Protocol of the Session on May 3, 2012

Ich darf zusammenfassen: Wir haben zurzeit in Deutschland ca. 2,4 Millionen Menschen, die pflegebedürftig sind; ein großer Teil von ihnen ist zusätzlich an Demenz erkrankt. Die nur an Demenz Erkrankten machen in Deutschland auch über 1 Million Männer und Frauen aus. Wenn man einmal betrachtet, wie es demografisch weitergeht – da läuft die Uhr –, dann können wir davon ausgehen, dass wir in einigen Jahrzehnten, wenn meine Generation im hohen Seniorenalter ist, über 4 Millionen Menschen haben, die dann pflegebedürftig sind.

Deswegen kann ich nicht ganz verstehen, dass man bereits bei der Beantwortung der Mündlichen Anfrage versucht, alles, was das neue Gesetz bringt, schlechtzureden.

(Frau Kohnle-Gros, CDU: Ja! – Baldauf, CDU: Genau so ist es!)

Das hat jahrelang nichts gebracht, und jetzt lässt man Dampf ab. Es geht doch um das Ziel, wobei wir uns einig sein müssen und – glaube ich – auch sind, dass, egal, wer ein Gesetz vorschlägt, wir uns ernsthaft Gedanken machen müssen – das ist die schwierigste Frage –: Wo kommen trotz Familie, trotz Ehrenamt diejenigen her, die hauptberuflich diese Leistungen noch bringen sollen? – Die geburtenschwachen Jahrgänge, die dann in die Pflege, in die Ausbildung hineingehen, werden nicht dieses Potenzial hervorbringen.

(Frau Kohnle-Gros, CDU: Qualitativ!)

Diese Frage hat bisher niemand beantwortet; sie wird auch nicht so einfach zu beantworten sein. Da mache ich mir die größten Sorgen. Solange der Pflegeberuf nicht anständig bezahlt wird, wird dieses Problem unter Qualitätsgesichtspunkten nicht gelöst werden können.

In der zweiten Runde mehr dazu.

(Beifall der CDU)

Kollege Konrad von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat nun das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Pflegeversicherung muss neu ausgerichtet werden. Soweit ist dieses neue Gesetz ganz richtig und hat auch den richtigen Titel.

Leider steht dort nicht, was wir erwartet hätten: Wird der Hilfemix – Frau Ministerin hat es bereits angedeutet –, die Zusammenarbeit von Ehrenamt und professioneller Pflege, weiterentwickelt und neu ausgerichtet? Hilft die Pflegeberatung mit den zusätzlichen Angeboten privater Pflegeberatung in der Beratungslandschaft? Werden die Pflegestützpunkte dadurch besser ausgestattet? Kommen die Leute eher zu ihrer Beratung? Haben wir bei der Pflegebegutachtung jetzt einen Pflegebedürftigkeitsbegriff, der ohne Minutenzählen umsetzbar ist? Ist die Erfassung der Bedarfe oder die Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention für die Pflegebedürftigen ein teilhabeorientierter Pflegebegriff?

Verhinderung von Pflegeabhängigkeit, das heißt Gesundheitsprävention im Moment, kaufen wir jedes Jahr zusätzlicher Lebenserwartung mit sieben Monaten Pflegebedürftigkeit ein, ein völlig unhaltbarer Zustand.

Auf die Neuausrichtung haben wir gewartet. Es gibt eine Neuausrichtung. Ja, das ist ein Schritt zu einer geänderten Finanzierung. Ist dieser nachhaltig? – Ja, er ist dann nachhaltig, wenn man die Menschen meiner Generation, die Menschen der Generation der Frau Ministerin, auch Ihre Generation, Herr Enders, doppelt belastet, ab 1995 erst über eine solidarische Pflegeversicherung und dann wieder über eine Rücklagefinanzierung.

Das ist zwar neoliberal, aber auch eine Neuausrichtung. Nur die Richtung ist falsch. Ohne eine Bürgerversicherung in der Pflegeversicherung werden wir keine nachhaltige Finanzierung bekommen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Schauen wir einmal zu den Leuten, die tagtäglich damit zu tun haben. Die Pflegeversicherung wurde zu Recht kritisiert, dass sie den Begriff „satt und sauber“ ins Zentrum gestellt hat. Wir haben jetzt 17 Jahre lang die Pflegeversicherung. Wir hätten gehofft, dass es an dieser Stelle stärker weiterginge.

Tatsächlich ist es so, dass die Erfassung von Menschen mit eingeschränkter Alterskompetenz auch in diesem Gesetz verbessert wird. Aber wir sind doch weit davon entfernt, die Betreuung und die Pflege gleichwertig nebeneinanderzustellen und die Alltagsrealität der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen wirklich wahrzunehmen. Es wird nichts an der Minutenzählerei in der Begutachtung und den im Vordergrund stehenden körperlichen Beschwerden geändert.

Was haben wir in diesem Gesetz noch neu ausgerichtet? Ist dieses Gesetz gut? Motiviert es Menschen, sich der Pflege zu widmen? Sie haben gesagt, dazu gehört ein gescheites Einkommen. Dann frage ich mich, wieso die ortsüblichen Löhne herausgestrichen werden und stattdessen die Pflegemindestlöhne zur Maßgabe dessen werden, was die Pflegekräfte in Zukunft verdienen sollen. Das ist mir rätselhaft. Hier sehe ich eine Neuausrichtung nach unten, aber nicht nach oben.

Haben wir eine Verbesserung der Qualifizierungsaussichten, der Aufstiegschancen und eine Zunahme der Teilakademisierung in der Pflege? Alles das steht nicht

drin. Dafür bekommt aber die Versicherungswirtschaft ein Geschenk. Sie bekommt das Geschenk der Pflegezusatzversicherung, nämlich der Absicherung über eine Umlage, obwohl wir alle wissen, dass dann unsere Pflegerücklage auch wieder von den Finanzmärkten abhängig wird, in deren Wohl und Wehe wir uns mit unserer ganzen Gesellschaft in unserer Zukunftsvorsorge zunehmend begeben müssen, solange die 2 %-Partei FDP als Bock und nicht als Gärtner im Pflegegarten herumwirtschaftet.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Herr Klein, Sie haben eben „guter Mann“ gerufen. Es gibt noch mehr gute Männer bei der CDU, nämlich zum Beispiel Norbert Blüm. Sie können wieder „guter Mann“ rufen.

Herr Enders, Sie haben es gesagt. Es war die CDUgeführte Bundesregierung. Diese hat die Pflegeversicherung eingeführt. Sie hat eine solidarische Pflegeversicherung eingeführt. Die Evangelische Kirche hat auf den Buß- und Bettag verzichtet. An all das erinnern sich diejenigen, die damals dabei waren und sich darum gekümmert haben.

Jetzt machen wir eine rücklagefinanzierte Pflegeversicherung, weil die FDP zufällig einmal im Bundesgesundheitsministerium vorbeigeschaut hat. Sie sollten Ihrem guten Mann glauben, den Sie damals in der Regierung hatten, und sollten diesen schlechten Mann in seine Grenzen weisen und möglichst schnell mit diesem Trauerspiel aufhören.

Vielen Dank.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Für die Landesregierung hat Frau Ministerin Dreyer das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Herren und Damen! Herr Dr. Konrad und Herr Dröscher, vielen Dank. Sie haben mir eine gute Vorlage gegeben.

Herr Dr. Enders, es bleibt dabei. Ich bin nicht überkritisch, aber dieser Gesetzentwurf ist nicht mehr als ein Etikettenschwindel. Wer ein Gesetz Pflege-Neuausrichtungsgesetz nennt, in dem keine Neuausrichtung enthalten ist, der muss sich gefallen lassen, dass wir ihn kritisieren und das auch Betrug an den Betroffenen nennen.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich gehe auf die Punkte ein, die nicht angesprochen worden sind. Der erste Punkt betrifft die Vergangenheit.

Lieber Herr Dr. Enders, ich nenne Ihnen nur ein paar Stichworte. Ich würde behaupten – ich habe an dieser Stelle recht –, dass im Gegensatz zu einem Herrn Dr. Rösler oder einem Herrn Bahr Ulla Schmidt wirklich ein echtes Interesse am Thema „Pflege“ hatte. In der Zeit mit Ulla Schmidt – diese Zeit haben Sie auch zum Teil mit uns geteilt; wichtige Punkte haben Sie bis zum Jahr 2009 mit uns gemeinsam beraten – ist die Pflegeversicherung regelmäßig weiterentwickelt worden. Sie ist nie stehengeblieben. Sie hat sich immer mit den Bedürfnissen der Pflegebedürftigen weiterentwickelt.

Ich nenne als Stichworte die Pflegestützpunkte, auf die wir sehr stolz sind – die Pflegeberatung ist in dieser Zeit erstmalig als Rechtsanspruch eingeführt worden –, die niedrigschwelligen Angebote für demenziell Erkrankte und den Pflegebedürftigkeitsbegriff. Er ist in der Zeit der Großen Koalition in der Kommission gemeinsam entwickelt worden. Er liegt seit dem Jahr 2009 fix und fertig vor und hat auf die Umsetzung durch die neue Bundesregierung gewartet. Diese ist nicht erfolgt. Es wäre aber der einzig richtige und wichtige Weg gewesen.

Wenn Sie sich schon als rheinland-pfälzische CDU nicht von diesem Gesetzentwurf distanzieren, müssen Sie sich gefallen lassen, dass Sie als CDU dafür kritisiert werden, dass dieses Gesetz unvollkommen ist, es den Verbrauchern nicht das bringt, was sie brauchen, und wir frustriert und enttäuscht darüber sind, dass Jahre vergangen sind, ohne dass der Bedürftigkeitsbegriff entsprechend umgesetzt worden ist.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich will noch einmal zwei oder drei Punkte herausarbeiten, die ich persönlich wichtig finde. Herr Konrad meint es an der Stelle wirklich sehr gut mit Ihnen; denn es ist nicht so, als würde es nur an den Personen mangeln, die eine Empathie für das Thema haben. Ihr Problem ist, dass Sie sich nicht davon distanzieren. Das meine ich ernst; denn Herr Blüm stand noch für ein solidarisches System in der Pflege und der Gesundheit.

Sie erlauben es sich, in dieser Koalition Wege mitzutragen, die ganz klar diesen Weg verlassen. Sie teilprivatisieren die Krankenversicherung und die Pflegeversicherung. Sie sagen nicht, lieber Koalitionspartner, wir tun und wollen das nicht, das ist nicht unsere Meinung, sondern Sie gehen diesen Weg unwidersprochen mit. Deshalb müssen Sie sich dieses Thema ankleben lassen; denn es ist Ihre und nicht unsere Politik. Wir distanzieren uns auch von dieser Politik, weil mit uns dieser Weg keinesfalls machbar wäre.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Aus meiner Sicht ist es wichtig, noch einmal auf die liberale Ideologie zum Gutscheinwesen hinzuweisen. Das geht ein bisschen unter. Das ist ein wichtiger Punkt in dieser Reform. Wir haben in Rheinland-Pfalz eine wunderbare Struktur. Wenn jemand von der Pflege betroffen ist, weiß er, wohin er laufen kann. In den Pflegestützpunkten bekommt er eine umfassende Beratung. Alle Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind in den letzten

zwei Jahren umfassend qualifiziert worden, um ein gutes Case-Management machen zu können.

Jetzt werfen Sie mit diesem Gesetzentwurf Beratungsgutscheine auf den Markt. Jeder Mensch bekommt in Zukunft einen Beratungsgutschein. Im Grunde genommen laufen wir jetzt Gefahr, dass unsere Struktur in Zukunft von den Krankenkassen nicht mehr entsprechend finanziert wird, weil sie die Beratungsgutscheine zu finanzieren haben. Ich finde, es ist fatal, dass der ideologische Gedanke der Liberalen, dass auch in diesen Markt mehr Wettbewerb hinein muss und Gutscheine hinein müssen, dazu prädestiniert ist, unsere Struktur zu zerstören. Wir müssen nicht nur im Bundesrat, sondern auf allen Ebenen, wo wir können, noch einmal dagegen aufstehen, weil es uns in Zukunft in höchstem Maß schaden wird.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Ich glaube, ich kann es dabei belassen. Die Punkte zur Finanzierung, die mir so wichtig sind, habe ich schon bei der Beantwortung angesprochen. Auch hier machen wir den großen Fehler, in der Pflege in einen teilprivaten Bereich zu gehen. Ich möchte aber noch einmal betonen, dass es der Pflegeversicherung gar nichts bringt; denn im kommenden Gesetzentwurf wird ein System neben der Pflegeversicherung aufgebaut. Das heißt, alle Probleme, mit denen die Pflegeversicherung in Zukunft konfrontiert sein wird, sind keinen Millimeter weiter einer Lösung zugeführt worden. Auch das ist ein großes Problem.

Lieber Herr Dr. Enders, ich rede nicht alles schlecht, was in dem Gesetzentwurf steht. Ich finde es gut, dass Demenzkranke und ihre Angehörigen ein bisschen mehr Geld erhalten. Ich finde es auch gut, dass die Wohngemeinschaften unterstützt werden. Trotzdem sage ich, dass Herr Bahr versucht hat, aus all dem Versäumten aus dem Jahr der Pflege irgendetwas zusammenzuschustern, damit er sich nicht komplett blamiert. Letztendlich hat sich die Regierungskoalition trotzdem komplett blamiert, weil es nicht Hand und Fuß hat und uns in der Pflege nicht dorthin bringt, wo wir eigentlich hingehen müssten.

Vielen Dank.

(Beifall der SPD und des BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Für die SPD-Fraktion hat Herr Kollege Dröscher das Wort.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Dem, was die Ministerin gesagt hat, ist von der Stellungnahme her wenig hinzuzufügen. Ich möchte aber noch einige Dinge erwähnen, die mir besonders wichtig sind.

Ich habe vorhin damit geendet, Pflege sei auch zentral ein soziales Schicksal. Die Pflegeversicherung – auch die jetzige Neuausrichtung – vernachlässigt die soziale Dimension der Pflege und betont immer noch zu stark die medizinisch-pflegerische Seite, die natürlich auch wichtig ist. Pflege bedarf einer an der Lebenswelt orientierten und kommunalen Verankerung. Da haben wir mit den Pflegestützpunkten bisher wirklich gute Instrumente zur Verfügung.

Teilhabe ist ein ganz wichtiger Aspekt. Pflege ist auch eine personelle Unterstützung von Menschen, die auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Dabei spielt die Herstellung von Würde unter den Bedingungen von Selbstständigkeit und Selbstbestimmung eine sehr große Rolle. Wir haben das im Landeswohnformen- und Teilhabegesetz versucht zu formulieren. Ob im Heim oder in der Pflege zu Hause, überall geht es nicht nur um die Sicherung von Lebensqualität, sondern auch um die Herstellung dieser Würde durch Interaktion und die Sicherung der sozialen Teilhabe. Letztlich ist das nicht nur eine Aufgabe für die professionelle Pflege, sondern das ist eine Aufgabe für die Gesellschaft insgesamt, die soziale Netzwerke verlangt.

Zur Bürgerversicherung ist schon einiges gesagt worden. Ich meine, das muss ich nicht ergänzen.