Protocol of the Session on February 12, 2004

(Beifall der CDU)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Mertes das Wort zu einer Kurzintervention.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ich habe den Artikel auch gelesen. Ich bin Herrn Kollegen Dr. Gölter dankbar, dass er ihn zitiert hat, weil er damit in der Tat das künftige Umfeld der Bundesrepublik in Europa beschrieben hat. Das ist die eine Seite.

Die zweite Seite ist: Der Zwischenruf, der von der Regierungsbank kommt, ist genauso wahr. Ich will ihn jetzt auf meine Art interpretieren.

(Zuruf des Abg. Wirz, CDU)

Lassen Sie mich doch – – –

Ich finde zu Recht, dass er eine sachliche Rede gehalten hat. Ich mache jetzt in aller Ruhe zu den 19 % eine Ausführung. Wenn Sie das vielleicht ertragen könnten. Es dauert maximal drei Minuten.

Ist die Bundesrepublik Deutschland, ist der industrialisierte Westen insgesamt mit 19 % Körperschaft-, Einkommen- und Mehrwertsteuer in seinen Strukturen so haltbar, wie wir ihn haben?

(Zurufe aus dem Hause: Nein!)

Nein. Das ist keine Frage.

Die nächste Frage: Wie wollen wir diesen industrialisierten Westen haben? Wollten wir nicht mehr Geld für Bildung ausgeben? Wollten wir und müssen wir nicht mehr Geld für Gesundheit und Alter ausgeben? Das heißt, wir werden diesen Wettlauf in dem Moment verlieren, wo wir ihn politisch annehmen, es sei denn um den Preis, wir würden das Gleiche wie Herr Miklos machen und sagen – das ist genau der Zwischenruf gewesen –, okay, es werden einige auf der Strecke bleiben. Es sind schon immer welche auf der Strecke geblieben. Wir können auch genau sagen, worum es geht. Das ist die andere Seite.

Als ich zum ersten Mal darüber las, wurde mir klar, die anderen Armen werden sich so verhalten, wie wir Armen nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie werden sich verkaufen um das, was nur geht, um ein Stück vom Lebensglück

zu erhaschen. Wir werden die Unbeweglicheren sein – so wie damals die Amerikaner –, weil wir einen bestimmten Standard haben und diese Bewegung, Kraft, Anstrengung und Bereitschaft zum Leid nicht aufbringen werden.

Ich fand es gut, dass Sie dies mit den 19 % eingebracht haben, weil das nur der Anfang ist. Was wird uns geschehen, wenn die EU über die Ägäis hinaus mit 80 Millionen Einwohnern erweitert wird? Ich denke, auch das wird eine Rolle in der Steuerpolitik spielen. Die werden alle erkennen, welche Rolle es spielen kann.

Herzlichen Dank.

(Beifall der SPD)

Ich erteile Herrn Abgeordneten Dr. Schiffmann das Wort.

Sehr geehrter Herr Kollege Dr. Gölter, die Größe der Herausforderung, die Sie beschrieben haben, sehen wir genauso. Ich denke, es war auch der Grundtenor der Regierungserklärung, dass wir vor einer bis dahin historisch noch nicht da gewesenen Größe der Herausforderung stehen.

Es führt ab dem 1. Mai kein Weg daran vorbei. Wir müssen noch europäischer werden. Noch weniger als in der EU der 15 werden wir es uns in der EU der 25 leisten können, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft nur national oder regional zu denken.

Die Frage, wo wir im Gefüge und im Wettbewerb der 25 Staaten stehen und ob unser Standort zukunftsfähig genug ist, um unseren Wohlstand zu erhalten, muss uns alle leiten und umtreiben: die Politiker, die Gewerkschaften, die Unternehmer, die Handwerker, die Selbs tständigen, eigentlich alle Menschen in Deutschland.

Das größere Europa wird den Zwang verstärken, nicht stillzustehen, sondern die Veränderungen energisch in Angriff zu nehmen, die notwendig sind, um die wirtschaftliche Dynamik zurückzugewinnen, die wiederum erst einen handlungsfähigen Staat und Sicherheit, insbesondere auch soziale Sicherheit für alle Menschen, ermöglicht.

Insofern hat die AGENDA 2010 nicht nur ganz abstrakt etwas mit den Folgen der Globalisierung und den dem ographischen Veränderungen in unserer Gesellschaft zu tun, sondern auch mit den neuen Herausforderungen des neuen Europas der 25.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, sehr geehrter Herr Minister Bauckhage, Ihre Regierungserklärung 79 Tage vor dem Termin der größten Erweiterung, die die Europäische Union je erfahren hat, war notwendig und hat ein Zeichen gesetzt, ein Zeichen, indem Sie nicht nur die Chancen und Herausforderungen beschrieben haben, die für uns darin stecken, sondern indem Sie

deutlich gemacht haben, dass die Landesregierung, aber auch die rheinland-pfälzische Wirtschaft sich schon früh auf die Erweiterung eingestellt und sich mit einer Vielzahl von Maßnahmen und Aktionen darauf vorbereitet haben.

Sie haben zu Recht beispielsweise auf das gemeinsame Wirtschaftsbüro in der Woiwodschaft Oppeln und auf das Baltische Büro verwiesen, das seit fünf Jahren auf dem Hahn arbeitet.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben es gehört, Europa hat ein spannendes und zugleich entscheidendes Jahr vor sich. Am 1. Mai treten zehn Länder der EU bei; die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union. Damit wird die Teilung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig und dauerhaft überwunden.

(Beifall der SPD und bei der FDP)

Der Prozess der demokratischen Umwälzung im Osten Deutschlands und in den Staaten Mittel- und Osteuropas von 1989/1990 war von Anfang an mit der Perspektive einer Einbettung dieser Staaten in den Prozess der europäischen Einigung verbunden. Die Vision der streikenden Arbeiter der Danziger Lenin-Werft von 1980 war immer auf Polens Zugehörigkeit zum demokratischen Westeuropa gerichtet.

Ohne die von Willy Brandt angestoßene und gegen heftigste innenpolitische Widerstände durchgesetzte neue Ostpolitik, ohne die Politik der Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn Deutschlands, ohne die Ostverträge, ohne das Symbol des Kniefalls von Willy Brandt im Warschauer Getto und ohne den KSZE-Prozess wäre die historische Wiedervereinigung Europas, die wir jetzt erleben dürfen, nicht möglich gewesen.

Sie wäre allerdings auch nicht ohne die demokratische Revolution der Völker und ihre Bereitschaft, einen historisch beispiellosen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozess auf sich zu nehmen, wie es ihn bisher noch nicht gegeben hat, möglich gewesen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Entwicklung der EU ist historisch ein einmaliger Prozess, der uns nach Jahrhunderten von Krieg und Zerstörung jahrzehntelang Frieden und Wachstum in Europa gesichert hat.

Die gemeinsame Erfahrung der Kriege des 20. Jahrhunderts und deren Ursachen sind einer der großen Antriebe zur Vereinigung Europas gewesen. Europa hat daraus weltweit beispielslos Lehren gezogen, die eine Wiederholung dieser Katastrophen unmöglich machen sollen und unmöglich machen werden.

In Westeuropa haben die Feinde von einst mit der Europäischen Union eine Gemeinschaft von Staaten geschaffen, deren Ideal und Leitmotiv die Freiheit des Individuums war, ist und bleiben wird.

In konsequenter Anstrengung sind die Barrieren beseitigt worden, die die Märkte der Nationalstaaten voneinander abgeschottet haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Europa ist heute aber weit mehr als der größte offene Binnenmarkt der Erde. Europa ist auch eine Wertegemeinschaft, und die europäische Einigung ist ein Vorbild für andere Weltregionen geworden.

Die jetzt zum 1. Mai anstehende größte Erweiterung der Union dient der dauerhaften Sicherung dieser Friedensordnung und der politischen Stabilität Europas. Damit wird sie bei allen schwierigen internen Debatten und ungelösten Strukturfragen der gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik die Rolle Europas in der Welt stärken.

Dass wir in Westeuropa seit der demokratischen Revolution in Osteuropa seit 1990 schon eine große, wenn auch wegen der Konversionsprobleme nicht immer unproblematische Friedensdividende durch die zurückgehenden oder zumindest eingefrorenen Militärausgaben einstreichen konnten, sollten wir alle nicht vergessen.

Wir haben schon profitiert. Auch das gehört zur Gesamtrechnung dazu.

(Vizepräsidentin Frau Hammer übernimmt den Vorsitz)

Der gemeinsame Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts wird weit nach Ost- und Südosteuropa ausgedehnt. Das bedeutet nicht nur ein Mehr an persönlicher Freiheit der Menschen in Europa, sondern auch die Verstärkung des Kampfes gegen die organisierte grenzüberschreitende Kriminalität und damit ein Mehr an persönlicher Sicherheit und rechtsstaatlicher Sicherheit für die Wirtschaft.

(Vereinzelt Beifall bei SPD und FDP)

Meine Damen und Herren, die Übertragung der Standards der Europäischen Union im Bereich des Umweltschutzes auf die Beitrittsstaaten – auch wenn in dem einen oder anderen Fall vielleicht zu lange Übergangsfristen vereinbart worden sind – wird nicht nur die gesamte Umweltbilanz Europas verbessern und für die Harmonisierung von Wettbewerbsbedingungen zwischen den Staaten sorgen, sondern sie wird auch einen Innovationsschub in diesen Ländern auslösen, der für unsere Wirtschaft erhebliche Chancen beinhaltet.

Meine Damen und Herren, das Verbindende der europäischen Gesellschaften manifestiert sich in der Frage, ob Europa demokratisch, feudal oder diktatorisch regiert wird, ob das Individuum durch Menschenrechte geschützt und mit Bürgerrechten ausgestattet ist, ob alle Menschen in gleichem Maß an politischen Entscheidungen teilhaben können und ob Minderheiten – auch ein großes europäisches Thema – Schutz genießen und ihre Lebensverhältnisse menschenwürdig sind.

Herr Minister Bauckhage hat vom Wettbewerb als dem Grundprinzip wirtschaftlicher Innovation und Prosperität in der Europäischen Union gesprochen und davon, dass der Wettbewerb der Garant für besondere Anstrengungen der Menschen in den Beitrittsstaaten sei. Der Wettbewerb ist sowohl innereuropäisch als auch global wichtig. Wir müssen uns ihm stellen. Er muss aber einge

bettet werden in einen Ordnungsrahmen, der einen fairen Wettbewerb ermöglicht und den Menschen soziale Sicherheit bietet. Es geht um die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit in Europa. Vor allem geht es aus unserer Sicht aber auch um die Sozialstaatlichkeit im alten und im neuen Europa und um das, was wir in Deutschland als soziale Marktwirtschaft geschaffen haben. Wir wollen ein Europa, in dem alle Menschen die Chance haben, ein Leben in Freiheit und Würde zu führen. Der Wettbewerb kann und darf nicht durch ein bodenloses Sozialdumping geführt werden, der dann einen Prozess des allgemeinen Sozialabbaus auslösen würde. Das wäre den Menschen bei uns nicht zu vermitteln.

Meine Damen und Herren, Herr Minister Bauckhage hat in Bezug auf die Beitrittsstaaten von dem für Investoren aus Deutschland positiven Standortfaktor der niedrigen Steuersätze und davon gesprochen, dass von diesem Wettbewerb der Steuersysteme alle profitieren werden. Auch das ist in einem bestimmten Maß richtig. Genauso nur zum Teil richtig wäre es aber auch, würde man als positiven Standortfaktor davon sprechen, dass die Steuerverwaltungen in den meisten der Beitrittsstaaten ineffizient und noch gar nicht in der Lage bzw. willens sind, alle zustehenden Steuern einzutreiben.

(Dr. Gölter, CDU: Unsere ist aber ineffizient!)

Mit fairem Wettbewerb scheint es mir nicht vereinbar, auf der einen Seite Steuerdumping und einen Verzicht auf Steuereinnahmen zu betreiben und auf der anderen Seite sich von den Staaten, die man steuerlich gnadenlos unterbietet, über deren Nettozahlung zum EUHaushalt regionale Strukturpolitik, die Kohäsionspolitik, finanzieren zu lassen. Diese Rechnung kann und darf auf Dauer nicht aufgehen.

(Vereinzelt Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren, die gegenwärtig nach der Vorstellung der finanziellen Vorausschau der Europäischen Kommission für den Zeitraum 2007 bis 2013 geführte heftige Debatte über die Frage, ob die Erweiterung eine Erhöhung des EU-Haushalts um nahezu 40 % auf 1,24 % des Bruttoinlandsprodukts der Europäischen Union rechtfertigt oder sogar unabdingbar notwendig macht, hängt natürlich vor allem mit dem Streit um den Stabilitätspakt, mit den Sparvorgaben der Europäischen Kommission vor allem mit dem Nettozahler Deutschland zusammen. Die Situation der öffentlichen Haushalte in Deutschland lässt eine Ausweitung der deutschen Zahlungen an den EU-Haushalt aus unserer Sicht nicht zu. Herr Dr. Gölter, es bleibt Ihnen natürlich unbenommen, Ihre Position in Bezug auf die Obergrenze darzustellen.

(Dr. Gölter, CDU: Ich habe doch gar nichts gesagt!)