Protocol of the Session on January 23, 2013

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich heiße Sie alle ganz herzlich willkommen zu unserer heutigen, der 20. Sitzung des Landtags von Nordrhein-Westfalen, die zugleich die erste Sitzung im Jahr 2013 darstellt.

Mein ganz besonderer Gruß gilt wie immer unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich drei Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden wir dem Protokoll hinzufügen.

Wir haben wieder die freudige Gelegenheit, einer Kollegin und einem Kollegen zum heutigen Geburtstag zu gratulieren. Beide sind von der SPDFraktion. Es feiern ihren Geburtstag Herr Kollege Frank Börner und die Kollegin Renate Hendricks. Im Namen des gesamten Parlamentes wünsche ich Ihnen alles Liebe und Gute zum Geburtstag und freue mich, dass Sie Ihren Geburtstag heute im Plenum des Landtags Nordrhein-Westfalen verbringen.

(Allgemeiner Beifall)

Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, möchte ich Ihnen noch folgenden Hinweis geben: Der Chef der Staatskanzlei hat uns mit Schreiben vom 17. Januar 2013 den Ersten Nachtrag zur Haushaltssatzung des Landesverbandes Lippe für das Haushaltsjahr 2012 sowie zwei Durchschriften des Genehmigungserlasses des Innenministers zugesandt. Gemäß § 9 des Gesetzes über den Landesverband Lippe vom 5. November 1948 bitte ich um Kenntnisnahme. – Diese stelle ich hiermit fest. Die Unterlagen, liebe Kolleginnen und Kollegen, können wie immer im Archiv eingesehen werden.

Damit können wir in die Beratung der heutigen Tagesordnung eintreten.

Ich rufe auf:

1 Rückgang strafrechtlicher Verurteilungen und

Anstieg der Verfahrenseinstellungen trotz besorgniserregender Kriminalitätsentwicklung in Nordrhein-Westfalen

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP Drucksache 16/1952

Die Fraktion der CDU und die Fraktion der FDP haben mit Schreiben vom 21. Januar 2013 gemäß § 90 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu der genann

ten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner vonseiten der antragstellenden Fraktionen Herrn Kollegen Kruse das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die innere Sicherheit ist und bleibt eine Kernaufgabe des Staates und hat aus vielerlei Gründen einen deutlichen Vorrang vor zahlreichen anderen Politikfeldern in unserem Land. Die Erfüllung dieser Aufgabe liegt in der Zuständigkeit der Länder.

Die rot-grüne Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen werden auch in diesem Bereich ihren Gestaltungsmöglichkeiten und ihrer Verantwortung nicht gerecht. Denn wir registrieren in Nordrhein-Westfalen eine alarmierende Kriminalitätsentwicklung und einen besorgniserregenden Kriminalitätszuwachs, der bei uns fast fünfmal so hoch liegt wie im Bundesdurchschnitt – siehe die Ausführungen im vorliegenden Antrag von FDP- und CDUFraktion zur Beantragung dieser Aktuellen Stunde.

Bisher habe ich Sie, Herr Minister Kutschaty, als einen an der Sache und an der nüchternen Bewertung von Daten und Fakten orientierten Justizminister eingestuft. Gerade im Justiz- und auch im Kriminalitätsbereich muss Politik die Wirklichkeit erkennen und die entsprechenden, ja die notwendigen und die sachgerechten Konsequenzen ziehen.

Durch Ihre Pressekonferenz in der vergangenen Woche – sprich: vom 18. Januar 2013 – offenbaren Sie nicht nur für die CDU-Fraktion eine unerträgliche Grundhaltung. Auch aus meiner Sicht viel schlimmer und viel gravierender ist noch: Sie täuschen die Öffentlichkeit. Denn Ihre Bewertung, Herr Minister Kutschaty, und Ihre Grundhaltung sind mehr als geeignet, die subjektiv gefühlte wie die zunehmend objektiv erlebte Unsicherheit der Bürgerinnen und Bürger in unverantwortlicher Weise zu stärken, und kommt aus Sicht der CDU-Fraktion einer fatalen Fehleinordnung der inneren Sicherheit gleich. Wie können Sie, wie kann die Landesregierung, wie kann der verantwortliche Justizminister den Rückgang der strafrechtlichen Verurteilungen als Erfolg verbuchen, während die Kriminalität in Nordrhein-Westfalen gleichzeitig drastisch ansteigt?

(Minister Thomas Kutschaty: Stimmt doch gar nicht!)

Dies kennzeichnet ein aus meiner Sicht merkwürdiges Verständnis von Recht und Ordnung.

Richtig ist, dass in Nordrhein-Westfalen trotz deutlicher Kriminalitätszuwächse immer weniger Täter überführt und anschließend strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Welche Ursachen gibt es hierfür, Herr Minister Kutschaty? Wie wollen Sie diese Entwicklung anhalten, verbessern und nach

Möglichkeit umkehren? Welche Konsequenzen ziehen Sie ganz konkret als Justizminister? Wie sind die Ergebnisse Ihrer Absprachen und Ihrer Beratungen? Ich hoffe, dass Sie diese Absprachen treffen. Wie sind Ihre Absprachen mit dem für den Kriminalitätsbereich zuständigen Innenminister?

Auch Sie, Herr Minister Kutschaty, müssen sich ganz ohne Frage aufgrund knapper werdender Haushaltsmittel grundsätzlich Gedanken darüber machen, wie man den gesetzlichen Auftrag erfüllen kann.

Populär klingende Presseerklärungen und bloßer Aktionismus sind aus Sicht der CDU-Fraktion abzulehnen und gaukeln den Bürgerinnen und Bürgern eine falsche Sicherheit vor. So bindet zum Beispiel der Innenminister in regelmäßigen Abständen Tausende Polizeibeamte durch Großrazzien vor laufender Kamera, fragwürdige Blitzmarathons, die Verhängung von Vereinsverboten und weitere Maßnahmen. Gelegentlich muss man den Eindruck gewinnen, dass dies nicht nur dem Ansehen des Herrn Ministers Jäger dienen soll, sondern dass dies auch ein gehöriges Stück Selbstdarstellung sein soll.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Die fatale Folge einer solchen Vorgehensweise ist allerdings, dass die Bekämpfung der Alltagskriminalität zunehmend zum Erliegen kommt. Wenn acht von zehn Einbrechern in Nordrhein-Westfalen ungeschoren davonkommen, müssten eigentlich sowohl beim Innenminister als auch bei Ihnen, also beim Justizminister, die Alarmglocken läuten.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Stattdessen rät der Innenminister den Bürgerinnen und Bürgern, ihre Wohnung besser zu sichern und im Notfall die „110“ zu wählen. Das ist eine unverantwortliche Vorgehensweise, und das ist alles andere als ein klares innenpolitisches Konzept.

Wir brauchen angesichts der besorgniserregenden Kriminalitätsentwicklung endlich eine aufgabengerechte Personalausstattung.

(Zuruf von Hans-Willi Körfges [SPD])

Wir fordern Sie auf, ein Gesamtkonzept, eine Gesamtstrategie zur nachhaltigen Kriminalitätsbekämpfung vorzulegen.

Die rot-grüne Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben eine solide und klare Mehrheit. Dafür können Sie dankbar sein, und auf diese Mehrheit können Sie ganz sicherlich auch ein wenig stolz sein. Ich habe allerdings den Eindruck, dass Sie mit dieser eigenen Verantwortung zunehmend überfordert sind.

Wir fordern Sie auf, in diesem entscheidenden Politikfeld endlich ein klares Konzept und eine verlässliche Strategie vorzulegen. – Ich bedanke mich sehr herzlich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Herr Kollege Kruse. – Für die FDP-Fraktion hat Herr Kollege Wedel das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! 4.141 Straftaten wurden im Jahr 2011 im Schnitt jeden Tag in Nordrhein-Westfalen begangen. Insgesamt waren es nach der Polizeilichen Kriminalstatistik NRW mehr als 1,5 Millionen Straftaten im Jahr 2011 und somit 68.668 Straftaten mehr als im Vorjahr.

Wie Justizminister Kutschaty bei der Vorstellung der Strafverfolgungsstatistik für das Jahr 2011 am 18. Januar dieses Jahres berichtete, ist die Zahl der Verurteilungen wegen Verbrechen oder Vergehen in Nordrhein-Westfalen dagegen inzwischen auf den zweitniedrigsten Stand seit 2003 gesunken. Danach steht fest: Straftäter werden seltener verurteilt. Aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit – das betone ich als außer Dienst befindlicher Richter ausdrücklich – ist das von uns als Legislative, soweit es die Tätigkeit der Gerichte betrifft, lediglich zur Kenntnis zu nehmen.

(Zurufe von der SPD: Aha!)

Dies gilt so allerdings nicht für die der gerichtlichen Tätigkeit vorausgehende Strafverfolgung. Bei allen methodischen Unterschieden von Polizeilicher Kriminalstatistik und Strafverfolgungsstatistik gilt doch, wie die PKS selbst auf Seite 6 anmerkt – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin –:

„Schließlich ist die Strafverfolgungsstatistik von dem Aufklärungsergebnis abhängig, da unaufgeklärte Straftaten unberücksichtigt bleiben.“

Mit anderen Worten: Was nicht durch die Polizei aufgeklärt wird, kann auch nicht durch die Staatsanwaltschaften angeklagt werden.

Die Aufklärungsquote in Nordrhein-Westfalen ist laut PKS 2011 aber erneut gesunken. Bei einigen Straftatengruppen bzw. Delikten ist die Aufklärungsquote so erschreckend niedrig, dass Experten – selbst bei der Polizei – Ermittlungsdruck und Entdeckungsrisiko als sehr gering bezeichnen. Mit anderen Worten: In NRW gibt es sehr risikoarme kriminelle Betätigungsfelder. Ich nehme nur mal einige Beispiele aus dem Massendelikt Diebstahl.

Taschendiebstahl: 52.700 Fälle, Anstieg in 2011

um 29,1 %, Aufklärungsquote nur 5,1 %.

Diebstahl von Fahrrädern: knapp 90.000 Fälle,

ein Anstieg von 6,5 % in 2011, Aufklärungsquote nur 7,8 %; das heißt, in 83.000 Fällen bleiben die Täter für immer verschwunden.

Wohnungseinbruchsdiebstähle: 50.368 Fälle, ein

Anstieg von 12,5 %, Aufklärungsquote nur

13,6 %; das heißt, nur 6.856 Fälle wurden aufgeklärt, 43.512 Fälle blieben unaufgeklärt.

Und noch etwas kann man feststellen: Der Anteil der Anklagen und Strafbefehle hat sich von 1994 bis 2011 nicht unerheblich von 31 % auf etwas über 23 % verringert. Die Anzahl ermessensbedingter Verfahrenseinstellungen ist 2011 erneut höher als die der Anklagen. Das ist ein bedenklicher, jedenfalls kritisch zu analysierender Trend. Heute werden – so führt die Strafverfolgungsstatistik aus – rund 28 % der Ermittlungsverfahren nach Ermessensvorschriften – mit und ohne Auflage – eingestellt. Der Justizminister mutmaßt selbst, dass – ich zitiere – „bei den Staatsanwaltschaften eine Verlagerung hin zu den informellen Verfahrenserledigungen festzustellen“ ist. In der Vielzahl der Fälle ist dabei keine Zustimmung des Gerichts zur Verfahrenseinstellung notwendig, etwa in den Fällen des § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO für die Beurteilung der geringen Schuld des Täters und die Ablehnung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung.

Um eines jedoch klar zu sagen: Kriminalpolizeibeamte, Staats- und Amtsanwälte und Strafrichter können trotz allem persönlichen Engagement immer nur so erfolgreich sein, wie es organisatorische Rahmenbedingungen, Abstimmungen und Zusammenarbeit sowie überzeugende Strafverfolgungsstrategien zulassen.