Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen zu unserer heutigen, der 101. Sitzung des Landtags von Nordrhein-Westfalen in der aktuellen Legislaturperiode. Mein Gruß gilt den Gästen auf der Zuschauertribüne, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien sowie den Zuschauerinnen und Zuschauern an den Bildschirmen.
Für die heutige Sitzung haben sich 21 Abgeordnete entschuldigt; die Namen werden in das Protokoll aufgenommen.
Vor Eintritt in die Tagesordnung: Alle fünf im Landtag vertretenen Fraktionen haben sich zwischenzeitlich darauf verständigt, den ursprünglich für gestern vorgesehenen Tagesordnungspunkt 8 alt – Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Nordrhein-Westfalen zum Vorreiter der Kunststoff-Kreislaufwirtschaft machen – Ein Forschungsinstitut für Kunststoffrecycling fördern“ Drucksache 17/10840 – heute als Tagesordnungspunkt 3 zu behandeln. – Ich sehe keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Leben mit uns in der Corona-Pandemie – Jetzt die richtigen Weichen stellen, um unverzichtbare Strukturen zu erhalten!
Die Fraktionen von SPD, CDU und FDP haben jeweils mit Schreiben vom 14. September gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu den genannten aktuellen Fragen der Landespolitik eine Aussprache beantragt.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die Fraktion der SPD dem Abgeordneten Kutschaty das Wort.
Wissen Sie noch, was wir am 24. März dieses Jahres hier im Plenarsaal gemacht haben? – Wir haben uns am 24. März dieses Jahres im Plenarsaal von unseren Plätzen erhoben und all denjenigen Beschäftigten applaudiert, die im Lockdown die Lebensmittelversorgung, die Daseinsvorsorge und das Gesundheitssystem trotz persönlicher Risiken für ihre eigene Gesundheit aufrechterhalten haben. An jenem Tag im März haben wir anerkannt, wer systemrelevant ist und auf wen man sich verlassen kann, wenn es darauf ankommt.
Allerdings bedeutet systemrelevant in diesem Land zu sein nicht automatisch, in sozialer Sicherheit zu leben. In Nordrhein-Westfalen verdient eine Verkäuferin mit einer 38-Stunden-Woche im Durchschnitt 1.890 Euro brutto im Monat. Damit arbeitet sie im Niedriglohnbereich. Hat sie noch Kinder, muss sie Hartz IV beantragen, um über die Runden zu kommen.
Meine Damen und Herren, eine arbeitende Frau wird zur Bittstellerin, eine arbeitende Frau, die sich in den Sturm gestellt hat, als viele von uns im Homeoffice in Deckung gegangen sind. Das ist ein Skandal, liebe Kolleginnen und Kollegen!
178 Tage sind seit dieser Landtagssitzung vergangen, der Applaus ist längst verklungen, und nun tritt ein, was zu befürchten war: Die Heldinnen und Helden der Krise sind die Verlierer*innen der Krise. Die Zahlen der Wirtschaftsforschungsinstitute, die uns in diesen Tagen erreichen, sind leider eindeutig: Je weniger eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer vor der Pandemie verdiente, desto höher sind die Einkommensverluste in der Pandemie.
Dabei war schon die Situation vor der Krise nicht gut. Deutschland leistet sich mit über 20 % aller Beschäftigten den größten Niedriglohnsektor Europas. In Schweden sind es nur 3 %. Trotzdem werden in Schweden Kranke und Alte gepflegt, trotzdem sitzen in Schweden Beschäftigte an den Supermarktkassen, trotzdem werden Büros gereinigt. Der Niedriglohnsektor ist keine ökonomische Notwendigkeit. Deshalb wollen wir schwedische Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt in Nordrhein-Westfalen, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das ist ein Gebot der Leistungsgerechtigkeit, es ist aber auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft. Wir merken doch jetzt gerade in dieser Pandemie, dass der Export schwächelt, wir auf Binnennachfrage setzen müssen. Deswegen ist es gut, dass wir Kaufkraft nach Nordrhein-Westfalen, nach Deutschland bekommen.
Nicht zuletzt ist die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit auch ein Gebot der Demokratie. Wo die Einkommen gering sind, ist auch die Wahlbeteiligung gering. Zu viele Menschen sehen keinen Sinn mehr darin, wählen zu gehen. Bei den Kommunalwahlen am letzten Sonntag ist die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung noch einmal größer geworden.
Machen wir uns nichts vor: Die Ungerechtigkeit des Dreiklassenwahlrechts schleicht sich über die Hintertür der Wahlbeteiligung wieder in unsere Verfassungsrealität.
Wer glaubt, das sei nicht sein Problem, weil die eigenen Wähler ja in Köln-Lindenthal oder in Essen-Bredeney wohnen, der wird irgendwann das Schicksal von David Cameron und Hillary Clinton erleiden.
Wir müssen, aber wir können auch wieder für mehr Leistungsgerechtigkeit in unserem Land sorgen. Der Erfolg des Mindestlohns zeigt, dass das möglich ist. Der Mindestlohn hat dafür gesorgt, dass Geringverdiener zum ersten Mal seit 15 Jahren überhaupt wieder reale Lohnzuwächse hatten. Hier müssen wir anschließen, und zwar mit vier Punkten.
Erstens. Der Mindestlohn muss auf ein Niveau steigen, das eine armutsfeste Rente garantiert. 12 Euro pro Stunde sind dafür nur noch die Untergrenze. Bis es soweit ist, wäre schon viel gewonnen, wenn die Landesregierung endlich für Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt sorgen würde. Tun Sie endlich Ihre Pflicht und kontrollieren Sie die Einhaltung des Mindestlohns in Nordrhein-Westfalen!
Zweitens. Der beste Schutz vor sozialer Ungleichheit und Niedriglöhnen sind starke Gewerkschaften und starke Tarifverträge. Tarifflucht darf sich nicht mehr lohnen. Ich habe sehr positiv vernommen, dass die Gewerkschaft ver.di jetzt im Bereich der Altenpflege einen neuen Tarifvertrag mit einem Stundenlohn von 18,50 Euro abgeschlossen hat. Solche Tarifverträge müssen jetzt schnell allgemeinverbindlich werden, damit alle Beschäftigten in der Altenpflege davon etwas haben.
Drittens. Wir müssen dafür sorgen, dass die Mieten in Nordrhein-Westfalen sinken oder zumindest nicht weiter steigen. Mieterrechte müssen gestärkt, das Wohnungsangebot für bezahlbare Wohnungen muss drastisch ausgeweitet werden. Das gelingt nur durch massive Investitionen in den öffentlichen Wohnungsbau. Leider sieht die Landesregierung tatenlos zu, wie Mietsteigerungen jede Lohnerhöhung automatisch auffressen. Das muss sich ändern, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Viertens. Wir brauchen eine große Steuer- und Abgabenreform. In der Pandemie wird viel darüber diskutiert, wer jetzt zu entlasten ist, damit es mit der Wirtschaft wieder weitergeht. Auch CDU und FDP haben dazu sicherlich Vorschläge. Aber in dem Punkt unterscheiden wir uns. Wir wollen keine Steuersenkungen für Millionäre. Wir wollen keine Steuersenkungen für Friedrich Merz, wir wollen Entlastungen für seine Putzfrau, seinen Fahrer und seine Gärtnerin.
Wir wollen die Entlastungen für die echten Leistungsträger in unserem Land, für die Frauen und Männer, die unsere Kinder betreuen, unsere Angehörigen pflegen und in der Kantine unser Essen kochen. Wir wollen Entlastungen für alle, die Stahl gießen, Windräder bauen und Busse fahren.
Im Gegenzug dazu müssen wir exorbitante Vermögen und Erbschaften gerechter besteuern. Allein durch den Immobilienboom der letzten Jahre ist das Vermögen der 10 % reichsten Deutschen inflationsbereinigt um 1,5 Billionen Euro gewachsen. 1,5 Billionen Euro – und das ohne einen einzigen Cent an Investitionen! Hinzu kommen drastische Vermögenszuwächse auf dem Finanzkapitalmarkt. Leistungslose Vermögen und Einkommen, die nicht investiert werden und für die sich niemand anstrengt, müssen endlich einen angemessenen Anteil zum Allgemeinwohl beitragen.
Mit Leistungsgerechtigkeit hat dieser Grad der Ungleichheit in unserem Land nichts mehr zu tun. Es wird Zeit, dass wir die Versprechen, die wir vor 178 Tagen hier gegeben haben, jetzt endlich einlösen. – Herzlichen Dank.
Kutschaty und liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion, ich bin schon erstaunt. Sie nehmen einen zweiseitigen Artikel in der „Bild“-Zeitung zum Anlass für einen einseitigen Antrag – zum Thema „Frauen“ haben Sie in dem zweiten Teil Ihres Antrags gar nichts gesagt – und führen eine Generaldebatte nach dem Motto: Alles, was ich als Sozialdemokrat schon einmal sagen wollte, haue ich heute raus.
(Beifall von der CDU und der FDP – Sven Wolf [SPD]: Ziemlich getroffen, oder? – Weitere Zu- rufe von der SPD)
Ich möchte trotzdem kurz auf den Artikel eingehen, damit draußen in der Bevölkerung und hier im Hause klar wird, worauf Sie sich eigentlich beziehen. Der Artikel – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten – bezieht sich auf eine Studie in Amerika. Dort heißt es: