Nächstes Beispiel ist die Ministerialbürokratie: Sie haben innerhalb von drei Jahren 772 neue Stellen für Ministerialbeamte geschaffen. 772 neue Stellen entsprechen einem Personalkörper von drei kleinen durchschnittlichen neuen Ministerien im Jahr 2016, 2017. Sie bauen also jedes Jahr ein neues Ministerium auf, und niemand weiß, wofür. Wofür brauchen wir so viele neue Ministerialbeamtinnen und -beamte?
Erst letzte Woche hat die Präsidentin des Landesrechnungshofs Ihrer Regierung ein Zeugnis ausgestellt. Das unterscheidet sich grundsätzlich von dem, was Sie gerade zur Lobhudelei Ihres Haushalts an Belegen heranziehen wollten: glatt mangelhaft. Schuldenabbau und Sparen seien nicht die Gütesiegel der Haushaltspolitik dieser Landesregierung.
Herr Lienenkämper, eines muss man Ihnen lassen: Heute von einem nahezu schuldenfreien Haushalt zu fabulieren, muss man sich erst einmal trauen. Dieser Haushalten bedeutet in Wahrheit die höchste Neuverschuldung seit 2009: 6,1 Milliarden Euro neue Schulden. Bestimmt haben Sie nur vergessen, uns das sorgfältig zu erläutern.
Dabei möchte ich ausdrücklich nicht kritisieren, dass Sie auch in dieser schwierigen Phase – unser Land steckt coronabedingt natürlich in einer gesellschaftlich und wirtschaftlich schwierigen Phase – Geld in die Hand nehmen und ausgeben. Wir kritisieren nur, wofür Sie es ausgeben wollen, denn bei denjenigen, die es wirklich brauchen, kommt kein Cent an.
Corona führt doch dazu, dass die Schere zwischen Arm und Reich auch in Nordrhein-Westfalen immer weiter auseinandergeht. Wer vor der Krise schon wenig hatte, hat jetzt nichts mehr. Wer vor der Krise sein Kapital hat für sich arbeiten lassen, hat keine Krise erlebt – im Gegenteil: Die Dividenden sind auch in der Krise gezahlt worden, teilweise sogar von Unternehmen, die Staatshilfen kassiert haben.
Mit anderen Worten: Diejenigen, die nichts haben, haben auch nichts bekommen. Diejenigen, die alles hatten, haben noch einen steuerfinanzierten Bonus erhalten. Das ist Sprengstoff für unsere Gesellschaft.
Das gilt doch umso mehr, als wir den Supermarktkassiererinnen, Altenpflegerinnen und Erzieherinnen gemeinsam vor Kurzem in diesem Plenarsaal versprochen haben, dass wir sie nicht vergessen.
Ich habe gerade bewusst nur Frauen erwähnt, denn alle Studien zu diesem Thema zeigen: Frauen verlieren durch Corona mehr als Männer, nämlich gerade in gesellschaftlicher Hinsicht: Kinder und Küche haben in den letzten Monaten wieder den Alltag vieler emanzipierter Frauen bestimmt.
In der Krise sind viele wieder in die alte klassische Rollenverteilung verfallen. Der Fachbegriff dafür heißt Retraditionalisierung – was für ein schönes Wort für eine schlimme Entwicklung. Das wird zu den schlimmsten Spätfolgen von Corona führen, denn für dieses Problem wird es niemals einen Impfstoff geben.
Die Heilung muss durch die Politik erfolgen, also durch uns. Wir müssen liefern und die Rahmenbedingungen schaffen, dass die Pflege der Kranken, die Erziehung unserer Kinder und das Aufrechterhalten unserer Infrastruktur so bezahlt werden, dass diejenigen, die unser Leben ermöglichen, davon auch selbst leben können.
In Nordrhein-Westfalen verdient eine Verkäuferin mit einer 38-Stunden-Woche im Schnitt 1.890 Euro brutto im Monat. Damit arbeitet sie schon im Niedriglohnbereich.
Hat sie noch Kinder und wohnt in einer Großstadt, muss sie Hartz IV beantragen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Eine arbeitende Frau, die sich an der Supermarktkasse in den Sturm gestellt hat, als viele von uns im Homeoffice in Deckung gegangen sind, wird zur Bittstellerin. Das ist ein Skandal.
Das war schon vor der Krise so und ist heute erst recht so. Wo wollen Sie diesen Menschen mit Ihrer Politik helfen?
Mit bezahlbaren Wohnungen zum Beispiel wäre sehr vielen dieser Menschen geholfen, aber Sie tun das Gegenteil: Während Ihrer Regierungszeit ist der soziale Wohnungsbau um 40 % eingebrochen. Gleichzeitig werden Mieterschutzrechte reduziert. Das ist eine wohnungspolitische Bilanz des Scheiterns.
Im Schulbereich sieht es nicht besser aus. Diese Koalition berauscht sich an Lehrerstellen auf Papier, die es im wahren Leben nie geben wird. Das sind Phantomstellen, das sind Geisterstellen, mit denen kein einziges Kind unterrichtet wird.
Das Gleiche gilt übrigens auch für unsere Kitas und teilweise auch für unsere Polizei. Laut Bertelsmann Stiftung fehlen in Nordrhein-Westfalen fast 16.000 Erzieherinnen und Erzieher. Auch viele Stellen bei der Polizei sind unbesetzt. 6.700 Lehrerinnen und Lehrer fehlen an unseren Schulen; das sind 34.000 Stunden Unterricht, individuelle Förderung und sozialer Aufstieg, die ausfallen – und zwar jeden Tag.
Diese Koalition hat auch mit diesem Haushaltsentwurf keine Idee vorgelegt, wie man die schlechte Lage auch nur ein wenig verbessern könnte – mit
einer Ausnahme, nämlich der Staatskanzlei, wo alle Stellen besetzt sind. Ansonsten aber sind Sie plan- und hilflos.
Wehe, die Betroffenen wagen es, das zu kritisieren. Dann bekommen sie die Wut der Landesregierung zu spüren. Kritik gilt mittlerweile als Majestätsbeleidigung. Verbesserungsvorschläge werden als Angriffe gewertet. Wer Fehler macht, bekommt keinen Schutz, sondern wird vom eigenen Dienstherren an den Pranger gestellt.
Wir haben es in den vergangenen Monaten erlebt: Andere Ministerpräsidenten machen den Rücken breit, wenn während einer Notsituation etwas schiefläuft. Nicht so der Ministerpräsident von NordrheinWestfalen, der dann mit dem Finger auf die Betroffenen zeigt: auf Schulleiterinnen, auf Bürgermeister, auf Wissenschaftler. Alle sind schuld, nur er nicht.
Während sich 70 % aller Lehrkräfte von der Landesregierung im Stich gelassen fühlen, bezichtigt sie der stellvertretende Ministerpräsident zum Teil der Faulheit, sie kümmerten sich um ihre Vorgärten.
Dem Ganzen setzt die Krone auf, dass die Schulministerin neuerdings Lehrerinnen und Lehrern mit Gehaltskürzungen droht.
Das alles ist mittlerweile so abgehoben, dass man glauben könnte, der Sitz dieser Regierung sei nicht das Landeshaus, sondern der Rheinturm, das Rondell in 170 m Höhe, das sich Stunde um Stunde um sich selbst dreht, von dem aus alle Menschen so klein und ihre Probleme so unbedeutend aussehen, dass nichts die Begeisterung über die fantastische Aussicht trüben kann.
Diese Regierung hat den Bezug zum echten Leben verloren. Sie wissen nicht mehr, wie es auf dem Wohnungsmarkt aussieht. Sie wissen nicht, wie es ist, unter Pandemiebedingungen zu unterrichten oder Kinder zu betreuen. Sie haben erst recht keine Ahnung vom Leben im Niedriglohnsektor.
Es würde vielen Menschen helfen, wenn Sie wenigstens 24 Tage im Jahr im Homeoffice arbeiten dürften,
wenn man die Werkverträge in der Fleischindustrie verbieten würde oder wenn man nicht wieder sachgrundlos befristet angestellt werden dürfte. Diese Verbote behindert die CDU aber auf Bundesebene und leider auch auf Landesebene.
Es würde auch helfen, wenn Sie die Rechtsprechung nicht ständig von einem Verfassungsbruch nach dem anderen abhalten müsste. Noch nie hat eine Landesregierung in so kurzer Zeit so oft vor dem Verfassungsgerichtshof verloren.
Noch nie musste die Landesregierung so oft und immer wieder auf denselben Fehler hingewiesen werden. Das Oberverwaltungsgericht hat erst letzte Woche auf Antrag einer Gewerkschaft Sonntagsöffnungen außer Vollzug gesetzt, und zwar zum wiederholten Male.