Protocol of the Session on November 13, 2020

Es kamen Männer und, was leider viel zu selten erwähnt wird, auch Frauen, meistens zunächst alleine und ohne Familienangehörige, voller Schaffenskraft in jungen Jahren. Das, was diese Menschen geleistet haben, kann gar nicht genügend gewürdigt werden. Wir alle profitieren auch heute noch von den Leistungen dieser Menschen. Und ich als Kölnerin frage natürlich: Was wären die Kölner Ford Werke ohne die Gastarbeiter, die dort Tag und Nacht am Fließband gestanden haben?

(Beifall von den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von der SPD)

Es ist – Kollegin Wermer hat es bereits erwähnt – der Sohn einer dieser Fließbandmitarbeiter, Uğur Şahin, dem wir vermutlich bald einen Coronaimpfstoff zu verdanken haben werden. Aber auch in anderen Bereichen wie Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Sport und auch in der Politik prägen und gestalten Kinder und Enkelkinder der sogenannten Gastarbeiter unser gesellschaftliches Leben.

Wir reden heute auch über die Mutter und den Vater einiger Kolleginnen und Kollegen, die hier mit uns in diesen Reihen sitzen, so auch über die Eltern meines Vorredners Ibrahim Yetim. Deshalb ist es so wichtig, sich mit der Lebenssituation dieser Menschen, die unser Land so sehr geprägt haben, zu befassen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich muss zugeben, dass ich mehr als irritiert war, als ich gesehen haben, um es vorsichtig auszudrücken, wie dünn Ihr Antrag, der Antrag von der CDU und der FDP, dazu ist. Der Antrag besteht, wenn ich es mal zusammenfasse, aus folgenden Aussagen: Gastarbeiter sind gekommen, sie haben geleistet, und das wollen wir feiern. Wie wir es feiern wollen, das wissen wir aber noch nicht. – Ich hätte mir gewünscht, dass zu einer so zentralen Migrationsbewegung nach Deutschland, die unsere Gesellschaft so sehr auch heute noch prägt, mehr Substanz vorgelegt worden wäre.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Zu einer Würdigung der Lebensleistung dieser Menschen aus Italien, Spanien, Griechenland, Türkei, Portugal, Marokko, Tunesien und dem ehemaligen Jugoslawien gehört auch, klar zu benennen, welchen schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen sie ausgesetzt waren, dass ihnen zum Beispiel keine Integrationsmaßnahmen, wie wir sie heute glücklicherweise kennen, durch Integrations- und Sprachkurse zur Verfügung gestellt wurden und dass ihre Bedürfnisse seitens der Politik über Jahrzehnte fast komplett ausgeblendet worden sind.

Der Satz von Max Frisch „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“ bringt, finde ich, die Versäumnisse dieser Politik treffend auf den Punkt.

(Beifall von Verena Schäffer [GRÜNE])

Auch heute noch leidet die erste Generation der Gastarbeiter unter den Folgen dieser erschwerten Lebensbedingungen: niedriges Einkommen, niedrige Renten, schlechte Wohn- und vor allen Dingen Gesundheitssituation. Teilweise prägt auch gesellschaftliche Isolation den Lebensabend dieser älteren Menschen.

Und vergessen wir nicht, so bitter es auch ist: Die Geschichte der Gastarbeiter ist leider auch eine Geschichte von Diskriminierung und Rassismus in unserem Land. Die Gewalttaten von Mölln und Solingen

sind der erschreckende Höhepunkt von lange schwelender Ablehnung und Ausgrenzung gegenüber diesen Menschen. Sie haben tiefe Wunden bei der ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter, aber auch bei ihren Kindern und Enkelkindern hinterlassen.

Gerade deshalb muss die Würdigung der Lebensleistung dieser ersten Generation der Gastarbeiter auch immer bedeuten, sich weiter für eine offene, plurale Gesellschaft einzusetzen, die Gastarbeiter und ihre Nachfahren endlich als Bürgerinnen und Bürger unseres Landes anzuerkennen, Diskriminierung und Rassismus zu bekämpfen und Chancengleichheit in allen Lebenslagen zu gewährleisten.

Genau in diesem Sinne bringen wir gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen von der SPD einen Entschließungsantrag ein. Ich hoffe sehr, dass Sie da mit uns gehen und wir uns doch noch zusammenfinden können, um gemeinsam die Menschen, die so Großartiges unter so katastrophalen Bedingungen geleistet haben, angemessen zu würdigen. – Vielen Dank.

(Beifall von den GRÜNEN und der SPD)

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Für die AfD spricht nun der Abgeordnete Herr Beckamp.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute gibt es Anträge von CDU und FDP sowie von SPD und Grünen, mit denen die Gastarbeiteranwerbeabkommen der 50er- und 60erJahre vorrangig mit Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei sowie die Lebensleistung eben jener Menschen gewürdigt werden sollen. Wie wichtig Ihnen die Anträge, die Sie selber stellen, sind, sieht man an den fast leeren Plätzen. Aber es ist ja Mittagszeit. Guten Appetit!

Die Lebensleistung dieser Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, würdigen wir gerne. Uns verbindet in der Tat mit diesen Menschen viel Positives, ob Italiener, Kroaten oder auch Türken. Das gilt grundsätzlich auch für diejenigen türkischen Bergleute, die vor einiger Zeit hier im Landtag waren und die Sie alle hier haben sitzen lassen.

(Beifall von der AfD)

An dieser Stelle – Sie ahnen es schon – enden die Gemeinsamkeiten. Blicken wir kurz zurück und begegnen wir einer Legende, die manchen gutmeinenden Kopf verwirrt, so auch heute im Plenum schon mehrfach gehört. Blicken wir zurück auf jene Anwerbeabkommen, die die noch junge Bundesrepublik in den 50er- und 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit mehreren Mittelmeeranrainerstaaten geschlossen hatte. In deren Gefolge kamen jene völlig zu Recht als Gastarbeiter bezeichnete Menschen

in den Norden. Denn Gastarbeiter waren es. Darüber herrschte völlige Einigkeit auf allen Seiten. Heute sind sie es nicht mehr.

Das erste dieser Abkommen trat am 20. Dezember 1955 in Kraft. Wer nun allerdings meint, das Abkommen sei deshalb geschlossen worden, weil zu jener Zeit tatsächlich noch eine Menge Wiederaufbau nach dem verlorenen Krieg zu leisten war, der irrt. Bereits damals war dieses Anwerbeabkommen faktisch nichts anderes als ein Stück Entwicklungshilfe für den früheren Kampfgenossen und späteren Kriegsgegner. Denn in Italien herrschte nach dem Krieg eine Art Notstand. Es fehlten Millionen von Arbeitsplätzen, vor allem in den südlichen Regionen. Und die arbeitslosen Männer wurden anfällig für die Verlockungen des Kommunismus.

So standen bereits 1953 italienische Unterhändler regelmäßig vor Konrad Adenauers Kanzleramt. Offensichtlich begründeten die Südeuropäer ihr Anliegen, Arbeitskräfte entsenden zu dürfen, mit dem Handelsbilanzdefizit, welches Italien gegenüber Deutschland hatte. Doch der Alte – Konrad Adenauer – zögerte. Erst gemeinsame Front von Franz-Josef Strauß – man ahnt es gar nicht – und Ludwig Erhard vermochte den Rheinländer 1954 zu bewegen, dem Drängen der Regierung in Rom nachzugeben.

Neben der Geopolitik war es auch die Schwächung der Position der deutschen Gewerkschaften, die durchaus gelegen kam. Diese waren anfangs vehement gegen die Anwerbung nichtdeutscher Arbeitskräfte. Auch das gehört zur Wahrheit dazu. Denn ein Überangebot zusätzlicher Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt musste zwangsläufig die Lohnforderungen der Arbeiter drücken.

1961 kam es dann zum Abkommen mit der Türkei. Aber, liebe Herrschaften von der FDP, der Aufbau des kriegszerstörten Deutschlands war zu diesem Zeitpunkt längst abgeschlossen. Das Wirtschaftswunder wurde nicht durch Gastarbeiter geschaffen, sondern durch Deutsche und viele Vertriebene. Alles andere ist ein Märchen. Das bedeutet nicht, die Leistungen der Gastarbeiter zu schmälern. Ich möchte nur historisch sauber sein. Das sind Sie an vielen Stellen nicht.

Der damalige Präsident der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung, Anton Sabel, hatte es bereits am 26. September 1960 gegenüber dem Arbeitsministerium auf den Punkt gebracht: Mit Blick auf den Arbeitsmarkt sei eine Vereinbarung mit der Türkei in keiner Weise notwendig. Allerdings könne er nicht beurteilen – Zitat –,

„wie weit sich die Bundesrepublik einem etwaigen solchen Vorschlag der türkischen Regierung verschließen kann, da die Türkei ihre Aufnahme in die EWG“

einen Vorläufer der EU –

„beantragt hat und als NATO-Partner eine nicht unbedeutende politische Stellung einnimmt.“

Damit war alles gesagt.

Aber: Warum werden solche – gelinde gesagt – lückenhaften und sachlich falschen Anträge von CDU, FDP, SPD und Grünen überhaupt gestellt?

CDU und FDP möchten ein paar Stimmen von Migranten einsammeln. Das ist zulässig. Das wollen wir auch. Das ist völlig in Ordnung.

Und die SPD? Warum stellt die SPD einen Antrag, der noch deutlich weiter geht, indem sie etwa auf – ich zitiere – „niedriges Einkommen und niedrige Renten sowie schlechte Wohnbedingungen“ bei den Gastarbeitern der ersten Generation hinweist? Gleichzeitig vergessen Sie hier jeden Tag Ihre ehemalige deutsche Stammwählerschaft, auf die das genauso zutrifft.

Warum biedert die SPD sich so viel mehr an? Die SPD ist auf Muslimkurs. Denn sie will gerettet werden. Aber diesen Gefallen werden die Türken in unserem Land Ihnen nicht tun. Dafür sind sie einfach zu klug. Der Rest wählt Erdoğan – egal, wo sie leben.

Das alles gehört zu einem vollständigen Bild über die Migration nach Deutschland gerade mit Blick auf die Anwerbeabkommen dazu. Aber dazu sind Sie nicht bereit und nicht in der Lage.

Die Lebensleistung dieser Menschen würdigen wir gerne. Aber das, was Sie erzählt haben, sind überwiegend Märchen.

(Beifall von der AfD)

Vielen Dank. – Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Dr. Stamp.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ohne die Menschen, die in den 1950er- und 60er-Jahren zu uns gekommen sind, wäre der Wohlstand, den wir heute haben, nicht möglich gewesen. Daran ändert auch irgendeine Verschwörungstheorie nichts, die hier von diesem Pult aus vortragen wird.

(Beifall von der CDU, der FDP, Michael Hüb- ner [SPD] und Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE] – Christian Loose [AfD]: Wie lächer- lich!)

Ich freue mich als Integrationsminister natürlich ganz besonders über den Erfolg der Firma BioNTech und darüber, dass zwei, die als Kinder nach Deutschland gekommen sind und hier erfolgreiche Mediziner geworden sind, jetzt Millionen, vielleicht sogar Milliarden Menschen Hoffnung machen können. Das ist

eine unglaubliche Lebensleistung, eine unglaubliche Erfolgsgeschichte.

Meine Damen und Herren, es gibt ganz viele Erfolgsgeschichten von denen, die im Zusammenhang mit den Anwerbeabkommen der 1950er- und 60er-Jahre zu uns gekommen sind.

Lieber Herr Kollege Yetim, wir sollten doch bei diesem Thema nicht haarspalterisch sein unter den demokratischen Fraktionen, die sich hier der Würdigung ebendieser Menschen annehmen, sondern gemeinsam die Ziele dieser Würdigung verfolgen.

Es ist auch völlig klar, dass es um die Menschen geht. Das haben die Abgeordneten von CDU und FDP, Frau Wermer und Herr Lenzen, hier auch vorgetragen. Wenn Sie ihnen zugehört hätten, hätten Sie das sehr deutlich wahrgenommen.

Wir nehmen die Jahrestage der Anwerbeabkommen auch zum Anlass, diese Menschen zu ehren. Wir wollen eine sichtbare Anerkennung. Wir haben auch bereits vieles getan, um die Lebensleistung dieser Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten und ihrer Familien zu würdigen.

Im Rahmen der landesweiten Integrations- und Wertschätzungskampagne #IchDuWirNRW zeigen wir Vorbilder aus der ersten Einwanderergeneration, die wir mit ihrer Lebensgeschichte vorstellen.

Die Landesregierung hat einen eindrucksvollen, rührenden Dokumentarfilm über die Lebensleistung der ersten Gastarbeitergeneration in Auftrag gegeben, der leider bisher wegen der pandemischen Situation noch nicht öffentlich Premiere feiern konnte. Aufgrund der Pandemie konnte die Uraufführung noch nicht öffentlichkeitswirksam stattfinden. Die Premiere wird jetzt im kommenden Jubiläumsjahr stattfinden, in dem wir den 60. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens begehen.

Mit dem türkeistämmigen Rapper Eko Fresh wurde der Song „1994“ realisiert, der die Lebensleistung der ersten Einwanderergeneration würdigt und der ein ganz breites positives Echo gefunden hat.

Das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland DOMiD e. V. in Köln erhält seit Langem institutionelle Förderung. Das Haus der Einwanderungsgesellschaft in Köln-Kalk wird auf Basis seiner umfangreichen Sammlung von Ausstellungsstücken ein neuer Meilenstein der Erinnerungskultur der Einwanderungsgesellschaft sein. In diesem Haus der Einwanderungsgesellschaft soll die Geschichte von Einwanderung und Integration in all ihren Facetten gezeigt werden.

Ich wünsche mir, dass es dann auch möglich ist, dass Großväter und Großmütter mit ihren Enkeln dort hingehen, um ihnen zu zeigen, wie es damals in den 1950er- und 60er-Jahren war, und ihnen dort