Protocol of the Session on October 2, 2014

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Minister Jäger. – Als nächster Redner hat sich für die FDP-Fraktion Herr Lindner, Fraktionsvorsitzender, gemeldet. Bitte schön, Herr Lindner.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! In Nordrhein-Westfalen wird Menschen, möglicherweise in der schwersten Stunde ihres Lebens, die Würde genommen – im Verantwortungsbereich der Landesregierung. In dieser Situation stellt sich der Innenminister dieses Landes hin und pumpt sich auf, wie wir es gerade bei seinem letzten Redebeitrag erlebt haben.

(Beifall von der FDP, der CDU und den PIRATEN)

Der Landtag ist selten Zeuge einer solchen Rede geworden, in der der Innenminister NordrheinWestfalens trotz der Menschenrechtsverletzungen, die es in Einrichtungen im Land NordrheinWestfalen gibt, Nordrhein-Westfalen auch für die Zukunft noch als Vorbild für die Standards zur Begleitung von Flüchtlingen herausstellt.

(Beifall von der FDP, der CDU und den PIRATEN)

Das muss man sich vorstellen. Es hat ein eklatantes Organisationsversagen in Ihrem Verantwortungsbereich gegeben, Herr Jäger.

(Zuruf von der CDU: Ziehen Sie die Konse- quenzen!)

Man hätte – das hat die Debatte gezeigt – viel früher wissen können, welche Defizite es gibt, welche Mängel bestehen. Das hat Sie alles nicht interessiert. Stattdessen stellen Sie sich hier vor den Landtag in der Weise, wie wir es gerade erlebt haben. Das ist ein bemerkenswertes Beispiel gleichermaßen für die Weigerung, die Wirklichkeit zur Kenntnis

zu nehmen, wie für die Verweigerung der politischen Verantwortung, Herr Jäger. Die liegt nämlich bei Ihnen.

(Beifall von der FDP, der CDU und den PIRATEN)

Und zu diesem Organisationsversagen ist es offensichtlich auch deshalb gekommen, weil Sie aus dem Innenministerium eine persönliche PR-Maschine gemacht haben.

(Zurufe von der SPD)

Sie haben Zeit und Kapazität für alles Mögliche, aber offensichtlich nicht für das Kerngeschäft.

(Regina Kopp-Herr [SPD]: Finden Sie das nicht unwürdig?)

Dafür, Herr Jäger, hätten wir von Ihnen wenigstens ein Stück Demut hier heute erwartet, gerade von Ihnen!

(Beifall von der FDP und der CDU)

Gerade von Ihnen, weil wir von Ihnen in Ihrer Zeit als Abgeordneter auf der Seite der Opposition – wir sind sportlich in der Auseinandersetzung hier im Haus – immer erlebt haben, wie Sie rücksichtslos, brutal, auch unter der Gürtellinie Regierungsmitglieder früherer Kabinette angegriffen haben.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Und den Maßstäben werden Sie hier nicht gerecht.

In der Tat, die heutige Opposition hat einen anderen Stil, als Sie ihn damals gepflegt haben. Deshalb fordern wird Ihren Rücktritt nicht. Aber, Herr Jäger, wenn Sie in dieser Lage im Amt bleiben, dann wirft das einen Schatten auf Ihren Charakter. Wenn Sie noch einen Funken Ehre im Leib haben, dann stellen Sie Ihr Amt zur Verfügung

(Beifall von der FDP und der CDU)

und machen das, wozu Sie andere immer aufgefordert haben, selbst.

Zum Schluss: Frau Ministerpräsidentin, dass Sie in dieser Debatte, zumindest bislang, noch nicht das Wort ergriffen haben, das ist auch ein ganz deutliches Signal. Sie sprechen immer mit großer Emphase davon, kein Kind solle zurückgelassen werden. Sie wollen in Nordrhein-Westfalen jeden Tag ein neues sozialpolitisches Leuchtfeuer entzünden, das die ganze Republik wärmen soll. Und dann in dieser Lage sagen Sie nichts, übernehmen keine Verantwortung, sondern laden es ab beim Innenminister, bei Ihrer Fraktion. Das zeigt, Frau Ministerpräsidentin: Die soziale Fassade der Hannelore Kraft ist umgefallen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vielen Dank, Herr Lindner. – Als nächster Redner ist für die Piraten

fraktion Herr Kollege Herrmann angekündigt. Bitte schön.

Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was haben wir nicht schon alles für ein Hin und Her gehört. Aber eines hat noch keiner gefragt, nämlich warum wir uns erst heute mit diesem Thema beschäftigen und nicht schon gestern, am ersten Plenartag. Hatte vorher niemand Zeit, oder wollten Sie warten, bis der Skandal vielleicht vorbei ist? Ich denke, so schnell geht das nicht.

(Zuruf von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft)

Entschuldigung Frau Kraft, zu Ihrem Einwurf, die Unterrichtung vom Ministerium war für heute angemeldet: Das hätten wir aber auch gestern machen können.

Es ist für mich immer noch schwer vorstellbar, dass die Bilder mit den am Boden liegenden Menschen gerade einmal 100 km von hier, vom Landtag entfernt, aufgenommen worden sind. Das ist eine Schande für Nordrhein-Westfalen. So etwas dürfte es hier nicht geben. Wir müssen alles dafür tun, dass das nie wieder passiert.

(Beifall von den PIRATEN)

Damit kommen wir direkt zu einem Kernpunkt dieser Debatte, nämlich Verantwortung und Verpflichtung. Es ist nicht das erste Mal, dass wir hier im Landtag Nordrhein-Westfalen über Verantwortung sprechen. Sehr oft wird dann mit dem Finger auf die anderen gezeigt, die anderen Parteien, Fraktionen, auf den Bund, die Kommunen, private Unternehmen oder sogar die ganze Gesellschaft. Das führt dann dazu, dass Verantwortung hin- und hergeschoben wird und schließlich gar nicht mehr wahrgenommen wird. Herr Körfges, Sie haben einige exemplarische Beispiele dafür geliefert, Herr Minister ebenfalls.

Nun betrifft es eine ganz besonders schutzbedürftige Gruppe von Menschen. Das Ausmaß der Verantwortungslosigkeit ist erschreckend. In Burbach war es anscheinend an der Tagesordnung, dass Schutzbefohlene gequält, vernachlässigt, misshandelt und gedemütigt worden sind. – So ist der Informationsstand im Moment.

Um es klar und deutlich zu sagen: Die Misshandlungen werfen wir den Wachleuten vor. Aber die Vernachlässigung oder gar Schlimmeres – es kommt ja nur ein kleines Stückchen heraus – werfen wir der Landesregierung und den Verantwortlichen vor. Und wenn die Polizei und Beamte des Ministeriums oder der Bezirksregierung Arnsberg tatsächlich vorher etwas von den Vorfällen wussten, dann müssen die Verantwortlichen gehen, und zwar sofort. Alles andere wäre unerträglich.

(Beifall von den PIRATEN)

Unerträglich sind aber auch die Zustände in den Landesaufnahmeeinrichtungen. Für diese Zustände tragen Sie, meine Damen und Herren, die Verantwortung. Ich meine damit nicht nur die Landesregierung in der Person von Herrn Jäger – das haben Sie richtig gehört –, auch der Landtag NRW hat versagt.

(Zuruf von Marc Herter [SPD])

Dass die Flüchtlingszahlen steigen, die Zahl der Kriege und Krisenherde zunimmt, wissen wir nicht erst seit gestern. Das Land ist aber gesetzlich verpflichtet, die zugewiesenen Flüchtlinge menschenwürdig aufzunehmen. Und es hat sich darauf nicht ausreichend vorbereitet. Ich würde sagen: Es hat sich fast gar nicht darauf vorbereitet.

Hier im Landtag ist seit mehr als zwei Jahren bekannt, dass die Flüchtlingsaufnahme in ganz NRW in einer Krise steckt. Das wurde im Plenum, in Ausschüssen, Veranstaltungen, Zuschriften, Positionspapieren, Anträgen, Briefen, Anhörungen und informellen Runden thematisiert. Jeder Abgeordnete in diesem Haus war informiert. Ich würde sagen: Sie sind sehenden Auges in die Katastrophe gesteuert.

Hier nun auch noch den Eindruck eines rasanten, überraschenden oder gar nicht zu bewältigenden Anstiegs von Flüchtlingszahlen zu kolportieren – was wir einige Male gehört haben –, das ist mehr als armselig, es ist zudem auch noch gefährlich, und es fördert Ressentiments.

(Beifall von den PIRATEN)

Nein, unsere Fraktion zähle ich nicht dazu. Wir haben eine Neukonzeption der Flüchtlingsaufnahme mit verbindlichen Standards und Kontrollen und dezentraler, humaner Unterbringung gefordert. Wir fordern seit einem Jahr die Offenlegung aller Verträge und Vereinbarungen mit den Betreibern der Einrichtungen. Und wir forderten bereits im letzten Jahr mehr Personal für das Ministerium und die Bezirksregierung Arnsberg, damit das alles umsetzbar ist. Aber erst jetzt genehmigt der Herr Minister 23 Stellen. Das ist viel zu spät.

In einem Interview mit der „Tagesschau“ am Montag erklärte Kay Wendel, der im Auftrag von Pro Asyl eine umfangreiche Studie zur Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland veröffentlicht hat, Folgendes – ich zitiere –:

„Es gab von Politikern in NRW und in Brandenburg in der letzten Zeit Aussagen, dass angesichts des angeblichen Unterbringungsnotstands Mindeststandards nicht mehr berücksichtigt werden könnten, die könne man sich jetzt nicht mehr leisten.“

Ich weiß übrigens, welche Politiker aus NRW gemeint sind. Belege dafür finden der interessierte Mensch in den Plenarreden und Ausschussprotokollen der letzten Jahre.

Herr Wendel führte weiter aus – ich zitiere noch mal mit Erlaubnis des Präsidenten –:

„Insofern ist es auch kein Wunder, dass Misshandlungsfälle jetzt auftreten und unseriöse Betreiber oder outgesourcte Wachschutzfirmen sich so etwas leisten.“

Das ist, wie ich finde, eine deutliche Warnung!

Meine Damen und Herren, unserer Meinung nach hätte die Misshandlung von Flüchtlingen in den Flüchtlingsunterbringungseinrichtungen durch die Landesregierung verhindert werden können. Es gab genug Hinweise. Und ob die Polizei oder der Bürgermeister vorher informiert war, das wird sich noch herausstellen.

Der Bericht über die aktuelle Situation in den Einrichtungen aus dem letzten Innenausschuss am 18. September wurde schon erwähnt. Den hatten wir bestellt; ich muss das leider noch mal betonen. Vor genau zwei Wochen also hatten Herr Jäger und seine Beamten den Auftrag, die aktuelle Situation aufzuarbeiten. Von den jetzt bekanntgewordenen Zuständen ist im Bericht und in den Erklärungen im Ausschuss aber kein Wort zu finden. Im Gegenteil: In der Sitzung und im Bericht wurde lediglich stark beschwichtigt, sämtliche Kritik vom Tisch gewischt. Nun ist offensichtlich, dass die Opposition belogen wurde oder das Ministerium völlig ahnungslos war. Ich weiß nicht, was schlimmer ist. Wir werden das auf jeden Fall aufklären müssen.