Protocol of the Session on August 23, 2001

(Zuruf des Abg. Dr. Weiland, CDU)

Das mag sein. Ich bin demütig – so kennen Sie mich. Wenn ich mir aber vor Augen halte, dass eine Partei, die sich mit den Schlagworten „Innere Sicherheit“ und Wahlparolen wie „Kinder statt Inder“ einen Namen gemacht hat und die treulich zu ihrer Schwesterpartei, der CSU, steht, für die das Boot schon seit langem voll ist,

(Lelle, CDU: Reden Sie doch zum Thema!)

dann erscheint mir das, Herr Lelle, mehr als eigentümlich, dass man der durchaus nicht geleugneten Not gehorchend einen sozialpolitischen Schnellschuss wagt; denn bedenkt das Ende, werte Kolleginnen und Kollegen. (Zuruf der Abg. Frau Thelen, CDU)

Das Ende sieht sicherlich nicht so aus, dass alle die, die wir glauben zur Problemlösung bei uns einsetzen zu können, auf Dauer so naiv sind, dass sie auf Dauer die Rolle einnehmen, die wir ihnen zuweisen.

(Kramer, CDU: Das will niemand!)

Ich möchte das Problem einmal auf den Grund zurückführen. Pflege und Betreuung waren früher – ich will das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen – in der Zuständigkeit der Familien. Diese Zeiten sind bedauerlicherweise oder gottlob – jeder sieht das anders – vorbei. Wir haben versucht – das war die erste Unsauberkeit – – –

(Zuruf der Abg. Frau Thelen, CDU)

Das ist richtig. Hören Sie mir bitte zu. Ich bin in der Jetztzeit angekommen. Ich habe mir erlaubt, eben die Vergangenheit zu beleuchten, Frau Kollegin.

In der Jetztzeit haben die Volksparteien – es war insbesondere ihr Haus in Bonn, das uns mehr als gedrängt, schon geschubst hat und unsere Bedenken nicht ernst genommen hat – den Menschen versprochen, wir installieren eine Pflegeversicherung, und alles wird gut. Nichts ist gut geworden. Die Dinge haben sich zugespitzt, und sie werden sich weiter zuspitzen, weil weder Bundestag noch Landtag – – –

(Zurufe von der CDU)

Ich warte ab, bis sich die Wogen etwas beruhigt haben.

(Lelle, CDU: Für eine solch unqualifizierte Bemerkung!)

Man musste feststellen, dass weder Bundestag noch Landtag die demographischen Entwicklungen aufhalten können. Das ist auf dem Gesetzesweg schlechterdings nicht möglich. Wenn man jetzt glaubt, dieses Problem, das die Individuen, die Familien und der Staat nicht lösen können – ein Pflegeplatz für 210.000 DM; rechnen Sie sich das einmal durch –, mit ausländischen, im Nachhinein legalisierten Hilfskräften, mit einem Schnellschuss lösen zu können, dann geht das über mein Verständnis von Zuwanderung, Einwanderung und in Zukunft gedeihlichem Miteinander in einer Gesellschaft, die noch sehr viel Zuwanderung wird verkraften müssen, deutlich hinaus.

Das, was von der CDU-Fraktion vorgelegt wurde, ist in diesem Zusammenhang ein bedauerlicher Schnellschuss, bei dem ich unsere Fraktion nur auffordern kann, abzulehnen.

(Kramer, CDU: Sie haben unseren Antrag nicht gelesen!)

Ich habe den Antrag nicht gelesen. Ich habe mich dazu verbreitet, ohne ihn zu lesen.

Danke sehr.

(Beifall bei FDP und SPD)

Ich erteile Herrn Staatsminister Gerster das Wort.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt sind, soweit uns bekannt ist, eingestellt worden, in einigen Fällen mit der Auflage, Sozialbeiträge und Steuern nachzuentrichten. Damit ist der akute Vorfall und Anlass für unsere Debatte erledigt, aber eben nur der akute Anlass. Von den 350 durchsuchten Wohnungen in diesem Verfahren der letzten Wochen lagen 45 in Rheinland-Pfalz. Insofern waren wir auch am Rand betroffen. Das ändert aber nichts daran, dass dieses Verfahren und auch die öffentliche Kommunikation auf Probleme hingewiesen hat, mit denen wir uns beschäftigen müssen.

Meine Damen und Herren, in diesen vielen einzelnen Fällen – es gibt sehr viel mehr als die, die untersucht worden sind – geht es darum, Pflege zu Hause zu ermöglichen durch eine Kombination aus Familienhilfe, Nachbarschaftshilfe, Hilfen professioneller, ambulanter und teilstationärer Einrichtungen und durch ehrenamtliches Engagement. Es gibt viele Beispiele, bei denen immer noch in der Familie in mehreren Generationen rund um die Uhr gepflegt wird. Es gibt viele Beispiele von Frauen im mittleren Alter, die sich wirklich für die Pflege von Eltern und Schwiegereltern aufopfern. Das sind Tausende in Rheinland-Pfalz, die wir mit der Pflegeversicherung, so unvollkommen sie sein mag, nur partiell unterstützen können, aber wir können sie unterstützen, und wir machen es. Das ist gut so, übrigens

auch in dem Teil der Pflegeversicherung, in dem wir den Frauen, die pflegen, Rentenansprüche sichern. Es ist ganz wichtig, dass sie nicht jahrelang, manchmal über ein Jahrzehnt lang, auf jede eigene Berufstätigkeit und Selbstverwirklichung verzichten, ohne dass sie im Alter davon den geringsten Vorteil haben. Das haben wir geändert. Ich glaube, das ist eine wichtige Sache.

Ohne Zweifel ist die soziale Wirklichkeit sehr vielfältig. Es gibt immer mehr Familien, die durch die generative Entwicklung auseinander driften, weil die Kluft zwischen den Generationen, also der Altersabstand, größer wird, weil es weniger Kinder gibt, also mehr einzelne Menschen, die sich selbst durch Berufstätigkeit nicht beliebig flexibel einem pflegebedürftigen Menschen widmen können. Es gibt auch – das hat Herr Kollege Dröscher dargestellt – die vielen, die im engsten Sinn gar nicht einmal in hohem Maß pflegebedürftig sind, aber bei denen man ein bisschen aufpassen muss. Auch Herr Kollege Marz hat das so beschrieben, also die altersverwirrten Menschen, die sich an der Herdplatte verbrennen können, wenn man sie allein lässt, die also im Grund genommen immer jemanden in der Nähe brauchen.

Die Erzählungen über gestörte Nächte und überraschende Unfälle im eigenen Haus sind manchmal eine Mischung aus Komik und Tragik.

Meine Damen und Herren, es gibt eine Vielfalt von sozialer Wirklichkeit. Die ambulanten Dienste sind im Übrigen zu einer Hilfe rund um die Uhr abstrakt verpflichtet. Aber es ist nicht möglich, diese Hilfe 24 Stunden lang zu organisieren und zu bezahlen. Deswegen können diese professionellen Dienste immer nur ergänzenden Charakter haben, also Besuche am Vormittag, am Nachmittag, am Abend oder auch in der Nacht durchführen oder Umbettungen und Ähnliches mehr vornehmen, was die Familie allein nicht leisten kann. Eine 24-stündige Aufsicht und Zuwendung für einen Menschen, der pflegeund auch zuwendungsbedürftig ist, gibt es im professionellen System nicht.

Dies macht verständlich, dass es viele Menschen gibt, die sich fragen, ob die einzige Alternative die stationäre Versorgung ist, ob man sie also „ins Heim gibt“, wie man früher sagte. Meine Damen und Herren, aber auch in diesem Bereich sollten wir uns vor falscher Sozialromantik hüten. Die Motive, beispielsweise das Heim zu meiden, sind wiederum sehr unterschiedlich. Es gibt Beispiele, wo ein altersverwirrter, aber konstitutiv noch sehr kräftiger Mensch noch viele Jahre seines Lebens vor sich hat und die Heimeinweisung von der Familie auch deswegen gefürchtet wird, weil das Erbe gefährdet wäre. Zwar müssen bei der stationären Versorgung die so genannten „Hotelkosten“ von der Sozialhilfe erbracht werden, diese greift jedoch wiederum auf die Familie zurück. Dies geschieht in einem relativ geringen Umfang, aber immerhin. Auch das ist die soziale Wirklichkeit, und einige der Fälle, die untersucht worden sind, sind so gelagert. Man muss also sehr sorgsam mit diesen Beispielen umgehen.

Meine Damen und Herren, ich möchte mich auch eindeutig gegen die Aussage aussprechen, wir hätten generell einen Fachkräfte- oder Pflegekräftenotstand in

Rheinland-Pfalz. In der Arbeitslosenstatistik sind deutlich mehr arbeitslose Pflegekräfte ausgewiesen als offene Stellen. Aber auch in diesem Fall muss man genau hinschauen. Von den arbeitslosen Pflegekräften möchten manche gar nicht mehr in ihren Beruf zurück, und in den Ballungsgebieten sieht es wieder anders aus als auf dem Land. Man muss also diese Statistiken sehr differenziert betrachten.

Meine Damen und Herren, eine Versorgung rund um die Uhr, die professionell organisiert ist, würde bis zu 18.000 DM im Monat kosten. Das können wir vergessen. Bei diesen Beispielen, die wir alle zum Teil schon aus persönlicher Erfahrung kannten – diesbezüglich gibt es glücklicherweise keine Anzeigepflicht –, geht es in Wirklichkeit um polnische Hilfskräfte, die auf unterschiedliche Weise vermittelt worden sind und die in einer Familie, zumeist in einer Einliegerwohnung, wohnen, sodass keine zusätzlichen Wohnkosten entstehen.

Wer kann sich schon eine Einliegerwohnung leisten? Wer kann 1.500 bis 2.000 DM bar auf die Hand bezahlen? - Auch bei diesem Punkt befinden wir uns immer in einem begrenzten Teil der gesellschaftlichen Sphären. Aber es ist eben etwas anderes, als 15.000 oder 18.000 DM zu bezahlen. 1.500 bis 2.000 DM kann eine Familie auch in der mittleren Einkommensschicht gerade noch aufbringen, wenn sie sich Mühe gibt, um einen Pflegebedürftigen nicht ins stationäre System abgeben zu müssen.

Aber diese Hilfskräfte sind illegal beschäftigt; denn auch wenn sie legal hereingekommen wären und eine Arbeitserlaubnis hätten, würde sich ihr Job im Privathaushalt unter Berücksichtigung der zu leistenden Steuern und Sozialabgaben für den Privathaushalt, aber im Übrigen auch für den Beschäftigten selbst nicht mehr lohnen, weil dann von 1.500 DM im Monat nur noch 800 DM übrig blieben.

Genau dort sind wir an den Systemgrenzen angelangt, an denen wir auch an anderer Stelle arbeiten. Ich nenne beispielhaft das Mainzer Modell, um einfache Beschäftigungen interessanter zu machen. Wir müssen über das Steuersystem nachdenken, und zwar anders als bisher mit dem „Dienstmädchenprivileg“, Herr Kollege Marz, damit Familien in mittleren Einkommensregionen, also beispielsweise mit einem steuerpflichtigen Jahreseinkommen zwischen 50.000 und 100.000 DM, in der Lage sind, stunden- oder halbtageweise eine Hilfskraft zu beschäftigen, ohne gleich eine volle Stelle bereitstellen zu müssen, also quasi Arbeitgeberpflichten in vollem Umfang übernehmen zu müssen.

Wir erarbeiten derzeit eine Bundesratsinitiative – dies steht auch in der Koalitionsvereinbarung – in Verbindung mit privatwirtschaftlich organisierten Dienstleistungs agenturen, die den Privathaushalten die Arbeitgeberpflichten, die Büroarbeit und vieles andere mehr abnehmen. Wenn solche Dienstleistungsagenturen beispielsweise arbeitslose Frauen beschäftigen, kann man ihnen die Differenz zwischen dem Marktpreis von 15 DM pro Stunde und dem echten Preis von 22 DM oder mehr pro Stunde, der dem Haushalt in Rechnung gestellt wird, unter sozialen Gesichtspunkten erstatten, weil man

Beschäftigung mit der Entlastung der belasteten Familien verbindet.

Es gibt verschiedene Wege, die wir gehen müssen. Ich gebe auch dem Kollegen Zuber und anderen Recht, dass wir natürlich im Rahmen einer Neubestimmung der Zuwanderungsregelung im weitesten Sinn auch darüber nachdenken müssen, nicht nur die indischen Computerspezialisten und ausländische Gentechniker ins Land zu holen, sondern auch Menschen, die Arbeiten machen, die – nun muss man genau überlegen, wie man es formuliert – Deutsche nicht machen können, nicht machen wollen. Dabei sollten wir uns gemeinsam schwer tun; denn Arbeitsplätze dieser Art müssen auch für Deutsche wieder interessanter werden.

(Beifall der SPD und der FDP)

Damit sind wir wieder beim Mainzer Modell angelangt, und damit sind auch die inländischen Arbeitskräfte gemeint, Herr Kollege Marz.

Meine Damen und Herren, den Lösungsweg gibt es nicht. Rheinland-Pfalz ist an der Spitze der Bewegung. Wir müssen gemeinsam ein Bündel von Maßnahmen auf den Weg bringen, damit legale Beschäftigung im Privathaushalt auch für besonders belastete Familien einfacher und möglich wird. Wenn Sie uns darin unterstützen, hätte diese Debatte einen Sinn, der auch in den nächsten Monaten noch trägt.

(Beifall der SPD und der FDP)

Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Bischel das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Staatsminister, wir von der CDU-Fraktion können dem, was Sie gesagt haben, zu 99 % zustimmen. Ich sage dies in aller Offenheit. Ihre Analyse und Ihre differenzierte Betrachtungsweise, die Sie bei diesem für unsere Bevölkerung so wichtigen Problem angewandt haben, hat sich auch sehr gut angehört.

Ich bin ein bisschen erstaunt, weil vorhin in der Presse zu lesen war, es habe eine Differenz zwischen Ihnen und Herrn Staatsminister Zuber gegeben, dem wir aus voller Überzeugung zugestimmt haben; denn zum Schluss kamen Sie genau auf das Problem. Wir waren nur in dieser Nuance auseinander.

Wir haben gesagt, wenn ein solches Problem unsere Bürger drückt, müssen wir selbstverständlich gemeinsam über Lösungsmöglichkeiten nachdenken. Wir müssen eine Lösung finden. Wir von der Politik sind aufgerufen, gegebenenfalls die rechtlichen und gesetzlichen Bestimmungen so zu ändern, dass man das Problem im Sinn der Bürger löst.

Nun stehen wir vor einer Erweiterung der EU, meine Damen und Herren. Vor diesem Hintergrund dürfen wir doch nicht die Augen verschließen und sagen, nur EUStaatsbürger sollen in der jetzigen Situation dieses Problem lösen, wo wir doch wissen, dass viele in unserem Bereich für diese Lösung nicht zur Verfügung stehen. Wir meinen, in diesem Punkt sollten wir einen Schritt weitergehen und über den Bundesrat, die Bundesregierung und gegebenenfallls über den Bundestag für eine Änderung der gesetzlichen Bestimmungen sorgen, damit wir bereits jetzt andere, die nicht der EU angehören, zur Lösung unseres Problems mit heranziehen können. Wir sind uns auch darüber im Klaren, dass wir im Einzelfall genau aufpassen müssen und dies nicht nur das Öffnen eines riesenhaften Tores ist.

Meine Damen und Herren, wir sind für eine offene Diskussion. Wir arbeiten konstruktiv an der Lösung dieses wichtigen Problems mit und freuen uns auf die gemeinsamen Beratungen im Ausschuss, hoffentlich auch mit einem gemeinsamen Ergebnis.

(Beifall der CDU)

Es liegen keine weiteren Wortmeldungen mehr vor. Es ist beantragt worden, die beiden Anträge an den Sozialpolitischen Ausschuss zu überweisen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Meine Damen und Herren, ich möchte als Gäste im Landtag Mitglieder der Senioren-Union Cochem-Zell sowie Mitglieder der Arbeiterwohlfahrt MudersbachNiederschelderhütte begrüßen. Seien Sie herzlich willkommen im Landtag!

(Beifall im Hause)