Protocol of the Session on May 15, 2002

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Erfurt, 26. April 2002: Das ist der schwärzeste Tag in der deutschen Schulgeschichte. 16 Menschen wurden vorsätzlich hingemordet, darunter 12 Lehrerinnen und Lehrer.

Erfurt, 3. Mai 2002: Eine beeindruckende Trauerfeier vor dem Dom. Viele Reden wurden gehalten, nicht nur von Politikern. So führte die Schulsprecherin Constanze Krieg unter anderem aus: Wenn man die Schule betrat, dann fühlte man die Geborgenheit wie in einem zweiten Zuhause. – Etwas später: Wir möchten auf diesem Weg auch den Lehrern danken, denen wir heute noch um den Hals fallen können. Sie haben uns auf der Flucht über den Zaun geholfen, vor ihrer Klasse Stärke und Ruhe gezeigt, obwohl sie innerlich gezittert haben. –

Ich füge hinzu: Eine Lehrerin blieb am Tattag auf dem Schulhof stehen, um den Schülern den Weg aus der Schusslinie zu weisen. Sie wurde später erschossen. Eine andere Lehrerin deckte die Schüler bei der Flucht. Eine bereits angeschossene Pädagogin schloss Kinder in einen Raum ein. Beide wurden von dem ehemaligen Schüler erschossen.

Über das heroische Verhalten der genannten Lehrerinnen und Lehrer hat man nicht so viel gelesen oder gehört. Vielmehr wurde über das angebliche Versagen der Schule und damit der Lehrer im Hinblick auf den Täter berichtet.

Der Anschlag von Erfurt – dies ist eindeutig – galt den Lehrerinnen und Lehrern des Gymnasiums. Wir müssen uns deshalb nicht nur mit Gewalt unter Schülern befassen, sondern auch mit Gewalt gegen Lehrer. Die Beispiele nehmen zu, dass Lehrer angepöbelt, ihnen Gewalt angedroht wird, sie angegriffen oder gar getötet werden.

Die Gesellschaft fördert bewusst und/oder unbewusst diese Entwicklung. Kein Berufsstand wird so verunglimpft, beschimpft oder lächerlich gemacht. Sogar hohe und höchste politische Kreise beteiligen sich daran und sind sich des Beifalls vieler sicher. Ob „Halbtagsarbeiter“, „Heimarbeiter“, „Faulenzer“ oder „faule Säcke“, all diese Äußerungen tragen dazu bei, dass das Ansehen des Lehrerstands rapide abgenommen hat und viele Erwachsene, aber auch Schüler den Respekt vor den Lehrern verloren haben.

Natürlich gibt es unter den Lehrern auch Drückeberger, Faulenzer und Versager. Aber in welcher Berufsgruppe gibt es diese nicht? – Aber da jeder einmal eine Schule besucht hat, fühlen sich viele berufen, qualitative Aussagen über Schule, Unterricht und Lehrer machen zu dürfen. Andererseits erwarten vor allem Eltern und Politiker, dass die Schule nach Möglichkeit alle Probleme dieser Welt löst. Irgendwo gibt es da massive Widersprüche.

Wer will unter solchen Bedingungen eigentlich noch Lehrer werden? – Der nächste massive Lehrermangel ist schon vorprogrammiert. Wer will noch Schulleiterin, Schulleiter oder Stellvertreter werden? – Auch in Rhein

land-Pfalz nehmen die Zweit-, Dritt- und „Darüberhinausausschreibungen“ dramatisch zu.

Kümmern wir uns doch endlich einmal mehr um die Befindlichkeit und die Probleme der Lehrerinnen und Lehrer. Schätzen und respektieren wir wieder ihre Arbeit, und wenn nur aus Eigennutz für unsere Kinder, was mir persönlich zu wenig wäre. Deren Bildungserfolg hängt – dies beweist nicht nur das PISA-Musterland Finnland – auch von der Wertschätzung einer Gesellschaft für die Arbeit ihrer Lehrer ab.

Danke schön.

(Beifall der CDU)

Es spricht Frau Abgeordnete Morsblech.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Amoklauf des 19-jährigen Schülers in Erfurt hat Deutschland erschüttert und aufgerüttelt. Ein erschreckendes Ereignis in dieser Dimension muss in der Tat in einer Zivilgesellschaft eine solche Reaktion auslösen und in einer Demokratie dazu führen, dass eine Gesellschaft ihre eigene Verantwortung für ihre Mitglieder erkennt und diese versucht wahrzunehmen. Wir müssen darüber diskutieren, welche gesellschaftlichen Umstände einen solchen Fall überhaupt erst möglich machen und welche Verantwortung wir als Einzelne und in der Politik in einer besonderen gesellschaftlichen Verantwortung wahrzunehmen haben.

Ich persönlich habe keine Vorstellung davon, welche Menge und welche Qualität an negativen Lebensumständen zusammenkommen müssen, damit jemand eine solche Tat über einen längeren Zeitraum plant und letztlich auch begeht. In der Sozialforschung und in der Psychologie gibt es hoch qualifizierte Forscher, die sich ausschließlich mit dem Profil und den Lebensumständen solcher Täter beschäftigen. Das Einzige, was wir in dieser Debatte heranziehen können, sind einzelne Lebensumstände, die die Öffentlichkeit gesichert kennt und die mit dazu geführt haben, dass dieser einzelne Täter diese furchtbare Tat begangen hat.

Besonders erschreckend ist, dass niemand im Umfeld dieses jungen Menschen etwas von den Nöten und von der grausamen psychischen Situation gemerkt haben muss. Das beginnt bei der Schule, setzt sich im Elternhaus und beim älteren Bruder fort und endet bei den Freunden. Es macht keinen Sinn, der Schule allein die Schuld zuzuweisen, genauso wenig wie es Sinn machen würde, den Eltern allein die Schuld zuzuweisen. Ferner macht es keinen Sinn, Lehrern weder an dieser Schule noch an anderen Schulen in Deutschland vorzuwerfen, sie würden sich nicht genügend um die Problemlagen und seelischen Nöte ihrer Schülerinnen und Schüler kümmern.

(Beifall bei FDP und SPD)

Ich kenne unzählige Lehrerinnen und Lehrer, die sich intensiv bemühen und sehr einfühlsam um ihre Schülerinnen und Schüler kümmern, wenn sie merken, dass zum Beispiel das Leistungsniveau sinkt, der Schüler sich verändert oder irgendetwas nicht in Ordnung ist. Dennoch wird es notwendig sein, diagnostische und ps ychologische Fähigkeiten künftig stärker in der Lehrerinnenaus- und -fortbildung zu berücksichtigen.

Es kann nicht angehen, dass, wenn ein 18-Jähriger der Schule verwiesen wird, es rechtlich nicht notwendig ist, das Elternhaus zu informieren. Eltern und Lehrer müssen nicht nur in solchen Situationen, in denen schon massive Probleme vorliegen, näher zusammenrücken.

Dieser junge Mensch hat laut Presseberichten in seiner Freizeit hauptsächlich ferngesehen und Videospiele gespielt. Hierbei hatte er offensichtlich Material mit Gewaltinhalten bevorzugt. Von dieser Sorte gibt es noch unzählige andere Jugendliche, die nach der Schule erst einmal den Fernseher einschalten, sich vor den Computer, die Playstation oder die X-Box setzen. Die meisten von ihnen sind eher unauffällig. Studien zur Förderung von Gewaltbereitschaft solcher Sendungen und Spiele zeigen sogar unterschiedliche Ergebnisse, wobei man in der Forschung nicht weiß, was Henne und was Ei ist.

Dennoch halte ich es für immens wichtig, dass gemeinsam mit allen Verantwortlichen überprüft wird, wie wir Kinder und Jugendliche vor solchen brutalen Inhalten schützen können. Eines zeigt uns das Freizeitverhalten dieses jungen Mannes ganz klar: Kindern und Jugendlichen ein sinnvolles und kreatives Freizeitverhalten anzubieten und beizubringen, ist eine immens wichtige Aufgabe von Eltern, Erziehern, Schule und Gesellschaft.

Deshalb muss es unser Anliegen sein, ein möglichst breit gefächertes und für jeden zugängliches Angebot bereitzuhalten, das nicht nur grundsätzlich da ist, sondern auch möglichst alle erreicht. Einen Ansatz hierzu kann sicherlich die Ganztagsschule bieten, die die Eltern aber nicht von ihrer Pflicht entbindet, sondern – wie dieses Beispiel zeigt – sie unbedingt in den Erziehungsprozess einbinden muss.

Ein ebenso wichtiger Schritt ist es, Schule und außerschulische Jugendarbeit stärker zu verzahnen, damit noch mehr Kindern und Jugendlichen deutlich wird, dass ihnen ein sehr breit gefächertes Angebot – auch im Hinblick auf die Personen, die die Angebote machen – gemacht wird und für jeden eine Möglichkeit gefunden werden kann, die sie interessiert und begeistert und ihnen eine gemeinsame Freizeitgestaltung mit anderen ermöglicht.

Hätte so ein junger Mensch wie dieser Amokläufer nur einen einzigen verantwortungsbewussten jungen oder erwachsenen Ansprechpartner gehabt, der Zugang zu diesem jungen Mann gehabt und dem der junge Mann vertraut hätte, dann hätte eine solche Tat möglicherweise gar nicht stattfinden können. Es hätte auch jemand aus einer kirchlichen Jugendgruppe, aus der freiwilligen Feuerwehr, aus einem Orchester oder aus einem Sportverein sein können. Ich habe jetzt nur wenige Stichpunkte aufgegriffen. Das zeigt uns jedoch, dass die

Aufgabe von Erziehung und Bildung von Kindern und Jugendlichen eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist, bei der alle zusammenrücken und sich auch gemeinsam verantwortlich für unsere Kinder und Jugendlichen fühlen und zeigen müssen. Die Ganztagsschule in der neuen Form kann ein Beispiel für ein solches Netz werden.

Es ist sehr zu begrüßen, dass das thüringische Schulsystem in seiner Durchlässigkeit nun entscheidend verändert wird. Wir dürfen nicht zulassen, dass jungen Menschen in unserer Gesellschaft zu irgendeinem Punkt ihrer erst beginnenden Biographie eine Tür zugeschlagen wird. An jeder Stelle muss es eine Chance und einen Weg für einen jungen Menschen geben, noch etwas aus seinem Leben zu machen, einen anderen Weg einzuschlagen oder auf den alten Weg zurückzukehren.

(Glocke des Präsidenten)

Deshalb ist die Durchlässigkeit unserer Bildungssysteme, das Auffangen und Fördern von Schwächeren oder von jungen Menschen, die einfach nur eine Krise durchmachen, unabdingbar. Mit diesen wenigen Worten und Maßnahmen können wir nicht verhindern, dass sich solche schrecklichen Ereignisse wiederholen, dass es jemandem so schlecht geht, dass er einfach ausrastet. Auch durch ein großes Bündel von Maßnahmen sind wir möglicherweise im Einzelfall machtlos.

Dennoch dürfen wir nicht zur Tagesordnung übergehen, sondern müssen unser Augenmerk verstärkt auf die Schwachstellen in unserer Gesellschaft richten, die solche Umstände möglich machen.

Vielen Dank.

(Beifall der FDP und der SPD)

Ich erteile Frau Abgeordneter Grützmacher das Wort.

Meine Damen und Herren, das ist heute natürlich eine sehr untypische Aktuelle Stunde, wobei das Thema aktuell ist. Diese Gewalttat in Erfurt eignete sich nicht für eine parteipolitische Polarisierung oder eine Schuldzuweisung, meistens an den politischen Gegner.

Das Thema verstört uns und nimmt uns alle mit. Wir reden darüber im Freundeskreis, unter Kollegen und Nachbarn. Deshalb sollten wir auch im Landtag darüber reden. Allerdings darf nicht der Eindruck entstehen, dass die Politik sofort Patentlösungen für die schwierigen Fragen, die diese Tat aufwirft, zur Verfügung hat.

Meine Damen und Herren, es gibt keinen Automatismus, der in Gewalt gegen andere mündet. Das bedeutet leider auf der anderen Seite, dass solche Ausbrüche fast völlig ohne Vorwarnungen passieren, auch wenn man hinterher weiß, dass es da und dort Vorwarnungen gegeben

hat. In der Zeit davor hat man diese Vorwarnungen meines Erachtens nicht erkennen können. Deshalb fällt es uns als Politikerinnen und Politiker natürlich sehr schwer zu sagen, wie schwierig es ist, so etwas vorherzusehen und etwas dagegen zu unternehmen.

Diese Tat, die uns so verstört und aufwühlt, ist so etwas wie ein Scheinwerfer, der bestimmte Segmente in uns erer Gesellschaft ausleuchtet und Mängel und Schwächen, an die wir uns vielleicht gewöhnt haben oder an die wir nicht so gern denken, benennt. Das ist natürlich unter anderem der Leistungsdruck, der durch die Schule oder die Eltern entsteht. Darauf haben bereits viele hingewiesen, auch mein Kollege Nils Wiechmann.

Ferner ist ein grelles Licht auf die Medien jeglicher Form gefallen, auf die gewalttätigen Computerspiele und die Gewaltvideos. Es gibt eine Auseinandersetzung darüber, ob Gewalt und Brutalität auf den Bildschirmen den Benutzer zur realen Gewaltanwendung animiert – ich tendiere eher zur Auffassung des Herrn Ministerpräsidenten – oder ob im Gegenteil solche Videos zur Triebabfuhr dienen. Diese Frage ist so alt, wie es die Brutalität in den Medien gibt.

Es bleibt immer wieder die ungeklärte Frage, weshalb der eine Mensch so und der andere genau entgegengesetzt reagiert.

Leider muss der Versuch, Gewaltvideos und gewalttätige Computerspiele zu verbieten, angesichts der Vernetzung im Internet und der vielfältigen Möglichkeiten ins Leere laufen. Gerade süchtige Personen wie Robert Steinhäuser werden immer Mittel und Wege finden, um sich den Zugang zu solchen Medien zu verschaffen.

Eines ist jedoch besonders wichtig: Wir als Erwachsene müssen verstehen, was für eine Faszination für junge Menschen von solchen Spielen ausgeht. Wir müssen uns ernsthaft damit auseinander setzen und damit beginnen, die Medienwelt, die für Jugendliche sozusagen etwas ganz Alltägliches ist, zu verstehen. Dabei hilft es nicht, die Jugendkultur, zu der solche Spiele zählen, kategorisch zu verdammen; denn das geht ganz fatal an der Lebenswirklichkeit von jungen Menschen vorbei und stößt dann bei den Jugendlichen auf absolutes Unverständnis.

Meine Damen und Herren, wir brauchen auch Aufklärung bei Eltern und Lehrerinnen, dass Computerspiele genauso zur Sucht werden können wie Glücksspiele, Drogen und Alkohol und da natürlich dann auch professionelle Hilfe notwendig ist.

Ein drittes Feld wurde durch die Erfurter Tat noch grell erleuchtet. Das ist die Frage nach den Regeln und der Praxis des legalen Waffenbesitzes. Weshalb dürfen eigentlich Sportschützen ihre Waffen mit nach Hause nehmen? Ungeachtet dessen, was gesagt worden ist, fordern wir, dass Sportwaffen in die Schränke der Schützenvereine gehören und nicht in Privatwohnungen.

(Zurufe von Ministerpräsident Beck und Staatsminister Zuber)

Man kann natürlich darüber reden, wie so etwas ges ichert wird. Sie wissen doch, wie das bei der Bundeswehr ist. Herr Mertes hat das gerade dargestellt. Weshalb geht das bei der Bundeswehr? Natürlich ist da eine Bewachung leichter möglich. Deshalb sollten wir uns aber nicht von vornherein davon abhalten lassen zu sagen, dass das nicht geht.

Dann stellt sich noch die Frage nach der Munition. Mit einer Waffenbesitzkarte konnte bisher Munition in jeder beliebigen Höhe gekauft werden. Das wird jetzt durch die Neufassung der Waffenbestimmungen geändert.

Meine Damen und Herren, diese Neuregelungen können nicht garantieren, dass solche Tragödien wie in Erfurt nicht mehr vorkommen. Trotzdem ist das kein Grund, die Vorschriften für den Umgang mit Waffen und Munition nicht zu verschärfen; denn es kann in der Politik nicht in erster Linie darum gehen, etwas mit letzter Gewissheit zu verhindern, sondern es muss darum gehen, es unwahrscheinlicher zu machen.

Vielen Dank.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, ich freue mich, Gäste im Landtag begrüßen zu können, und zwar Mitglieder des SPD-Ortsvereins Jockgrim, Rheinzabern, Neupotz und Hatzenbühl sowie die Wanderabteilung der Turn- und Sportgemeinde Neustadt. Herzlich willkommen im Landtag!

(Beifall im Hause)