Protocol of the Session on March 18, 2004

(Beifall im Hause)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat nun Herr Abgeordneter Wiechmann das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Um es hier gleich einmal am Anfang zu sagen, ich versuche meine ganze Rede auch in einem sachlichen Ton zu halten. Ich will einmal sehen, ob es mir gelingt. Aber eine Vorbemerkung möchte ich machen: Der Entwurf der Landesregierung zur Novellierung des rheinland-pfälzischen Schulgesetzes ist für sich genommen aus meiner Sicht noch kein Grund für eine Rücktrittsforderung an Frau Ministerin Ahnen.

(Kuhn, FDP: Da hat sie aber Glück gehabt!)

Allerdings ist er wahrlich auch keine Grundlage, sich für einen Innovations- oder Zukunftspreis zu bewerben. Meine Damen und Herren, das ist schon ein Punkt, über den ich Ihnen jetzt hier gleich auch noch einmal deutlich sage, wir haben die Möglichkeit und die Chance, unser rheinland-pfälzisches Schulsystem zukunftsfähig zu machen. Die wird mit diesem Schulgesetzentwurf nun wirklich verpasst.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die GEW hat gestern in einer Pressemitteilung gesagt, das sei alles nur ein Reförmchen. Im Übrigen teilt die GEW unsere dezidierte Kritik, die ich Ihnen gleich auch noch einmal vortragen werde.

(Creutzmann, FDP: Das glaube ich!)

Dieser Gesetzentwurf ist nämlich mitnichten eine Neufassung oder der erhoffte große Wurf, sondern er ist nicht mehr als Stückwerk, und er ist auch nicht mehr als die Normativität des Faktischen. Auch das ist nicht von mir, sondern vom Landesvorsitzenden des VBE, Herrn Müller. (Kuhn, FDP: Ja, ja!)

Meine Damen und Herren, die Ergebnisse der internationalen Leistungsvergleichsstudien sind überhaupt nicht berücksichtigt worden. PISA und IGLU bleiben leider ohne Konsequenz. Von vielem ein bisschen, hier ein bisschen, da ein bisschen, ist aber von allem zu wenig, meine Damen und Herren. Dieser Gesetzentwurf wird in keiner Weise der wirklich großen Aufgabe gerecht, das gesamte rheinland-pfälzische Schulsystem in ein selbs tständig agierendes System mit Output-Steuerung umzuwandeln.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Landesregierung hat es schlichtweg versäumt, ein System zu installieren, in dem auf der einen Seite nationale Bildungsstandards und auf der anderen Seite die größtmögliche Selbstständigkeit der einzelnen Schulen gleichzeitig realisiert werden.

Meine Damen und Herren, die Weiterentwicklung der berufsbildenden Schulen, im Wesentlichen übrigens aus dem Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom Jahr 2000 „abgekupfert“ – ich will nicht sagen „abgeschrieben“ –, ist die einzige nennenswerte Weiterentwicklung dieser Gesetzesnovelle. Ein zukunftsweisendes Schulgesetz muss aber mehr leisten als das, was Sie in Ihren Änderungen formuliert haben. Wir brauchen ein Mehr an Selbstständigkeit, ein Mehr an Demokratie und ein Mehr an individueller Förderung durch ein längeres gemeinsames Lernen aller Schülerinnen und Schüler in einer Schule für alle.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die internationalen Leistungsvergleichsstudien und auch die landesweit gemachte, von der Bildungsministerin in Auftrag gegebene MARKUS-Studie weisen uns darauf hin und

(Lelle, CDU: Die kannst du ja vergessen!)

geben uns in unserem Drängen nach mehr integrierten Schulformen zur besseren Förderung von Talenten und auch von Leistungen Recht.

Der vorliegende Gesetzentwurf einer sozialdemokratisch geführten Landesregierung – manchmal muss man denen das vielleicht auch noch deutlicher sagen; das ist unsere größte Kritik – gibt überhaupt keine Antwort auf das größte Problem, auf das uns PISA deutlich hingewiesen hat, nämlich die hohe soziale Selektivität unseres gegliederten Schulsystems.

Meine Damen und Herren, mit drei Anträgen fordern wir GRÜNEN deshalb eine grundlegende Veränderung des rheinland-pfälzischen Schulrechts. Frau Kollegin BredeHoffmann, dazu haben Sie leider nichts gesagt. Ich hoffe, dass das Herr Kollege Heinrich gleich noch tun wird.

Frau Kollegin Brede-Hoffmann, Sie haben heute wieder behauptet, das geplante neue Gesetz sichere die Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Schularten. Lassen Sie es mich ein bisschen volkstümlich ausdrücken: Wo nichts ist, da kann man natürlich auch nicht viel sichern. Alle Experten sind sich, was das deutsche Schulsystem angeht, in diesem einen Punkt sehr einig, unser Schulsystem ist weder sozial noch leistungsgemäß durchlässig. Hier haben wir den allergrößten Nachholbedarf. Diesem wird der Gesetzentwurf leider nicht gerecht.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weder Kinder aus bildungsfernem sozialen Umfeld noch Kinder mit Migrationshintergrund oder auch Kinder mit sehr hohen Intelligenzquotienten werden im gegliederten Schulsystem ihren Potenzialen gemäß gefördert.

(Zuruf des Abg. Lelle, CDU)

Das gegliederte Schulsystem konterkariert geradezu alle Bemühungen um Forderung und Förderung von individuellen Leistungspotenzialen. Hier hat es die Landesregierung verpasst, aus den Erfahrungen anderer Länder zu lernen und dem rheinland-pfälzischen Schulsystem ein neues Gesicht zu geben. Frau Brede-Hoffmann hat schon auf unseren Finnlandbesuch aufmerksam gemacht. Ich mache das noch einmal und schaue dabei insbesondere Herrn Kollegen Keller an. Die Chance wäre da gewesen.

Wir GRÜNEN fordern Sie deshalb auf, zum Ersten die gemeinsame Schulzeit der Schülerinnen und Schüler in einem ersten Schritt – wie wir es in unserem Antrag formuliert haben – bis zum Ende der Orientierungsstufe zu verlängern. Wir wollen mit mehr, frühzeitiger und umfassender individueller Förderung Klassenwiederholungen überflüssig machen und die damit frei werdenden Ressourcen – die wird es geben; das wissen Sie auch – für eine bessere individuelle Förderung aller einsetzen. Wir wollen am liebsten Noten schrittweise durch vernünftige Lernentwicklungsberichte ersetzen. Wir wollen gemäß der Anmeldung auch für integrierte Gesam tschulen in erreichbarer Entfernung eine Schule dieser Schulart einrichten.

Meine Damen und Herren, es ist nämlich möglich, in einem Schulsystem Chancengleichheit herzustellen. Es ist auch möglich, alle Kinder gemäß ihrem Leistungspotenzial individuell und optimal zu fordern und zu fördern. Es ist eben auch möglich, Kinder mit Migrationshintergrund zu integrieren und über das Schulsystem zu einem sozialen Ausgleich in unserer Gesellschaft beizutragen. Das zeigen uns die PISA-Siegerländer. Das zeigt uns insbesondere auch Finnland.

Zwei Beispiele dazu: In Deutschland ist es so, dass 10 % aller Schülerinnen und Schüler die Schule ohne einen Abschluss verlassen. In Finnland sind es 3 %. Bei uns ist es so, dass 9 % aller Schülerinnen und Schüler bei PISA die höchste Kompetenzstufe erreichen. In Finnland sind es 18 %.

Meine Damen und Herren, das sind deutliche Signale dafür, dass wir uns in ein System hinbewegen müssen, das dem in Skandinavien ähnelt.

Unsere Kritik an der rheinland-pfälzischen Schulstruktur wird auch in zahlreichen Stellungnahmen – VBE, GEW, Landeselternbeirat – bestätigt, aber nicht ansatzweise im Gesetzentwurf aufgegriffen.

Meine Damen und Herren, zum Zweiten: Auch was die Selbstständigkeit von Schulen angeht, hinkt RheinlandPfalz leider hinterher. Den Schulen wird weiterhin verweigert, nach den Notwendigkeiten und auch nach den Möglichkeiten vor Ort zu entscheiden, sich zu profilieren. Auch das ist das Problem. Profilierungen von Schulen zugunsten eines attraktiveren und besseren Unterrichts werden verweigert.

(Zuruf der Abg. Frau Morsblech, FDP)

Wir geben den Schulen nicht die Möglichkeiten, sich selbst weiterzuentwickeln. Wir geben ihnen vor allem nicht die Ressourcen.

Meine Damen und Herren, genau das ist das Problem. Genau das fordern wir GRÜNEN in unserem Entschließungsantrag.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir brauchen für eine stärkere Selbstständigkeit der Schulen, wie wir sie fordern, auch den Ausbau der inneren Demokratie der einzelnen Schule; denn wenn wir den Schulen mehr Möglichkeiten geben, müssen wir sichergehen, dass die Entscheidungen, die an die einzelnen Schulen delegiert werden, auch in einem transparenten Verfahren getroffen werden. Hierzu brauchen wir unserer Meinung nach ein Schulforum – wie wir es nennen –, paritätisch besetzt aus Schülerinnen und Schülern, Lehrerinnen und Lehrern und Eltern, die dann grundsätzliche Entscheidungen zur Umsetzung der den Schulen zugewiesenen Aufgaben treffen können. Dieses Schulforum kann diese Entscheidung treffen. Es kann auch Schwerpunkte und Leitlinien der schulischen Arbeit vom Budget bis zur Unterrichtsgestaltung festlegen.

Wir machen dies deutlich, indem wir zum Ersten fordern, dass die Schulen zu einer wirklichen Selbstverwaltung ein ausreichendes Gesamtbudget und das Recht auf

Auswahl einzelner Lehrerinnen und Lehrer haben. Die Schulen sollen das Recht bekommen, ihre Lehrer gemäß ihrem Profil auszuwählen.

Zum Zweiten wollen wir als eine wesentliche Grundlage für eine weitere Qualitäts- und Unterrichtsentwicklung der jeweiligen Schulen, dass die Schulen selbstständig über Unterrichtsorganisation, Unterrichtsgestaltung, Bildung von Lerngruppen, zeitliche und örtliche Organisation der Lernprozesse, Ausgestaltung der Leistungsbewertungen und Differenzierungsangebote entscheiden.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, noch ein Punkt, der uns besonders wichtig ist – Herr Kollege Keller hat es schon erwähnt –: Es geht uns um eine ganz andere Stellung von Schulleiterinnen und Schulleitern als das, was Sie, liebe Frau Ministerin Ahnen, in Ihrem Gesetzentwurf formuliert haben. Für uns ist Schulleitung tatsächlich Dienstvorgesetzte und ganz wesentlich ein Teil der Fachaufsicht, und es geht darum, dass sie für die systematische und kontinuierliche Fort- und Weiterbildung des Lehrkörpers verantwortlich ist, insbesondere im Hinblick auch auf die Umsetzung des Schulprogramms. Dazu muss Schulleitungspersonal weiterqualifiziert werden, und zwar verbindlich weiterqualifiziert werden, insbesondere in den Bereichen Schulentwicklung, Schulrecht, Personalmanagement, Qualitäts- und Budgetmanagement.

Meine Damen und Herren, über diese beiden Schwerpunkte, die ich genannt habe, also mehr individuelle Förderung durch längeres gemeinsames Lernen und mehr wirkliche Selbstständigkeit an den Schulen, hinaus ist es aus unserer Sicht dringend geboten, auch an einigen Punkten noch einmal deutlich das Recht der Schülerinnen und Schüler und auch der Eltern zu erweitern. Wir machen dies deutlich, indem wir zum einen in unserem Änderungsantrag fordern, dass wir das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung für die volljährigen Schülerinnen und Schüler wiederherstellen, indem wir zum Zweiten einen Rechtsanspruch auf Hausund Krankenhausunterricht für langfristig erkrankte Schülerinnen und Schüler gesetzlich festschreiben wollen.

Wir wollen, dass Eltern mit Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf tatsächlich die Wahl haben, an welcher Schulart ihre Kinder gefördert werden sollen.

Ferner wollen wir die Schulbesuchspflicht für Kinder von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern durchsetzen. Ein weiterer relativ wichtiger Punkt, von dessen Bedeutung wir glücklicherweise die CDU überzeugen konnten, ist die Finanzierung von Integrationshelferinnen und Integrationshelfern. Darüber haben wir lange im Ausschuss diskutiert. Wir GRÜNEN sind der Meinung, dass Integration Landesaufgabe ist und es deshalb um eine Finanzierung aus dem Landeshaushalt für Integrationshelferinnen und Integrationshelfer geht. Dadurch können Unsicherheiten, die in den Kommunen aufgetreten sind, beendet und beseitigt werden.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herr Lelle wartet bereits; denn ich muss noch einmal kurz etwas zu dem Abitur nach zwölf Jahren sagen. Dieser Vorschlag ist der schlichte Versuch, das Gymnasium in Rheinland-Pfalz aus dem übrigen Schulsystem herauszulösen und ihm eine noch exklusivere Rolle in unserem Schulsystem beizumessen. Das Problem Ihrer Argumentation ist, dass nicht einmal mehr der Philologenverband Ihren Antrag befürwortet. Wenn schon nicht der Philologenverband dafür ist, dann kann ich auch nicht dafür sein.

(Unruhe im Hause)

Wir als GRÜNEN-Fraktion lehnen Ihren Antrag ab, weil er die ohnehin schon viel zu geringe Durchlässigkeit des gegliederten Schulwesens vollends zerstören würde.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ohne Zweifel – das betone ich – kann man in einer kürzeren Zeit ein Abitur machen, ohne Qualitätsverluste erleiden zu müssen. Lieber Herr Kollege Lelle, lieber Herr Kollege Keller, dann schauen Sie aber einmal über die Landesgrenze hinweg. Schauen Sie einmal nach NRW, wie es dort gemacht wird. Die rotgrüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat in der vergangenen Woche ein Konzept vorgestellt, das kein schnödes Sparkonzept ist, sondern das tatsächlich draufsattelt. Deshalb müssen Sie auch sagen, wenn wir draufsatteln müssen. Außerdem müssen Sie uns erst einmal sagen, woher wir das Geld nehmen sollen; denn Ihr Konzept kann sehr leicht zu einem Sparkonzept werden wie KOSI 2010 usw.

Herr Kollege Wiechmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Dr. Rosenbauer?