Protocol of the Session on November 6, 2003

Herr Kollege, ich komme zur dreijährigen Oberstufe. Jetzt wird es langsam lächerlich. Sie wie ich wissen, dass es Richtlinien der Kultusministerkonferenz gibt, an denen die Schulen in Rheinland-Pfalz, selbst wenn sich die CDU durchsetzen würde, mit ihrer Idee nicht vorbeikommen. Wir müssen die vorgeschriebenen Stundenzahlen haben. Wir wissen, dass wir das nur in drei Jahren machen können. Es gibt keinen anderen Weg an der Verkürzung im Bereich der Sekundarstufe I, der Gefährdung der Abiturientenquote und der Übergangsquote vorbei. Sie riskieren diese Nachteile für die Schülerinnen und Schüler sehenden Auges im Glauben daran, dass

sie mit denjenigen, die das in etwas kürzerer Zeit schaffen,

(Glocke der Präsidentin)

eine ganze Sekundarstufe I reformieren könnten.

(Beifall der SPD)

Für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erteile ich Herrn Abgeordneten Wiechmann das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Frau Brede-Hoffmann, ein Satz vorweg zu Ihnen. Eigentlich wollte ich zu dem Antrag der CDU erst zum Schluss kommen. Bei aller Liebe, fast jeder Vorschlag – zweifelsfrei gibt es unterschiedliche Interpretationen des Antrags der CDU; auch wir unterstützen ihn nicht – wäre besser als das, was im Moment in diesem Land Fakt ist, nämlich zwölfeinhalb Jahre. Niemand weiß, wie es funktioniert. Alle sind unzufrieden damit.

Frau Brede-Hoffmann, das haben Sie überhaupt nicht thematisiert. Das ist eine ganz entscheidende Sache.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der CDU)

Meine Damen und Herren, ich werde am Schluss noch einmal ausführlicher darüber sprechen. Ich möchte erst einmal etwas zur Vorlage von Frau Ministerin Ahnen sagen.

In ein schon fast altertümlich zu nennendes Schulgesetz werden nun politisch und gesellschaftlich längst selbs tverständliche Dinge, wie beispielsweise die Gleichberechtigung von Mann und Frau, Gender-Mainstreaming oder die Gleichstellung von behinderten und nicht behinderten Menschen, in die Aufgabenbeschreibung der Schulen aufgenommen. Es ist gleichermaßen selbstverständlich, dass die Schule einen Beitrag zur Integration insbesondere auch von Kindern mit Migrationshintergrund leisten soll und damit auch auf gesellschaftliche Realitäten reagieren muss. Darüber gibt es in diesem Haus breiten Konsens. Sie können sicher sein.

Mindestens genauso wichtig wie die Aufnahme in den Aufgabenkatalog wären konkrete Umsetzungsregelungen in diesem Schulgesetz gewesen, wie beispielsweise die obligatorische Integration von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Regelschulen oder auch eine verbindliche Festlegung von besonderen Fördermaßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund.

Im Gesetzentwurf ist hierzu leider nur Fehlanzeige zu vermelden. Es gibt keine zukunftsweisenden zusätzlichen Impulse, nur – der VBE hat es nett ausgedrückt – die Normativität des Faktischen. Ich glaube, das ist das Entscheidende, was man über diesen Entwurf tatsächlich sagen muss. Ganz vieles von dem, was schon lange

Praxis an unseren Schulen in Rheinland-Pfalz ist, wird nachvollzogen.

Frau Ministerin Ahnen, Elemente wie die Qualitätssicherung und die Schulentwicklung sind wichtig. Das ist keine Frage. Bahnbrechend neu sind sie für unsere Schulen wirklich nicht.

Frau Ministerin, natürlich mussten Sie – ich mache Ihnen gar keinen Vorwurf – eben auch die neue Ganztagsschule gesetzlich normieren. Wir haben es aber genug abgefeiert. Es reicht. Ich glaube, wir sollten uns anderen und drängenden Problemen widmen.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, den Schwerpunkt „Berufsbildende Schulen“ haben Sie selbst formuliert. Ich muss Ihnen sagen, Sie haben im Wesentlichen von uns, von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, im Wesentlichen von unserem Gesetzentwurf, den wir im Jahr 2000 eingebracht haben, abgeschrieben.

(Widerspruch und vereinzelt Heiterkeit bei SPD und FDP)

Gerade die berufliche Oberschule haben wir im Jahr 2000 gefordert. Jetzt kommen Sie und vollziehen es nach. Deswegen ist auch das nichts wirklich Revolutionäres. Ich freue mich, dass die Landesregierung nun endlich einmal ein bisschen mehr ihr Augenmerk auf die berufsbildenden Schulen gelegt hat. Wir als Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN tun dies seit Jahren. Wir versprechen Ihnen, wir werden das auch weiterhin tun.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, dieser Gesetzentwurf ist mitnichten eine Neufassung, sondern er führt nur die Patchwork-Arbeit der vergangenen Jahre fort. Einzig die geschlechtsgerechte Rechtssprache durchzieht den Gesetzentwurf als ein neues Element, in dem ich ansonsten – das muss ich offen sagen – im wahrsten Sinne des Wortes keinen roten Faden erkennen kann. Der Gesetzentwurf wird in keiner Weise der wirklich großen Aufgabe gerecht, das gesamte Schulsystem in ein selbstständig agierendes System mit Output-Steuerung umzuwandeln. Gerade in diesem Bereich ist der Gesetzentwurf allenfalls halbherzig und stellt wirklich keine Antwort auf die Leistungsvergleichsstudien, über die wir lange und intensiv in diesem Haus gestritten haben, dar.

Meine Damen und Herren, die Landesregierung – weil Sie die Selbstständigkeit noch einmal angeführt haben, Frau Ministerin – hat es schlichtweg versäumt, ein System zu installieren, in dem nationale Bildungsstandards und die größtmögliche Selbstständigkeit der Einzelschulen zwei Seiten der selben Medaille sind.

Ich will dies belegen: In § 96 Abs. 3 wird im Gesetzentwurf festgelegt, dass das fachlich zuständige Ministerium Standards entwickeln und vorgeben soll. Diese sollen – wie soll es auch mit diesem Koalitionspartner anders möglich sein – bezeichnenderweise auch noch schulartspezifisch sein. In § 23 versuchen Sie zu formulieren, die andere Seite der Medaille zu fixieren. Die

„schulische Selbstverwaltung“ soll durch das Prinzip der „Selbstständigkeit der Schule“ ersetzt werden. Diese richtige Erkenntnis – das ist keine Frage –, dass sich „Qualitätsentwicklung nicht hierarchisch verordnen lässt“, mündet in diesem Gesetzentwurf in Regelungen, die genau das tun, was es eigentlich zu verhindern gilt. Frau Ministerin Ahnen, Sie schreiben den Schulen Qualitätsentwicklung im Einzelnen vor, ohne ihnen die dazu notwendigen Strukturen oder gar Rechte für entsprechende Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Das ist, glaube ich, ein gewaltiges Problem. Sie fordern vieles von den Schulen, aber Ressourcen zur Verfügung stellen, das steht in diesem Schulgesetz leider nicht.

Meine Damen und Herren, der vorliegende Entwurf einer sozialdemokratisch geführten Landesregierung gibt – das ist meine Hauptkritik – überhaupt keine Antwort zur Lösung des größten Problems des deutschen Schulwesens, nämlich der sozialen Selektivität des allgemeinbildenden Schulsystems. Sie schreiben dann auch noch in § 10 Abs. 1 Satz 2 bezeichnenderweise die nach der PISA-Studie schlicht falsche Aussage in das Gesetz hinein, dass Leistungsdifferenzierung in äußerer Form dem Ziel der individuellen Förderung Rechnung trägt. Meine Damen und Herren, das ist nach PISA schlicht Unsinn.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Weder Kinder aus bildungsfernem sozialem Umfeld noch Kinder mit Migrationshintergrund oder Kinder mit einem sehr hohen Intelligenzquotienten werden in unserem gegliederten Schulsystem ihren Potentialen gemäß gefördert. Die einen erhalten Bildungsangebote auf mittlerem Hauptschulniveau, die anderen auf mittlerem Gymnasialniveau. Das gegliederte Schulsystem konterkariert alle Bemühungen um Forderung und Förderung der Einzelnen, je nachdem wie ihr Leistungsstand ist.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Landesregierung hat es definitiv verpaßt, – – –

Wir haben sogar mit dem Ausschuss ein Land besucht, in dem das besser funktioniert und an dem wir uns orientieren sollten. Herr Kollege Keller hat hervorragende Pressearbeit nach der Reise gemacht, aber passiert und von der Landesregierung aufgenommen wurde leider überhaupt nichts.

Meine Damen und Herren, insbesondere der Bildungsbericht für Deutschland, den die KMK am 20. Oktober erstellt und vorgestellt hat, schreibt fest, dass die enge Koppelung zwischen sozialer Herkunft und Schulleistung ein zentrales Problem des deutschen Bildungssystems ist. Die Autoren dieses Bildungsberichts fordern: „Das Land muss darauf achten, dass es ihm gelingt, in seinem Bildungssystem alle auf- und auch alle mitzunehmen“. Hierfür sind besondere Anstrengungen nötig.

Liebe Frau Ministerin, vielleicht können Sie es im Ausschuss in den Beratungen dann noch einmal erklären. Wo sind Ihre Vorschläge für Regelungen, die das gegliederte Schulsystem von den Hürden befreit und die Schranken überwindet, die das Lernen der Schülerinnen und Schüler behindern. Das hat Ihnen gerade auch der

OECD-Berater, Herr Dr. Schleicher, beim 30-jährigen Jubiläum der Integrierten Gesamtschulen in RheinlandPfalz ins Stammbuch geschrieben. Wo sind Ihre Vorschläge für eine Schulstruktur, die an allen Schulen alle Kinder individuell fordert und fördert und nicht frühzeitig aussortiert und an andere Schularten abschiebt?

Meine Damen und Herren, eine Sache möchte ich noch einmal betonen. Eine Sache haben diese internationalen Vergleichsstudien gezeigt – leider wurde darauf nicht reagiert, aber ich werde in den Ausschussberatungen, da können Sie sicher sein, darauf hinwirken –, es gibt Länder und es ist möglich, in den Schulen Chancengleichheit herzustellen. Es ist tatsächlich möglich, alle Kinder ihren Leistungspotentialen gemäß individuell und optimal zu fordern und zu fördern. Es ist möglich, Kinder mit Migrationshintergrund zu integrieren. Es ist möglich – das ist mir besonders wichtig –, über das Schulsystem zum sozialen Ausgleich in der Gesellschaft entscheidend beizutragen. Das zeigen die PISA-Siegerländer. Meine Damen und Herren, davon hätten und könnten wir uns eine Scheibe abschneiden.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, weil ich ein optimistischer Mensch bin, glaube ich, dass wir in den Beratungen zu diesem Schulgesetz das eine oder andere verändern können, dass wir auch, weil wir sicher eine Anhörung zu diesem Gesetzentwurf durchführen werden, mit der Landesregierung in einigen Punkten noch Diskussionsbedarf haben, aber auch Möglichkeiten haben, zu einer Einigung zu kommen.

Meine Damen und Herren, weil ich ein optimistischer Mensch bin – jetzt komme ich zu Herrn Kollegen Keller – glaube und hoffe ich auch auf Einsicht.

(Dr. Schiffmann, SPD: Da muss man Optimist sein!)

Ich bin durchaus Optimist.

Ich hoffe auch bei dem CDU-Antrag auf Einsicht und auf deutliche Verbesserungen des Antrags, mit dem die Einführung des Abiturs nach 12 Schuljahren umgesetzt werden soll.

Herr Kollege Keller, Ja, habe ich gesagt in meiner Pressemitteilung in der letzten Woche. Das hat Sie überrascht, glaube ich. Ja, sage ich, natürlich können und müssen wir auch darüber reden, die Schulzeit zu verkürzen, aber so, wie Sie es in Ihrem Antrag geschrieben haben, machen Sie es mir besonders leicht, ihn abzulehnen, Herr Kollege Keller.

(Zuruf des Abg. Keller, CDU)

Ja, man muss sich den Antrag einmal durchlesen und dann stellt man fest, dass dieser Antrag der Fraktion der CDU der schlichte Versuch ist, das Gymnasium aus dem übrigen Schulsystem herauszulösen und ihm eine exklusive Stellung zu geben.

(Frau Brede-Hoffmann, SPD: Genau!)

Ihr Vorschlag für ein achtjähriges Gymnasium würde die sowieso schon viel zu geringe Durchlässigkeit des gegliederten Schulsystems vollends zerstören. Das ist so, Herr Lelle.

(Frau Spurzem, SPD: So ist das! – Frau Brede-Hoffmann, SPD: Genau!)

Das würde bedeuten, dass im Endeffekt nur Schülerinnen und Schüler, die nach der vierten Klasse schon auf das Gymnasium kommen, überhaupt die Möglichkeit haben, nach zwölf Jahren das Abitur zu machen. Alle anderen hätten das Problem, dass sie 13 Jahre zur Schule gehen müssten. Das ist ungerecht und hat mit Durchlässigkeit und einer Flexibilisierung unseres Schuls ystems nichts zu tun.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Lelle, CDU – Schreiner, CDU: Das ist Profilbildung aller Schularten!)

Die Brisanz der Übergangsentscheidung – ich sage Ihnen das gern noch einmal, Herr Schreiner – nach der Grundschule würde sich durch Ihren Antrag fast ins Unerträgliche verstärken.