.............................................................................................................................. 4884 Monsignore Klaus Mayer:............................................................................................................................ 4880 Präsident Mertes:......................................................................................................................................... 4877
81. Plenarsitzung am 27. Januar 2010 aus Anlass des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Gäste! Ich eröffne hiermit die Plenarsitzung anlässlich der 65jährigen Wiederkehr der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee.
Vor Weihnachten haben Diebe den Schriftzug „ARBEIT MACHT FREI“ vom Eingang des ehemaligen KZ Auschwitz gestohlen. Sie werden es gelesen haben. Die weltweite Bestürzung über diesen Diebstahl hat gezeigt, es ist der Welt nicht egal und gleichgültig, was an diesem Ort geschieht; denn das Konzentrationslager Auschwitz ist der Inbegriff für das grausamste Menschheitsverbrechen, das jemals begangen worden ist. Es steht für den Versuch, die jüdischen Menschen in ganz Europa auszulöschen. In Auschwitz haben die Nationalsozialisten über 1 Million Menschen leiden lassen und grausam ermordet. Die meisten von ihnen waren Juden.
Was uns an Auschwitz erschüttert und entsetzt, ist nicht allein das unvorstellbare Ausmaß des Völkermords. Es ist das Gefühl der Schuld für eine fabrikmäßige Umsetzung, für eine eiskalt in Gang gesetzte Maschinerie und das, was dahintersteht. Das, was wir alle erwarten würden, ist Gnade; in diesem Fall jedoch war die Gnadenlosigkeit der Täter, der Versuch, sich von allem reinzuwaschen, das Schlimme, das uns bis heute bestürzt.
Den Schriftzug „ARBEIT MACHT FREI“ hat ein politischer Gefangener namens Jan Liwacz, ein Kunstschlosser, ein halbes Jahr nach der Gründung des Konzentrationslagers auf deutschen Befehl schmieden müssen. Die Gefangenen hatten als stillen Akt des Protestes das „B“ in „ARBEIT MACHT FREI“ auf den Kopf gestellt. Jeden Morgen sind sie in Fünferreihen unter diesem Schild hindurchgegangen zur Zwangsarbeit. Wenn sie zurückkehrten, trugen sie die vor Erschöpfung oder Krankheit zusammengebrochenen Mitgefangenen und Toten: Jeder musste zurück. Sie trugen diejenigen, die sich im Laufe des Tages zu Tode gearbeitet hatten oder umgebracht worden waren.
Wir haben uns zu dieser Plenarsitzung versammelt, um den 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zu begehen und gemeinsam der Opfer der nationalsozialistischen Diktatur zu gedenken. Des
halb bitte ich Sie, die Mitglieder des Landtags, der Landesregierung und unsere Gäste, sich von den Plätzen zu erheben.
Meine Damen und Herren, wir denken an die Opfer von Auschwitz, mit ihnen an viele Millionen jüdische Kinder, Männer, Frauen aus ganz Europa, die der verbrecherische NS-Staat verfolgt und ermordet hat.
Wir gedenken der Kommunisten, Sozialdemokraten, christlichen Demokraten, aller Frauen und Männer, die wegen ihrer Weltanschauung als politische Gegner verfolgt worden sind.
Wir denken an die Sinti und Roma, an die Minderheiten, die nicht in das rassistische Weltbild der Nazis passten.
Wir denken an die Christinnen und Christen beider Kirchen, die wegen ihrer tätigen christlichen Nächstenliebe verfolgt worden sind, und wir denken auch an die Zeugen Jehovas, die zu leiden hatten.
Wir denken an die alten, kranken und behinderten Menschen, die Opfer der NS-Krankenmorde geworden sind. Wir denken an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, an die Homosexuellen, die Kriegsgefangenen und die Opfer der Militärgerichtsbarkeit. Sie alle haben durch die menschenverachtende Diktatur Unvorstellbares erlitten und ihr Leben verloren.
Wir haben uns erhoben, um dies zu versprechen: all unsere Kraft dafür einzusetzen, dass solches Unrecht nicht mehr vorkommt. – Ich danke Ihnen.
Meine Damen und Herren, die Konsequenz aus dem Unrechtssystem war und bleibt unsere demokratische Verfassungsordnung, die uns unveräußerliche Grundrechte garantiert und in der sich die Staatsorgane gegenseitig kontrollieren. Ich freue mich, dass Ministerpräsident Kurt Beck und die Mitglieder der Landesregierung sowie der Präsident des Verfassungsgerichtshofes, Herr Professor Karl-Friedrich Meyer, unter uns sind. Seien Sie herzlich willkommen!
Ich freue mich, dass unter den internationalen Gästen die türkische Generalkonsulin, Frau Yamancan, bei uns ist. Seien Sie herzlich willkommen!
Meine Damen und Herren, bereits nach der Machtübertragung an Hitler begann die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Wir hatten schon einmal darüber gesprochen, wie simpel und einfach dies anfing: Man nimmt jemandem den Führerschein weg, man entzieht ihm den Beruf, man entzieht ihm die Fähigkeit, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, man nimmt ihm das Radio weg und was sonst noch so einfach klingt. Diese Entrechtung wurde mit 431 Gesetzen und Verordnungen unterlegt, die sich gegen die Juden gerichtet haben. Vor 75 Jahren wurden die „Nürnberger Gesetze zum Schutze des deutschen Blutes“ erlassen. Danach durften Juden nicht mehr heiraten, wen sie wollten, nicht mehr wählen, keine öffentlichen Ämter bekleiden. Sie verloren
Vermögen, Häuser und Hausrat. Das Gleiche galt auch für die Verfolgung von Sinti und Roma. Die wenigsten werden es wissen, aber es gehört mit zur Realität: Der Reichsinnenminister, der dies alles durchgesetzt hat, stammte aus Alsenz und hieß Wilhelm Frick.
Meine Damen und Herren, was als Entrechtung begonnen hat, war nur der erste Schritt. Er mündete in der Vernichtung von 6 Millionen Juden in ganz Europa. Der Massenmord an Kindern, Frauen und Männern hat die grundlegenden Gebote der Humanität und unseres christlichen Menschenbildes außer Kraft gesetzt. Die Deutschen sollten ihr Gewissen verlieren. Man sollte es ihnen austreiben, und man hat es auch vielen ausgetrieben.
Die Schoah ist mehr als dieser ungeheuerliche Versuch, alle menschlichen Prinzipien zu überwinden. Es ist der Versuch, sich über alle Moral hinwegzusetzen. Als Ersatzreligion haben die braunen Machthaber einen – wie Saul Friedländer es nennt – „Erlösungsantisemitismus“ betrieben, der die böse Seite der Menschen angesprochen hat.
Wie haben die Kirchen, Pfarrer, Pastoren und gläubige Christen reagiert? – Meine Damen und Herren, sie haben so reagiert, wie wir Menschen sind: zum einen mit Anpassung. Viele Christen waren keineswegs eindeutig in ihrer Haltung gegenüber der Nazi-Herrschaft und ihrer Ideologie. Zunächst einmal gab es das Reichskonkordat von 1933, das etliche Kritiker ruhig gestellt hat. Des Weiteren gab es in der evangelischen Kirche die „Deutschen Christen“ mit dem Reichsbischof Ludwig Müller, eine protestantische Bewegung mit eindeutiger nationalsozialistischer Ausrichtung.
Aber es gab auch die anderen, nämlich diejenigen Kirchenleute, die die nationalsozialistische Ideologie scharf und eindeutig abgelehnt haben, und es gab diejenigen, die unauffällig stillhielten und zu überwintern versuchten.
Aber innerhalb der Kirche gab es auch Menschen, die der Meinung waren, eine straffere und entschiedenere Opposition gegen die Nazis sei nicht zweckmäßig. Bis zum Schluss gab es Glückwunschtelegramme zu Hitlers Geburtstag, es gab Feldgottesdienste und Militärseelsorger. – All das gab es.
Es gab aber auch Kirchenleute wie Martin Niemöller, Dietrich Bonhoeffer oder den Münsteraner Bischof Clemens August von Galen, die Widerstand leisteten. In Darmstadt hat der spätere Mainzer Bischof Albert Stohr ab 1931 als Abgeordneter des Zentrums im hessischen Landtag gegen Hitler und den Nationalsozialismus gearbeitet. Er hat später im Mainzer Dom öffentlich gegen die NS-Krankenmorde gepredigt.
Der Kapuzinerpater Ingbert Naab aus Dahn hat schon 1932 notiert, dass „der Nationalsozialismus eine Pest“ sei.
Meine Damen und Herren, wir zeigen gegenwärtig im Landtag eine Ausstellung über den evangelischen Pfarrer Paul Schneider aus Dickenschied, dem späteren „Prediger von Buchenwald“, in der belegt wird, dass man
Viele Veranstaltungen in diesem Jahr widmen sich den „Christen im Nationalsozialismus – zwischen Verfolgung, Anpassung und Widerstand“. Auch unsere Ausstellung trägt diesen Schwerpunkt. Ich habe zur Vorbereitung dieses Tages das Buch von Pfarrer Paul Schneider über seine Erfahrungen im Konzentrationslager gelesen. Es wäre zu grausam, Ihnen daraus vorzulesen, was man diesen Menschen angetan hat. Über ein Jahr hielt er durch. Viele, die im KZ waren, erinnern sich daran, dass seine Worte inmitten der täglichen Quälerei Trost und Zuversicht gespendet haben. – Indes, für Paul Schneider gab es kein Später. Er wurde 1939 mit mehreren Giftspritzen ermordet. Zu seiner Beerdigung sind – interessanterweise wiederum eine Seite des Menschen – so viele gekommen, die sich nicht davon abhalten ließen, dass die Gestapo aus Koblenz Angst und Schrecken im Hunsrück verbreitet hat.
Ich freue mich deshalb besonders, dass heute unter unseren Gästen der Sohn von Paul Schneider ist, KarlAdolf Schneider. Ich freue mich auch, dass der Ortsbürgermeister und der jetzige Pfarrer von Dickenschied bei uns sind. Seien Sie herzlich willkommen und mit Ihnen die Vertreter der Kirchen in unserem Land!
Meine Damen und Herren, nach dem Zweiten Weltkrieg hat die neu gebildete evangelische Kirche mit dem „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ eine Mitschuld an den Verbrechen bekannt. Als ich diese Passage zum allerersten Mal las, muss ich sagen, sie ist so außerordentlich beeindruckend und eindeutig, dass sie jeder Deutsche kennen müsste.
„(…) durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden! (…) Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben.“
Dies mag eine Sprache sein, die heute dem einen oder anderen zunächst einmal etwas pathetisch klingen mag, aber dieses Zitat können wir für vieles, auch in unserem Leben, in unseren Tagen, heranziehen. Wir dürfen die Geschichten der Opfer nicht vergessen lassen. Es sind Widerstandsgeschichten, Leidensgeschichten, Opfergeschichten.
Deshalb bin ich im Mainz froh darüber, dass wir heute junge Menschen einladen konnten, die Fragen stellen. Allein drei Schulen haben verschiedene Rundgänge in der Mainzer Neustadt erarbeitet. Sie wollen wissen, was viele nicht mehr wissen wollen:
Was geschah mit den Juden in unserer Stadt? – Was wurde aus den Zeugen Jehovas? – Wie lebten Christen und Juden in den Jahrzehnten und Jahrhunderten vor 1933 zusammen, und welches Schicksal hatten die Opfer? – Und gar: Welches Schicksal hatten die Täter? – Wie gehen wir heute mit Minderheiten um?
Diese Fragen sind nicht neu, aber sie werden von jungen Menschen gestellt, und dies ist ermutigend. Zu denjenigen, die diese Fragen stellen, gehören Schülerinnen und Schüler der „Schulen ohne Rassismus – Schulen mit Courage“ aus Frankenthal, Speyer und Mainz, die heute bei uns sind. Darüber freuen wir uns.
Es gibt 32 dieser Schulen in Rheinland-Pfalz, und wir würden uns wünschen und würden es auch unterstützen, dass es immer mehr davon gibt. – Vielen Dank für dieses Engagement und für dieses Weitertragen der richtigen Fragen.
Ich möchte außerdem denjenigen jungen Leuten danken, die unsere Gedenksitzung musikalisch gestalten. Das ist der Kammerchor „Art of the voice“ mit Schülerinnen und Schülern des Landesmusikgymnasiums Montabaur. Herzlichen Dank auch an Sie, Herr Martin Ramroth, als Leiter!
Meine Damen und Herren, wir werden gleich einen Mann hören, der wie kein anderer in unserer Landeshauptstadt für die Versöhnung zwischen Juden und Christen gearbeitet hat, ja dem daraus eine Lebensaufgabe geworden ist – nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen Leidens- und Lebensgeschichte.
Ich freue mich sehr, Sie, Monsignore Klaus Meyer, bei uns herzlich willkommen zu heißen! Ich möchte Sie bitten, das mit einem Beifall zu unterstützen.
Monsignore Klaus Mayer ist Ehrenbürger unserer Landeshauptstadt. Er ist der ehemalige katholische Pfarrer von Sankt Stephan in Mainz. Er hat Marc Chagall entweder bewogen, überredet oder überzeugt, die berühmten Kirchenfenster dort zu gestalten. Da fängt unsere Verbindung an. Eine unserer ersten Gedenkveranstaltungen fand bei Ihnen in Ihrer Kirche statt. Nun sind Sie hier bei uns im Landtag. Ich freue mich wirklich darüber, dass Sie das auf sich genommen haben, bei uns sind und zu uns sprechen. Damit wird nach zehn Jahren noch einmal deutlich, wie die Gedenkarbeit zusammenhängt.
Wenn Sie sich anschauen, was in unserem Programmheft steht, so werden Sie immer wieder auch die Meditationen und den Namen Klaus Mayer finden. Dass wir uns heute wieder hier treffen, ist etwas ganz Besonderes. Ich freue mich auch, dass Sie das bei guter Gesundheit machen können.
Sie sind der Sohn einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters, der nach den Rassengesetzen des Naziregimes als sogenannter „Mischling“ beschrieben worden ist. Ihre Eltern stammen hier aus dieser Stadt.