Protocol of the Session on March 17, 2004

Eine sonst wenig beachtete Frage ist die Frage nach der Gewalt in Pflegebeziehungen. Hier sind neben körperlicher Gewalt, die durchaus in einem zählbaren Ansatz zu erkennen ist – nämlich jeder 25. der Pflegebedürftigen hat solche Dinge schon einmal erlebt –, auch Vernachlässigung, seelische Misshandlung, finanzielle Ausnutzung und Freiheitseinschränkung zu nennen. Nach einer Schätzung sind es etwa 6 % bis 7 % der Pflegebedürftigen oder der Pflegebeziehungen, in denen solche Gewalt zu beobachten ist.

Vor allem kommt das in engen sozialen oder privaten Beziehungen vor. Das ist eher auch ein Zeichen für die Überlastung von Familien. Die Dunkelziffer ist da sicher sehr groß.

Was auch eine wichtige Antwort ist, sind die Gründe zur Übernahme der häuslichen Pflege. Nun ist es natürlich so, dass wir alle am liebsten Zeit unseres Lebens in einer möglichst großen Selbstständigkeit und zu Hause leben möchten. Das ist der Hauptwunsch der Pflegebedürftigen, der Verbleib im häuslichen Bereich, und auch der pflegenden Angehörigen, diesen Verbleib zu sichern. Deshalb ist es auch wichtig, diese Pflegebereitschaft der Familien, der Nachbarn und der Freunde entsprechend zu stärken.

Ich bin vorhin schon einmal auf das Alter der Pflegenden eingegangen. Außer der genannten Gruppe der pflegenden Frauen, von denen über die Hälfte zwischen 40 und 65 ist, ist zu bemerken, dass immerhin ein Viertel aller Pflegenden über 65 Jahre bis 79 Jahre und 5 % sogar über 80 Jahre alt sind. Hier sind es vor allem alte Ehepartner, die ihre Partnerin oder ihren Partner pflegen.

Oft wird rund um die Uhr gepflegt, wobei die Pflegeversicherung mit einem guten Grund den Zeitaufwand nach einer nicht ausgebildeten Pflegeperson zuordnet, also

nicht nach dem Zeitaufwand, den eine Pflegeeinrichtung benötigt, sondern nach nicht ausgebildeten Pflegepersonen. Trotzdem gibt es da eine ganze Reihe von Pflegebedürftigen, die nicht diese mindestens eineinhalb Stunden am Tag erreichen.

Ich habe schon über die Hilfen gesprochen: Pflegekurse und Rentenversicherung. – Es gibt darüber hinaus Beratung. Es gibt zusätzliche Betreuungsleistungen. Es gibt eine Unfallversicherung für die pflegenden Angehörigen, also eine ganze Reihe von Möglichkeiten die allerdings zum Teil bekannter gemacht werden müssen.

In Rheinland-Pfalz habe wir eine umfassende pflegerische Infrastruktur. Mit der Qualitätsoffensive „Menschen pflegen“ des Sozialministeriums haben wir auch einen Ansatz, in dieser Situation erhebliche Hilfen zur Verfügung stellen zu können. Es gibt insgesamt 380 ambulante Pflegedienste im Land, 135 ambulante Hilfezentren mit Beratungs- und Koordinierungsstellen, die entsprechende Informationen anbieten, die Schulungskurse anbieten, die Selbsthilfegruppen anbieten, die auch Sachleistungen anbieten.

Darüber hinaus sind auch niedrigschwellige Betreuungsangebote und Kurzzeitpflege, 108 Einrichtungen mit insgesamt 682 Plätzen, erwähnenswert. Hier besteht noch weiterer Bedarf.

Dann kam am Ende dieser Fragestellungen und am Ende der Beantwortung durch die Landesregierung noch ein wesentlicher Punkt hinzu, nämlich welche zentralen Fragen uns in der Zukunft beschäftigen werden.

Die Vereinbarkeit von Pflegetätigkeit und Beruf wird das eine sein. Ein Drittel der pflegenden Frauen in dem beschriebenen Alter hat den Beruf aufgegeben, um pflegen zu können. Das ist eine ganz wichtige Geschichte. Hier ist die Qualitätsinitiative „Pflege“ ebenfalls zu bemerken. Aber darüber wird die Frau Ministerin sicher noch sprechen.

Der zweite Punkt – Förderung der häuslichen Pflegebereitschaft – hängt wesentlich mit der landesweiten flächendeckenden Grundversorgung zusammen, und wir werden den Ausbau der teilstationären Angebote beobachten müssen.

Der dritte Punkt, den ich mit einem persönlichen Interesse betrachte, sind die pflegenden Familien, die Menschen mit demenziellen Erkrankungen pflegen. Wir stehen einerseits am Anfang einer dramatischen Entwicklung. In diesem Plenum ist schon öfter darauf hingewiesen worden. Andererseits – dies ist ein eher optimistischer oder vorsichtig optimistischer Ausblick – zeichnen sich hoffnungsvolle Entwicklungen im Bereich der Diagnostik und Therapie ab, auch gerade im Bereich der medikamentösen Therapie – das ist auch ein Erfolg der Überlegungen, niedrigschwellige Angebote zur Verfügung zu stellen –, sowie Fortschritte in der Gestaltung von Versorgungsmodellen, die wir in den nächsten Jahren beobachten müssen und auch landesweit beispielhaft weiterentwickeln können.

(Glocke der Präsidentin)

Ich danke der Landesregierung im Namen meiner Fraktion für die Antwort und auch für die Aktivitäten, die in diese Richtung führen.

(Beifall der SPD und des Abg. Dr. Schmitz, FDP – Zuruf der Abg. Frau Kohnle-Gros, CDU)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Rüddel das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Die zukünftige Entwicklung des Pflegebedarfs wird generell von demographischen und sozialen Rahmenbedingungen bestimmt. Die Entwicklung von Morbidität, Lebenserwartung und Migration spielt dabei eine entscheidende Rolle. Maßgebend für die Deckung eines zukünftig steigenden Pflegebedarfs ist vor allem die Entwicklung der Familienstrukturen, weil von ihnen die Verfügbarkeit von Pflegepotenzialen abhängt.

Die häusliche Pflege wird derzeit noch fast zu drei Vierteln von Personen, die zu den Pflegebedürftigen einen engen verwandtschaftlichen Grad haben, erbracht. Insgesamt handelt es sich bei den Pflegepersonen überwiegend um Frauen. Ob diese Entwicklung so bleibt, hängt davon ab, in welchem Tempo sich der Strukturwandel in der Familie fortsetzt.

In der Tat lassen Individualisierungen und Pluralisierung von Lebensformen einen Rückgang der familiären Unterstützungspotenziale erwarten.

Der Wandel des Familienbilds stellt jene traditionellen Strukturen infrage, in die die Älteren und Pflegebedürftigen bislang eingebettet waren. Hinzu kommt die steigende Erwerbstätigkeit von Frauen, die ihre objektive Verfügbarkeit, aber auch ihre subjektive Bereitschaft zur Übernahme von Pflegeaufgaben in der Familie vermindert.

Zu nennen ist schließlich die geographische Mobilität, die häufig auch eine Entfremdung zwischen den Generationen beeinflusst.

Die zukünftige Situation von Pflegebedürftigen wird auch von der Entwicklung der Haushaltsstrukturen von Älteren beeinflusst. Die Frage ist, ob sich der Trend zur Singularisierung im Alter in Zukunft verstärkt.

Im Hinblick auf den Zeitraum bis 2040 stellt sich jedenfalls die Frage, ob die heutige mittlere Generation im höheren Lebensalter über genügend Verwandte verfügen wird, die als Pflegepersonen grundsätzlich in Betracht kommen, und ob dieser Personenkreis auch zur Hilfe und Pflege bereit sein wird.

Sehr geehrte Damen und Herren, damit diese Szenarien sich nicht massiv auf die Entwicklung der familiären Pflege auswirken, muss vorrangig die Familie grundsätzlich gestärkt werden.

(Beifall der CDU)

Die heute bereits pflegenden Angehörigen, vornehmlich Frauen, verdienen unser besonderes Augenmerk und unsere ganze Unterstützung.

(Beifall bei der CDU)

Die Forschungsgesellschaft für Gerontologie der Universität Dortmund und der Caritasverband für das Erzbistum Köln haben in einer Untersuchung festgestellt, dass Angehörige pflegebedürftiger Menschen oft selbst erkranken. Grund sei die extreme Belastung durch die schwierige Betreuung der nächsten Angehörigen. Danach leiden 75 % der Pflegenden unter Rückenschmerzen, Schlafstörungen, Erschöpfungszuständen oder anderen Krankheiten. 88 % der Befragten fühlten sich ausgebrannt, überfordert oder hätten familiäre Spannungen zu bekämpfen.

Diese psychischen und physischen Belastungen von pflegenden Angehörigen werden zu einem steigenden Bedarf an stationärer, teilstationärer oder ambulanter Versorgung führen. Da pflegende Angehörige oft nur eine begrenzte Zeit dieser enormen Aufgabe gewachsen sind, brauchen wir Strukturen, die diesen Menschen langfristig Kraft und Motivation geben. Ihre Unterstützungserwartung richtet sich dabei zuerst überwiegend an das familiäre und soziale Umfeld, dann aber auch an eine pflegegerechte Infrastruktur.

Durch die in den kommenden Jahren zu erwartende extreme Zunahme hochbetagter Menschen, wird auch der Anteil Dementer an den Pflegebedürftigen deutlich zunehmen. Nach Untersuchungen sind heute bereits im stationären Bereich bis zu 75 % und im häuslichen Bereich der Pflege durchschnittlich 21 % der gepflegten Menschen demenziell erkrankt. Hier fehlt ein Gesam tkonzept, das von der Prävention zur Früherkennung über die Behandlung bis hin zur Pflege führt.

Ziel muss es sein, die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung auf den dramatischen Anstieg der an Demenz erkrankten Menschen vorzubereiten. So, wie der Grundsatz „ambulant vor stationär“ gefestigt werden muss, so muss zukünftig auch gelten, Prävention und Rehabilitation vor Maßnahmen der Pflege. Versäumnisse oder Fehlentwicklungen in diesem Bereich führen unweigerlich zur Überlastungssituationen in der familiären Pflege und zu tragischen Leidenswegen der Erkrankten.

Um den pflegenden Angehörigen zu helfen und auch um Anreize zu schaffen, müssen demenziell erkrankte Menschen stärker in die Pflegeversicherung einbezogen werden. Hier muss der verrichtungsbezogene Pflegebegriff um den Hilfebedarf für die allgemeine Beaufsichtigung und Betreuung von Dementen in zeitlich begrenztem Umfang erweitert werden.

(Beifall der CDU)

Im ambulanten Leistungsbereich müssen auch die niedrigschwelligen Betreuungsleistungen weiter ausgebaut werden. Aber derzeit reichen diese Erstmaßnahmen vom Umfang her noch nicht aus, pflegende Angehörige zu entlasten und eine bedarfsgerechte Versorgung in der häuslichen Pflege zu stärken. Es muss auch der Tendenz der pflegenden Angehörigen zur Abschottung nach außen und zur Selbstüberschätzung entgegengewirkt werden. Dazu sind am ehesten niedrigschwellige Angebote geeignet, welche den pflegenden Personen die probeweise Inanspruchnahme von zeitlich begrenzten Dienstleistungen ermöglichen. Diese Strategien müssen durch eine Ausweitung von spezifischen Betreuungsangeboten im ambulanten, teilstationären und stationären Bereich ergänzt werden. Um eine effektive Nutzung dieser Einrichtungen zu ermöglichen, müssen auch geeignete Versorgungskonzepte entwickelt werden.

Sehr geehrte Damen und Herren, um pflegebedürftige Angehörige und besonders auch Demente möglichst lange in der eigenen Häuslichkeit zu versorgen, muss auch die individuelle Schulung der pflegenden Angehörigen verstärkt werden.

(Beifall bei der CDU)

Hierzu ist ein Netzwerk mit Pflegekursen weiter auszubauen, in denen für die Häuslichkeit Hilfe geboten wird. Diese Hilfe muss bereits im Krankenhaus und in der Reha beginnen.

Die Erfahrungen zeigen, dass mit individuellen Schulungen und Pflegekursen sowie der Überleitungspflege eine wirkungsvolle Unterstützung pflegender Angehöriger erreicht wird.

Ein weiterer Ausbau dieses Netzwerks kann erfolgreich dazu beitragen, frühzeitig Überlastungssituationen in der Familie festzustellen oder auch Pflegefehler zu vermeiden. Fast alle Familienangehörigen, die vorbehaltlos oder bedingt zur Pflege von Angehörigen bereit sind, wünschen sich Unterstützung durch professionelle Pflegekräfte oder durch ein entlastendes Netzwerk auf örtlicher Ebene.

Sehr geehrte Damen und Herren, zur Unterstützung der Familienpflege hat sich die Pflegeversicherung grundsätzlich bewährt.

Gerade die aktuellen Entwicklungen in unserer Gesellschaft machen eine solide Vorsorge für den Fall der Pflegebedürftigkeit unverzichtbar. Die Pflegeversicherung muss dergestalt weiterentwickelt werden, dass häusliche Pflege gestärkt und das Engagement der pflegenden Angehörigen besser gewürdigt wird.

Im Rahmen künftiger Steuerreformen muss geprüft werden, ob und in welchem Umfang die steuerliche Abzugsfähigkeit haushaltsnaher Dienstleistungen auch auf den Pflegebereich ausgeweitet werden kann. Zur Stärkung der Bereitschaft von Familien, pflegebedürftige Angehörige zu versorgen, ist es sicherlich notwendig, darüber nachzudenken, ob das Pflegen von Angehörigen den gleichen beitragssenkenden Charakter in der Sozialversicherung bekommt, wie dies vom Bundesver

fassungsgericht bereits für die Kindererziehung gefordert wurde.

Sehr geehrte Damen und Herren, um einen Kollaps in unserem Pflegesystem zu vermeiden, ist konsequentes Handeln angesagt. Dabei ist die Landesregierung und insbesondere Sie, Frau Ministerin Dreyer, gefordert. Stärken Sie die Familie. Stellen Sie die Familie in den Fokus Ihrer Politik; denn nur so können wir diese Herausforderung grundlegend bewältigen.

Vielen Dank.

(Beifall der CDU)

Es spricht Herr Abgeordneter Dr. Schmitz.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Es ist schon recht aufschlussreich, wenn uns morgens der Fraktionsvorsitzende das Kirchhof-Modell vorstellt und abends neue steuerliche Sondertatbestände als Lösung des Problems genannt werden. Meine Damen und Herren, so geht es nicht.

(Beifall der FDP und der SPD)