anderes Angebot wahr. Das wäre nämlich am Ende die von Ihnen geforderte Flexibilisierung. Aber das sind dann keine ganzheitlichen Bildungsprozesse mehr. Das ist nicht der pädagogische Anspruch, den wir mit der Ganztagsschule verbinden.
Insofern muss ich sagen, ja, uns geht es um ein Konzept, das diesen Zeitraum über den Tag ausfüllt. Das soll ein Konzept sein, an dem dann auch alle Ganztagsschülerinnen und Ganztagsschüler teilnehmen. Dabei wollen wir bleiben.
Frau Ministerin, Sie sprachen vorhin von den Anteilen, die die Vereine bzw. die Einzelpersonen in den Kooperationen haben. Darüber hinaus haben Sie auch die Problematik der Vereine angesprochen, an den Nachmittagen Übungsleiter zu akquirieren. Sehen Sie eine Chance, dass die Vereine auf die vielen Einzelpersonen zugehen und man auf diese Art und Weise die Übungsleiterproblematik beseitigen könnte?
Ich glaube, das ist der Kern der Ergebnisse der Studie, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Das ist der,
dass es mir noch viel lieber wäre – ich glaube, auch vielen Schulen –, wenn es noch stärker gelingen würde, wirklich institutionelle Kooperationen mit den Vereinen zu haben.
Ich bin der festen Überzeugung, da sind die Win-winEffekte am größten. Auf der einen Seite ist dadurch ein regelmäßiges Angebot gesichert. Die Vereine verpflichten sich zum Beispiel auch, die Vertretung sicherzustellen. Andererseits besteht für den Verein auch am ehesten die Möglichkeit, wenn es wirklich zu solchen dauerhaften Kooperationen kommt, dass Schülerinnen und Schüler auch überzeugt werden, über die Schule hinaus am sportlichen Angebot teilzunehmen.
Insofern soll die Kooperation sozusagen prioritär mit den Vereinen sein. Das ist uns eigentlich lieber.
Das Zweite ist, dass wir tatsächlich jetzt auch auf der Grundlage der Studie, über die ich sehr glücklich bin, dass sie uns jetzt so differenziert vorliegt, eben mit den Vereinen Veranstaltungen machen und dafür werben, dass diese Kooperationen angenommen werden. Dann müssen natürlich auch die Vereine schauen, dass sie eine ausreichende Zahl von Übungsleiterinnen und Übungsleitern haben.
Ich denke, eine Öffentlichkeitsoffensive und eine Offensive mit gemeinsamen Veranstaltungen führt vielleicht auch im Sinne Ihrer Fragestellung Einzelpersonen an Vereine mit dem Anliegen heran, dann auch über den Verein ein entsprechendes Angebot machen zu können.
Eine Zusatzfrage des Herrn Kollegen Wiechmann, dann der Frau Kollegin Dickes. Ich denke, dann ist die Anfrage beantwortet.