„Warum hat die Landesregierung angesichts der sich bereits seit mehreren Tagen abzeichnenden Spannungen im Nahen Osten – die Lage eskalierte spätestens am 10.05.2021 – nicht schon früher eine Verstärkung der Schutzmaßnahmen für jüdische Einrichtungen angeordnet?“
Natürlich haben wir einen hohen Anspruch, Jüdinnen und Juden in Deutschland zu schützen, gerade vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung Deutschlands. Deshalb stehen vor vielen jüdischen Einrichtungen Polizistinnen und Polizisten. Auf diesen operativen Schutz zielte ja Ihre Frage ab. Wir haben die Debatte ja schon mal im Zusammenhang mit Sachsen-Anhalt und anderen Fällen gehabt.
Mein Haus hat noch am Tag der Gefährdungsbewertung durch das BKA zum Nahostkonflikt mit einem Erlass reagiert. Damals hat das BKA noch nicht von einer weiter erhöhten Gefährdung für jüdische Einrichtungen gesprochen. Wir haben aber damals schon zwei Maßnahmen veranlasst:
Nach einer weiteren Lageentwicklung am 12. Mai wurden die Schutzmaßnahmen an herausragenden jüdischen Einrichtungen noch mehr erhöht. Das heißt konkret, die Polizei bewacht herausragende jüdische Einrichtungen derzeit rund um die Uhr. Ich darf und möchte Ihnen hier nur sagen: Das gilt auch für die Synagoge in Gelsenkirchen. – Weitere Details würde ich nicht gerne sagen, weil es nicht sehr klug ist, offenzulegen, an welchen Stellen das passiert. Aber es geht ja um Gelsenkirchen. Diese Synagoge ist davon betroffen.
„Warum griff die Polizei bei den antisemitischen Sprechchören und Hassparolen vor der Gelsenkirchener Synagoge vor dem Hintergrund der Ankündigung von Ministerpräsident Laschet nicht eher ein?“
Antwort: Der Nahostkonflikt hat im Zeitraum vom 10. Mai bis einschließlich 16. Mai zu insgesamt rund 30 Versammlungen im Land geführt. Viele davon waren emotional zwar aufgeheizt, aber weitestgehend
In Gelsenkirchen war die Lage etwas anders. Deswegen möchte ich Ihnen die Abläufe genauer erklären. Das ist jetzt etwas detailliert, aber ich glaube, sonst können Sie sich kein Bild machen:
Die Polizei Gelsenkirchen hat am Morgen des 12. Mai dieses Jahres über einen Eintrag in den sozialen Netzwerken erfahren, dass für den gleichen Tag 17:30 Uhr zu einer Versammlung am Hauptbahnhof in Gelsenkirchen aufgerufen wird. Dieser Hinweis ist dann durch die zuständigen Stellen innerhalb der Behörde bewertet worden. Ich nehme vorweg: Die Bewertung war, zumindest in meiner heutigen Nachbetrachtung, möglicherweise verbesserungsfähig.
Die Verantwortlichen haben eingeschätzt, dass dem einzelnen, vagen Hinweis nicht gefolgt werden muss. Es wurde im Netz jedenfalls kein User gesichtet, der von einer Teilnahme gesprochen hat. Also, es gab den Aufruf, aber es gab überhaupt keine Rückmeldungen. Dann hat man erstens gesagt, da ist keine Resonanz. Zweitens hat man gesagt, wir kümmern uns jetzt um den Urheber der Nachricht und versuchen, ihn zu erreichen und zu verifizieren, ob da was dran ist. Das war ohne Erfolg. Man hat diesen Menschen nicht erreicht. Also kamen die Verantwortlichen im PP Gelsenkirchen zu der Einschätzung: Da wird nichts passieren.
Über den Aufruf und diese Einschätzung hat der Leiter der Führungsstelle „Gefahrenabwehr“ in Gelsenkirchen die jüdische Gemeinde vor Ort durch zwei Anrufe um 12:40 Uhr und um 16:18 Uhr informiert. Aber damit war es nicht genug – Gott sei Dank –, sondern es gab auch einen Plan B.
Für den Fall nämlich, dass doch Versammlungsteilnehmer erscheinen würden, sollten Kräfte aus dem zeitgleich laufenden Fußballeinsatz eingesetzt werden. Das war das Fußballspiel Schalke gegen Hertha. Das muss ich nicht lange erklären. Da hat es eine Vorgeschichte gegeben, aufgrund derer man sagte: Wenn in Schalke zu dieser Zeit so ein Spiel stattfindet, müssen wir ein bisschen Polizei in der Nähe haben. Schalke gegen Hertha, Anpfiff in der Arena um 18:00 Uhr. Bei diesem Einsatz standen rund 80 Bereitschaftspolizisten zur Verfügung.
An dem Nachmittag um 17:26 Uhr werden auf dem Bahnhofsvorplatz etwa 20 friedliche Versammlungsteilnehmer durch eine Aufklärungsstreife festgestellt.
Um 17:35 Uhr, also neun Minuten später, stellten im Bereich des Bahnhofs eingesetzte Bereitschaftspolizeikräfte – das waren acht Personen, die für den Fußballeinsatz dort waren; die waren im Raum verteilt und im Bereich des Bahnhofs eingesetzt – etwa 40 Personen mit türkischen und palästinensischen
Um 17:43 Uhr, also noch mal acht Minuten später, setzten sich die Versammlungsteilnehmer – dann waren es mittlerweile an die 100 – in Form eines Aufzugs in Bewegung. Ein Versammlungsleiter konnte zu diesem Zeitpunkt nicht festgestellt werden.
Jetzt wurde, finde ich, schnell und richtig entschieden: Die am Bahnhof befindlichen Bereitschaftspolizeikräfte teilten sich auf. Vier verlegten ihren Standort sofort zur Synagoge, um diese zu schützen. Die anderen vier begleiteten den Aufzug.
Um 17:46 Uhr, also eine Minute nach Abmarsch des Aufzugs, wurden weitere 25 Unterstützungskräfte aus dem Fußballeinsatz angefordert. Problem: Die standen natürlich nicht alle in der Nähe des Bahnhofs, sondern die standen im Umfeld des Stadions. Das bedeutete bis zu 20 Minuten Fahrzeit. Also haben die sich entschieden: Blaulicht an und sofort zur Synagoge. Auftrag: Schutz mit höchster Priorität, Zugang zur Synagoge verhindern.
Um 17:53 Uhr, also sieben Minuten später, trafen alle Unterstützungskräfte im Bereich der Synagoge ein, also sowohl die begleitenden – vom Bahnhof – als auch die zusätzlich angeforderten. Jetzt waren 33 Einsatzkräfte vor Ort.
Dann wurde eine sogenannte Polizeikette in der Gildenstraße – das ist vor der Tür zur Synagoge – mit 16 Einsatzkräften in der reinen Absperrlinie plus Beweissicherungs- und Führungskräften gebildet. Das ist die Polizeikette, die wir aus den Bildern und dem Video kennen.
Eine zweite Polizeikette und Fahrzeugsperre wurde auf der Georgstraße eingerichtet, also auf der Rückseite der Synagoge. Warum? – Weil auch da noch ein Zugang zur Synagoge ist. Also, hier standen jetzt sieben Einsatzkräfte, um auch dort einen Zugang zum Gebäude zu verhindern, und vier Einsatzkräfte begleiteten immer noch den Aufzug.
Um 17:58 Uhr traf der Aufzug mit etwa 100 Personen auf die Polizeikette in der Gildenstraße, wo die 16 Einsatzkräfte standen. Diese Hass-Demo konnte von den Polizistinnen und Polizisten aber davon abgehalten werden, zur Synagoge zu gelangen. Die Polizeikette hielt also und stellte sich dem Zug entgegen, hätte aber auch keine Minute später da sein dürfen, um es mal ein bisschen flapsig zu sagen.
Deswegen – das gehört auch zur Berichterstattung –: Dank an die vor Ort eingesetzten Beamtinnen und Beamten für das professionelle Handeln.
Dass dort diese Menschen in Uniform standen und sich dem Aufzug in den Weg gestellt haben, war nicht nur für die Synagoge in Gelsenkirchen wichtig, sondern sie war, glaube ich, auch symbolisch für jeden Juden in Nordrhein-Westfalen und für uns alle wichtig.
Leider wurden dann um 17:58 Uhr erstmalig diese antisemitischen Parolen gerufen. Meine Damen und Herren, eigentlich verbietet es sich, diese Parolen jetzt hier zu nennen, aber ich glaube …
Gut, dann mache ich es nicht. Es waren mehr als die, die Sie kennen. Wir haben auch welche übersetzt. Vielleicht finden wir einen anderen Weg. Sie haben ähnliche Qualität und sind offensichtlich klare antisemitische Äußerungen.
Der Polizeiführer hat dann sofort entschieden, eine durchgehende Durchführung von Videoaufnahmen zur Beweissicherung zu machen. Diese erfolgte um 18:01 Uhr, also drei Minuten später, glaube ich.
Um 18:04 Uhr endete der Aufzug. Dann drehte der Aufzug schon wieder um. Dann war also Schluss mit diesem Spektakel. Das heißt, dieser Aufzug, den wir von den Filmen her kennen, hat sich – Gott sei Dank – nur sechs Minuten in Synagogennähe befunden. Das waren genau die erschreckenden Bilder, die zu Recht von den Medien aufgegriffen wurden. Aber es waren zum Glück – auch für die jüdische Gemeinde – eben nur diese wenigen Minuten. Die Leute, die da standen, drehten jetzt um.
Was tun? Das war die Frage an die Polizei. Was machen wir jetzt? Der Polizeiführer hatte wenige Kräfte vor Ort – Stichwort: 33 –, und der Schutz der Synagoge hatte weiterhin die höchste Priorität. Deshalb hat die Polizei entschieden: Die Absperrungen müssen bleiben.
Für Identitätsfeststellungen vor Ort war kein Spielraum. Deshalb sind um 18:00 Uhr noch weitere Verstärkungskräfte aus dem Fußballeinsatz angefordert worden. Warum von dort? – Weil die natürlich am nächsten dran waren.
Der Aufzug hat sich anschließend bis zur Straße Wiehagen weiterbewegt. Der Zug konnte dort in Höhe der Bokermühlstraße durch die dann eintreffenden Unterstützungskräfte – die kamen zu diesem Ort – um 18:19 Uhr angehalten werden. Das war ungefähr 1 km von der Synagoge entfernt.
Interessant und auch schwererklärlich ist – aber es war so –, dass auf dem Weg sowohl runter als auch auf dem Weg rauf sich immer neue Leute dem Zug angeschlossen haben. Andere sind auch weggegan
gen, denn ihr Zweck war erfolgt. Sie waren vor der Synagoge und hatten möglicherweise da gebrüllt. Insgesamt ist dann die Teilnehmerzahl bis auf 180 Personen angestiegen. Also, den einen Kilometer weiter weg waren es plötzlich dann viel mehr.
Der Polizeiführer hat dort auf weitere Identifizierungsmaßnahmen an Ort und Stelle verzichtet. Das hatte vor allen Dingen den Grund, weil zu erwarten war, dass man mit den Videoaufnahmen und nachträglichen Ermittlungen weiterkommt. Denn interessant war ja nicht, wer in diesem Zug mitläuft, sondern wichtig war, wer geschrien hat. Mit den Videoaufnahmen konnte man die Täter identifizieren.
Meine Damen und Herren, mit dem Ende der Einsatzmaßnahmen in Gelsenkirchen ist die Arbeit der Polizei noch lange nicht vorbei, zum einen, weil ich eine förmliche Einsatznachbereitung veranlasst habe, nicht wegen der Polizistinnen und Polizisten, die in der akuten Situation meines Erachtens richtig gehandelt haben, aber ich finde, man muss schon die Frage stellen, warum trotz des Aufrufs im Internet nicht von einer Versammlung ausgegangen wurde. Ich möchte die Gründe eben sehr detailliert geschildert bekommen haben und sie auch bewerten können. Zum anderen möchte ich wissen, wer da was skandiert und gemacht hat. Also, die Ermittlungen laufen mit Hochdruck.
Unmittelbar im Anschluss wurde bei der Staatsschutzstelle in Gelsenkirchen eine 15-köpfige Ermittlungskommission eingerichtet. Das ist für eine solche Veranstaltung außerordentlich groß, will ich mal in Klammern sagen. Hier arbeiten kriminalpolizeiliche Experten aus unterschiedlichen Bereichen zusammen, vom Staatsschutz bis zur Gewaltkriminalität.
Sie können mir glauben, hier wird konsequent aufgeklärt, um alle Möglichkeiten des Rechtsstaats auszuschöpfen. Denn ich finde, das Wichtigste ist jetzt, dass es nicht folgenlos bleibt für diejenigen, die das dort gemacht haben. Der Fokus der polizeilichen Ermittlungen liegt dabei vor allen Dingen auf der Auswertung von Bild- und Videomaterial sowie auf Zeugen- und Beschuldigtenvernehmungen. Wir haben natürlich nicht nur unsere eigenen Videoaufnahmen, sondern die eine oder andere zusätzliche Quelle steht uns auch zur Verfügung.
Diejenigen, die sich in diesem antisemitischen Mob etwas haben zuschulden kommen lassen, sollen identifiziert werden. Nicht nur diejenigen, die aktiv judenfeindliche Parolen skandiert haben, werden sich rechtfertigen müssen, sondern auch diejenigen, die sich haben mitreißen lassen und dabei selbst Gesetze gebrochen haben. Das heißt eben null Toleranz, wenn es konkret wird.
Es sind einige Straftaten im Rahmen dieses Aufzuges passiert. Bislang wurden Ermittlungsverfahren wegen zahlreicher Delikte eingeleitet, wegen Volksverhetzung, wegen Beleidigung, wegen Widerstand
gegen Polizistinnen und Polizisten, wegen eines tätlichen Angriffs gegen Polizistinnen und Polizisten, wegen Landfriedensbruch und wegen das Abhalten von nicht genehmigten Versammlungen.
Heute zum Zwischenstand nur so viel: Unsere Bemühungen haben erste Erfolge. Durch die hartnäckige Ermittlungsarbeit konnten wir auf den gesicherten Videos bereits 16 Tatverdächtige ausmachen, die antisemitische und -israelische Parolen gerufen haben. Also, 16 Personen können wir das zuordnen. Fünf Tatverdächtige davon konnten bereits konkret namentlich identifiziert werden. Das ist natürlich der mühsamere Teil. Man weiß, wer es war, aber man weiß nicht, wer war es. Die anderen 11 Tatverdächtigen sind also noch unbekannt. Ich will es deutlich sagen: Es waren vor allen Dingen junge Männer mit arabischstämmigem Hintergrund. Gegen diese jungen Männer wird unter anderem wegen Volksverhetzung und Beleidigung ermittelt.