Dass der Ministerpräsident gerne Verantwortung wegschiebt, das wissen unsere Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Landräte, Lehrerinnen und Schulleiterinnen in Nordrhein-Westfalen ja zur Genüge. Für die Schulen war es allerdings gravierender, dass seine Regierung unfähig war, aus Fehlern zu lernen. „Augen zu und durch“ ist keine Strategie, um in einer Pandemie so viel Unterricht und Betreuung wie nur möglich aufrechterhalten zu können.
Zwei Mal – im Herbst letzten Jahres und im Frühling dieses Jahres – sind Sie sehenden Auges und völlig unvorbereitet in die Falle von Schulschließungen gelaufen. Sie haben alle Warnungen in den Wind geschlagen und wollten auf Teufel komm raus Normalität simulieren, wo es keine Normalität geben konnte. Sie haben die Lehrerinnen und Lehrer alleingelassen. Sie haben die Eltern und erst recht die Kinder alleingelassen.
Noch nie gab es so wenig Unterstützung für die Bildungspolitik einer Landesregierung wie derzeit, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Laschet, Frau Gebauer, niemand steht in der Bildungspolitik hinter Ihnen. Niemand unterstützt Sie. Sie sind aus Starrsinn vereinsamt. Jetzt ist der Schaden groß; die Bildungsverluste sind viel größer als sie es hätten sein müssen.
Deswegen bleibt mir heute der Appell: Machen Sie nicht zum dritten Mal in Folge den gleichen Fehler! Tun Sie nicht so, als sei alles bald wieder normal, denn das ist es nicht.
Herr Laschet, mich hat damals beeindruckt, dass Sie und wir alle uns einig waren, dass das Letzte, was geschlossen, und das Erste, das nach Möglichkeit wieder geöffnet werden soll, die Kindertagesstätten und die Schulen sind. Ich finde, dass wir vor diesem Hintergrund in den letzten Wochen viel zu viel über die Öffnung der Außengastronomie diskutiert haben, anstatt darüber, wie wir Schulen und Kitas wieder sicherer machen können. Auch das muss besser und anders werden.
Corona ist nicht nur eine Naturkatastrophe. Die Pandemie droht auch zu einer Bildungskatastrophe zu werden.
Die Schäden, die sie unter unseren Kindern angerichtet hat, werden aber erst zum Vorschein kommen, wenn die Erwachsenen geimpft sind und wieder im Biergarten sitzen können. Erst dann wird auffallen, wie schlecht die Fünftklässler auf der weiterführenden Schule zurechtkommen werden. Erst dann wird auffallen, wie wichtig das letzte Kitajahr gerade für die Kinder aus sozial benachteiligten Bereichen ist, um Sprachkompetenz zu erwerben und um in der Grundschule einen guten Start zu bekommen. Erst dann werden wir bemerken, dass viel zu vielen Jugendlichen die Ausbildungsreife fehlt, ganz zu schweigen vom Ausbildungsplatz.
Wir werden merken, wie schwer sich Studierende an den Hochschulen tun werden. Manch einer, der sein Studium vor drei Semestern begann, hat den Eindruck, er würde ein Studium an der Fernuniversität Hagen absolvieren. In diesem Bereich geht eine Menge an Kompetenzen verloren. Wir werden auch merken, dass die Quote der Schulabbrecher dieses Jahr wahrscheinlich doppelt so hoch sein wird als sonst.
Die wissenschaftlichen Befunde sind eindeutig und alarmierend: Bildungsverluste führen zu schlechteren Bildungsabschlüssen, zu schlechteren Berufschancen und zu geringerem Einkommen. Bildungsverluste verursachen Langzeitschäden, unter denen ein Kind für den Rest seines Lebens leidet. Es wird daher Zeit, dass wir mit allem, was wir an Kraft aufbieten können, gegensteuern.
Der Bund geht voran. Die SPD hat ein Milliardenprogramm entwickelt, das nun Regierungspolitik wird. In den kommenden zwei Jahren werden zwei Milliarden Euro zusätzlich investiert, um Kindern, Jugendlichen und Familien zur Verfügung zu stehen und um Bildungslücken zu schließen.
Was hingegen tun Sie, Herr Laschet? Sie scheinen die Bildungspolitik heute für sich zum ersten Mal in
dieser Pandemie erkannt zu haben, tun aber so, als sei dieses Bundesprogramm Ihre eigene Idee und die Mittel aus dem Bundesprogramm seien Ihr toller Erfolg. Sie reihen eine Sprechblase an die andere. Ich finde es gut, dass Ältere den jüngeren Kindern etwas vorlesen. Sind Vorlesestunden in Kindertagesstätten aber die staatliche Antwort auf die Bildungsmisere in der Coronapolitik?
Diese Unterrichtung hat wieder einmal gezeigt, dass Sie den Ernst der Lage überhaupt nicht verstanden haben. Man könnte jetzt darüber streiten, ob die Landesregierung an bezahlbarem Wohnraum für Familien oder an guten Schulen für ihre Kinder weniger Interesse hat. Fest steht nur: Die Familien sind der eindeutige Verlierer Ihrer Politik. Es ist daher Zeit für eine deutliche Wende in der Bildungspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es ist auch Zeit für einen neuen Kraftakt. Lehramtsstudierende, Bildungsvereine, Stiftungen und pensionierte Lehrerinnen und Lehrer müssen an die Schulen gerufen werden; sie können Kinder und Jugendliche zusätzlich unterrichten und sie in Kleingruppen, in Lernwerkstätten und Sommercamps fördern und begleiten.
Ich finde gut, dass es diese Aufholprogramme auch in den Ferien gibt. Sie sollten aber auf jeden Fall dafür sorgen, dass diejenigen, die die Betreuung der Kinder in den Ferien übernehmen sollen, endlich geimpft werden, denn nur so kann eine Betreuung vernünftig gelingen!
Bei diesen zusätzlichen Betreuungsangeboten geht es nicht nur um den Abbau von Lernrückständen in den Kernfächern, sondern es geht auch um Persönlichkeitsbildung, um Sozialkompetenz und um das Schaffen von neuem Vertrauen der Kinder und Jugendlichen nach vielen Monaten mit Kontaktbeschränkungen.
In jedem Fall gilt: Die Lage ist ernst. Für die Zukunft und für den Bildungserfolg unserer Kinder in Nordrhein-Westfalen müssen wir jetzt alle unsere Kräfte bündeln. Wir müssen bei einer Inzidenz von stabil unter 100 die Schulen wieder öffnen.
Viele Lehrerinnen und Lehrer sind geimpft. Wir haben flächendeckende Testmöglichkeiten. Die Zahlen sinken weiter. Öffnen Sie die Schulen also wieder! Es wäre ein gutes Signal, wenn das jetzt tatsächlich wieder geschähe, und die Kinder haben das verdient.
Machen wir uns aber nichts vor und tun Sie dann bitte nicht so, als ob das wieder ein normaler Schulbetrieb
wäre. Denn Masken, Abstand und Testpflicht lassen auch dann noch keine Normalität erkennen – aber immerhin wieder Unterricht, ein Stückchen Alltag und mehr Stabilität.
Darüber hinaus brauchen die Kinder eine individuelle Förderung und die Familien mehr Zeit und mehr Geld. Für all das gibt es Pläne und Konzepte. Wenn Sie so viel für Kinder und Familien tun wollen, wie Sie das heute angekündigt haben, mache ich Ihnen einen ganz konkreten Vorschlag, Herr Ministerpräsident: Entlasten wir die Familien um viele Tausend Euro pro Jahr, indem wir sie von den Kita- und den OGS-Gebühren befreien – zunächst in der Coronazeit und dann dauerhaft!
Warum verhandelt die Regierung nicht mit den Kommunen über die Entlastung für Familien? Warum spielt der Familienminister gerade „Toter Mann“? Die kommunalen Spitzenverbände warten. Allerdings warten sie vergebens, denn das Desinteresse dieser Regierung an der Familienpolitik wird von Monat zu Monat schlimmer. Das ist schlecht; die Kinder und Familien leiden in diesen Monaten ganz besonders.
Deswegen gilt es, eine Qualitäts- und Ausbauoffensive für Kitas und Schulen zu starten. Familien in Nordrhein-Westfalen brauchen solche Offensiven, damit es endlich ausreichend Betreuungsplätze und in den Schulen und Kitas endlich genug Zeit für eine individuelle Förderung unserer Kinder gibt. Gleichwohl läuft jede Ausbau- und Qualitätsoffensive ohne Personal ins Leere. Wir brauchen daher deutlich mehr Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen und Erzieher und multiprofessionelle Teams. Die Ausbildung in der frühkindlichen Bildung muss vergütet und die Fort- und Weiterbildung muss verbessert und ausgebaut werden.
Chancengleichheit für jedes Kind gibt es nur mit gut ausgebildetem, gut bezahltem und gut abgesichertem Personal, und es wird Zeit, dass die Landesregierung den Beschäftigten in den Schulen und Kitas endlich den Respekt erweist, den sie verdienen.
Was unsere Kinder schon seit Langem verdienen, ist eine Gerechtigkeitsoffensive. Das Land muss zuerst dort für Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit sorgen, wo es am wenigsten davon gibt. NordrheinWestfalen braucht einen wirksamen Sozialindex für die Zuteilung von Personal und Geld. Grundschulen müssen zu Familienzentren ausgebaut werden, und zwar vor allem in Kommunen und Quartieren, die besonders stark von Bildungs- und Einkommensarmut betroffen sind. Kitas werden dort benötigt, wo besonders viele Kinder aufwachsen und die Armut überdurchschnittlich hoch ist.
Kitabesuchen gemerkt. Vor ein paar Tagen hat mir ein Träger, der in einer nordrhein-westfälischen Großstadt mit einem starken sozialen Gefällen Kitas betreibt, berichtet, dass die Belegungsquote bei der Notbetreuung in seinen Einrichtungen im Norden der Stadt bei 20 % und im reicheren Süden der Stadt, wo beide Eltern arbeiten waren und die Kinder natürlich in die Kita gebracht wurden, bei 70 bis 80 % lag.
Das waren doch die Menschen in den Quartieren, die es bitter nötig haben, dass ihre Kinder in den Kitas auf die Schulen gut vorbereitet werden. Bringen Sie deshalb endlich den Mut auf, Ungleiches ungleich zu behandeln. Wir brauchen in unserem Land eine vernünftige, zielgerichtete Förderung!
Meine Damen und Herren, die Coronapolitik hat viele Missstände in der Familien- und Bildungspolitik noch einmal deutlich verschärft. Wann, wenn nicht jetzt, wird das Land die Kraft finden, diese Missstände tatsächlich an den Wurzeln zu bekämpfen? Die Zeit des Zögerns muss endgültig vorbei sein. Übrigens ist auch die Zeit der Modellversuche abgelaufen. Expertise und Erfahrung sind ausreichend vorhanden. Wir wissen, was getan werden kann, wir wissen, was getan werden muss.
Was wir jetzt brauchen, ist ein neuer Kraftakt der Solidarität. Im letzten Jahr waren insbesondere Kinder, Jugendliche und Eltern solidarisch. Sie haben auf Bildung und Betreuung verzichtet, damit Ältere geschützt und die Wirtschaft am Leben erhalten werden konnte. Junge Menschen haben auf eine Impfung verzichtet und damit ihr Leben erheblich eingeschränkt, damit zuerst ältere und kranke Menschen geimpft werden konnten. Das war ein großes Zeichen der Solidarität.
Aber Solidarität ist keine Einbahnstraße. Was wir jetzt brauchen, ist eine große Solidarität für Kinder, Jugendliche und Familien. Sie dürfen nicht die großen Verlierer sein.