Protocol of the Session on October 16, 2013

Wir stimmen ab. Der Ältestenrat empfiehlt die Überweisung des Antrags Drucksache 16/4027 an den Ausschuss für Haushaltskontrolle. Die abschließende Beratung und Abstimmung sollen dort in öffentlicher Sitzung erfolgen. Wer möchte dieser Überweisungsempfehlung Folge leisten? – Ist jemand dagegen? – Enthält sich jemand? – Das ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisungsempfehlung einstimmig angenommen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt

5 Aussetzung der Sanktionen im ALG II Bezug

Antrag der Fraktion der PIRATEN Drucksache 16/4162

Ich eröffne die Beratung. Für die antragstellende Fraktion hören wir jetzt den Kollegen Sommer.

Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer und Zuschauerinnen auf der Tribüne und natürlich im Live-Stream! Laut einer Pressemitteilung des Landkreistages vom 1. Oktober dieses Jahres befanden sich im September 2013 bundesweit über 6 Millionen Menschen im Bezug von SGB-II-Leistungen. Während in den ostdeutschen Ländern der Anteil an Hartz-IV-Beziehern seit 2005 deutlich sinkt, ist in Berlin und NordrheinWestfalen leider nichts vorangegangen. Bundesweit haben wir uns hier am schlechtesten entwickelt. Im August 2013 musste eine höhere Anzahl von Menschen im Hartz-IV-Bezug verzeichnet werden als noch vor acht Jahren, als die Arbeitslosigkeit in Deutschland insgesamt auf einem Rekordniveau war.

Was tun wir an dieser Stelle? Statt Hilfe und einer intensiveren Betreuung setzen viele Jobcenter hier verstärkt auf Sanktionen. War die Anzahl der verhängten Sanktionen bis zum Mai dieses Jahres noch zurückgegangen, ist sie zuletzt wieder deutlich angestiegen, obwohl es kein Plus an freien Arbeitsstellen gibt.

Im Einzelnen:

Wie sich aus diversen Statistiken schon ablesen lässt, resultieren die meisten Sanktionen aus Verspätungen oder Terminversäumnissen. Bei den über 25-Jährigen gehen damit Sanktionen in Höhe von jeweils 10 % des Bezuges einher – kumulierend, versteht sich. Mit dieser Sanktion fällt derjenige regelmäßig unter einen Bezug, der als existenzsichernd anzunehmen ist. Mit anderen Worten: Von einem solchen Bezug kann man auch bei Anlegung von strengen Kriterien nicht mehr leben.

Selbst wenn hier nicht durchgängig auf Sanktionen abgezielt wird, muss man festhalten, dass der Betreffende immer dem Ermessen des jeweiligen Sachbearbeiters ausgeliefert ist. Auch diese ungleiche Behandlung lässt viele Bezieher verzweifeln, gerade dann, wenn sie sich untereinander austauschen und dadurch von den unterschiedlichen Maßstäben erfahren. Für die Sachbearbeiter ist das ebenfalls keine einfache Situation.

Dass Sanktionen wegen nicht eingehaltener Termine im Gegensatz zu Sanktionen wegen einer Pflichtverletzung die häufigsten sind, kann wohl nicht alleine daran liegen, dass es so viele Terminversäumnisse gibt. Es ist eher anzunehmen, dass diese Art der Sanktion leichter nachweisbar und gegenüber dem Bezieher auch leichter durchsetzbar

ist. Und selbst dann kommen wir in den Widerspruchsverfahren zu einem Durchsetzungsgrad von nur etwa 50 %.

Explizit genannt werden hier die Regelungen der Sanktionspraxis, die hauptsächlich in den §§ 31 und 31a des SGB II normiert sind. Eine hier vorgenommene Unterscheidung in über und unter 25-Jährige halten wir für willkürlich und somit für nicht vereinbar mit dem AGG.

Denn § 31a Abs. 2 Sozialgesetzbuch II bestimmt, dass bei Menschen unterhalb der willkürlichen Altersgrenze der Regelsatz komplett entfällt, wenn nur ein Verstoß gegeben ist. Bei einer Wiederholung entfällt sogar das Geld für Unterkunft und Heizung. Während im letzten Fall bei einem sogenannten reuigen Verhalten zumindest die Unterkunft wieder bezahlt wird, verbleibt es bei der harten Regelung – der Regelsatzstreichung – beim ersten Verstoß. Verschärfend kommt hinzu, dass es an dieser Stelle keinen gesetzlichen Ermessensspielraum gibt.

In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant, zu erfahren, wie das in der am 1. Januar in Kraft getretenen Agenda 2010 genannte Konzept „Fördern und Fordern“ überhaupt evaluiert wurde. Beispielsweise die Erfassung der Gesamtkosten der Sanktionspraxis, übrigens insbesondere im Justizbereich, muss an dieser Stelle vollumfänglich einbezogen werden. Das ist bisher leider nicht geschehen.

Auf meine Kleine Anfrage vom 6. August 2013 zum Thema „Rechtssicherheit in der Sanktionspraxis“ erhielt ich von der Landesregierung viermal die Antwort: „Der Landesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.“

Am Ende lässt sich Folgendes zusammenfassen: Die bisherige Sanktionspraxis, seit 2005 angewandt, lässt sich kaum wissenschaftlich auswerten und kann somit als gescheitert angesehen werden.

(Beifall von den PIRATEN und Martina Maaßen [GRÜNE])

Wir müssen neue Wege finden, Menschen zu motivieren und mitzunehmen, anstatt sie zurückzulassen und damit auszugrenzen.

Im Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales müssen wir uns mit dieser Frage wieder eingehend befassen. Bereits in der letzten Wahlperiode gab es zu dieser Thematik eine Entscheidung im Ausschuss. Leider ist die endgültige Befassung der Diskontinuität zum Opfer gefallen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam diese wichtige Aufgabenstellung erneut aufgreifen und zu einem ergebnisorientierten Abschluss bringen.

Ich möchte an dieser Stelle unsere Landtagspräsidentin, Frau Gödecke, zitieren, die am letzten Freitag hier am Pult sagte: „Nordrhein-Westfalen muss das soziale Gewissen der Bundesrepublik sein.“

Dem kann ich mich nur anschließen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Vielen Dank,

Torsten Sommer. – Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Frau Kollegin Jansen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren, auch auf der Besuchertribüne und wo sonst Sie zuhören! Das Grundgesetz der BRD garantiert in Art. 1 die allgemeine Menschenwürde und enthält in Art. 20 das Sozialstaatsgebot und somit auch das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. Ich glaube, darüber sind wir uns alle einig. Aber die Verfassung garantiert nicht die Gewährung bedarfsunabhängiger und voraussetzungsloser Sozialleistungen.

Deshalb – das haben Sie schon angesprochen, Herr Kollege Sommer – darf ich für uns sagen: Das Prinzip des Förderns und Forderns gilt weiterhin. Der Betroffene, die erwerbsfähige Person, muss mithelfen, seine Situation zu verbessern. Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch – so ist das, meine Damen und Herren – unterliegen nun mal Gesetzen, die es zu befolgen gilt. Deshalb bejahen wir auch grundsätzlich das Prinzip „Fördern und Fordern“, denn wenn Fehlverhalten grundsätzlich nicht sanktioniert wird, ist das kein adäquater Weg, die Mitwirkung der oder des Leistungsberechtigten zu erreichen. Ich glaube auch, dass von niemandem bestritten wird, dass Sanktionen bzw. Absenkungen der Leistungen nach § 31a verhaltenssteuernd wirken sollen und eigene Anstrengungen des oder der Arbeitslosen einfordern.

Auf der anderen Seite muss man auch ganz klar sagen, dass hierbei Maß gehalten werden muss. Sanktionen bzw. Leistungskürzungen müssen innerhalb eines existenzsichernden Leistungssystems stattfinden. Deshalb ist ein verantwortungsvoller Umgang der Jobcenter damit sehr wichtig. In der sogenannten Eingliederungsvereinbarung vereinbarte Pflichten müssen erfüllbar sein. Denn – und das ist, glaube ich, der wichtigste Punkt – das Ziel bleibt eine Integration in den Arbeitsmarkt und nicht die Schikane des oder der Arbeitslosen.

Leider ist festzustellen, dass gerade bei jugendlichen Leistungsempfängern unter 25 bei der ersten Pflichtverletzung das Arbeitslosengeld II auf die Hilfeleistungen für Unterkunft und Heizung beschränkt wird. Bei einer wiederholten Pflichtverletzung können auch die komplett gestrichen werden. Da muss man ganz klar sagen: Das konterkariert den Eingliederungsprozess und hat eventuell sogar Wohnungslosigkeit oder auch den Abbruch des Kontak

tes zum Jobcenter zur Folge. Das ist nicht zielführend. Das wollen wir alle nicht.

(Beifall von Torsten Sommer [PIRATEN])

Danke, Herr Sommer. – Deshalb möchte ich hier ausdrücklich betonen, dass für uns die Unterstützung der Leistungsempfängerinnen und -empfänger viel wichtiger ist.

Als Voraussetzung zur Arbeitsaufnahme ist

manchmal auch eine soziale Unterstützung nötig. Das kostet natürlich Zeit. Wie Sie von der Piratenfraktion in Ihrem Antrag auch ausgeführt haben, ist ein Rückgang der Sanktionen eingetreten, da die Bundesagentur für Arbeit – nach eigenen Aussagen allerdings – besser berät. Wir brauchen also Zeit und Geld. Da haben es die Jobcenter vor Ort manchmal schwer.

Die Absenkung des Eingliederungstitels durch die Bundesagentur für Arbeit, das heißt durch die Bundesregierung, hat zum Beispiel für meine Heimatstadt und für das Jobcenter der Städteregion Aachen fatale Folgen. Ich darf Ihnen vielleicht die Zahlen kurz nennen. Wir haben eine Absenkung des Eingliederungstitels von 32,4 Millionen € im Jahre 2011 auf 26,3 Millionen € im vergangenen Jahr festzustellen. Da müssen wir realistisch sein: Das bleibt nicht ohne Folgen für die Qualität von Maßnahmen und vor allem auch für den Betreuungsschlüssel.

Ich möchte mich ausdrücklich bei den Antragstellern bedanken, dass sie nicht angefangen haben, die Jobcenter-Mitarbeiter zu verunglimpfen oder zu beschimpfen. Ich glaube, jeder, der mal einen halben Tag in einem Jobcenter zugebracht hat – das habe ich aus Hospitationsgründen mal getan –, kann sehr gut verstehen, unter welchem Druck die Mitarbeiter stehen und dass dieses Geschäft nicht einfach ist. Die Kolleginnen und Kollegen leisten dort keine einfache Arbeit, meine Damen und Herren.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Ganz zum Schluss kann ich mir einen Hinweis nicht verkneifen, lieber Herr Sommer: Wenn schon Anträge der ehemaligen Kollegen der Linken recycelt werden, dann machen Sie es doch bitte in einer ähnlichen Qualität! Denn dass nicht so richtig klar ist, was sanktioniert wird, dass die Erfolgsquote irgendwie nicht richtig erkennbar ist und dass die entstehenden Kosten durch Sozialgerichtsverfahren nicht so richtig transparent sind, rechtfertigt eigentlich keine komplette Aussetzung der Sanktionen im ALG-II-Bezug. Deswegen ist das mit diesem Antrag so ein bisschen wie im Kino: Wenn man den Film auf der Leinwand mit der Handykamera abfilmt, hat man auch den Film, aber in schlechterer Qualität.

(Vereinzelt Beifall von der CDU)

Sie haben aber noch Zeit, im Ausschuss nachzulegen. Deshalb freue ich mich auf die Beratung. Wir

stimmen der Überweisung selbstverständlich zu. – Danke schön.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Jansen. – Für die CDU-Fraktion spricht jetzt der Kollege Kerkhoff.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Hartz-IV-Reformen am Arbeitsmarkt waren erfolgreich. Es sind mehr Menschen in Beschäftigung. Auch die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist zurückgegangen, wenn auch nicht in dem Maße, wie wir uns das alle wünschen würden.

Gerade NRW hinkt aber beim Abbau der Langzeitarbeitslosigkeit hinterher; Kollege Sommer hat vorhin bereits darauf hingewiesen.

Das ist aus unserer Sicht unbefriedigend. Deshalb braucht NRW mehr wirtschaftliche Dynamik und keine Landesregierung, die bei den verschiedensten Stellen auf der Bremse steht.

(Beifall von der CDU)

Die Jobcenter in NRW haben den Auftrag, Langzeitarbeitslose wieder in Beschäftigung zu bringen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort haben keinen einfachen Job, erfüllen diesen aber mit großem Engagement. Dafür gebührt ihnen unser aller Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Für ihre Aufgabe steht ihnen ein breites Instrumentarium zur Verfügung. Das ist richtig so, weil es den Arbeitslosen nicht gibt. Jeder Mensch ist anders, und jeder Fall ist anders gelagert. Deshalb brauchen die Jobcenter die Möglichkeit, auf unterschiedliche Situationen unterschiedlich zu reagieren.

Kommt es bei dem einen eher darauf an, ihn in einer schwierigen Lebenssituation zu stabilisieren und ihm Hilfestellung zu geben, gibt es andere, die auch den Druck brauchen, um sich zu bewegen. Richtigerweise gehört zu den Werkzeugen, die die Jobcenter haben, auch die Möglichkeit, Sanktionen zu verhängen, wenn Leistungsempfänger Verpflichtungen nicht einhalten. Ich sehe überhaupt keinen Grund, auf diese Möglichkeit zu verzichten. Die Tatsache, dass die Zahl der Sanktionen zurückgegangen ist, spricht in keiner Weise gegen das Instrument, im Gegenteil.

Meine Damen und Herren, eines möchte ich nicht: dass wir auf der einen Seite diejenigen haben, die sich anstrengen, wieder in Arbeit zu kommen, die sich auf Neues und auch Unbequemes einlassen, während es auf der anderen Seite wenige Personen gibt, die mit ihrer Verweigerungshaltung zum Ausdruck bringen, dass sie das alles nichts angeht.