Protocol of the Session on November 30, 2012

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie alle ganz herzlich zu unserer heutigen, 16. Sitzung des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Mein Gruß gilt – wie immer – den Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich 14 Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden in das Protokoll aufgenommen.

Auch heute feiert jemand Geburtstag. Ich gratuliere ganz herzlich aus dem Kreis der CDU Herrn Kollegen Daniel Sieveke zu seinem Geburtstag. Ich darf hinzufügen: Sie werden herrliche 36 Jahre jung.

(Allgemeiner Beifall)

Die besten Glückwünsche des Hauses begleiten Sie nicht nur am heutigen Tag, sondern auch im neuen Lebensjahr.

Für die Kolleginnen und Kollegen, die es gestern nicht mitbekommen haben, erinnere ich daran, dass sich die Fraktionen am gestrigen späten Nachmittag darauf verständigt haben, den für heute geplanten TOP 1 – Aktuelle Stunde – zu streichen. Denn nach übereinstimmender Ansicht aller Fraktionen hier im Hause ist der aktuelle Anlass für die Beantragung inzwischen entfallen. Deshalb werden wir die Sitzung, so wie ebenfalls zwischen den Fraktionen verabredet, heute mit der Einbringung des Sozialberichts und der Aussprache dazu beginnen.

Ich rufe also auf:

2 Sozialbericht Nordrhein-Westfalen 2012

Unterrichtung durch die Landesregierung

Der Chef der Staatskanzlei hat mir mit Schreiben vom 19. November 2012 mitgeteilt, dass die Landesregierung beabsichtigt, zum Sozialbericht Nordrhein-Westfalen 2012 zu unterrichten. Die Unterrichtung erfolgt durch den Minister für Arbeit, Integration und Soziales.

Ich erteile gerne Herrn Minister Schneider für die Landesregierung das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht – auch „Sozialbericht“ genannt – hat zum Teil erschreckende Befunde über die soziale Situation in Nordrhein-Westfalen erbracht. Deshalb ist die Landesregierung der Auffassung, dass es zu diesem Bericht eine parlamentarische Behandlung, eine

parlamentarische Unterrichtung mit anschließender Diskussion, geben muss.

Wir gehen mit unserem 3. Armuts- und Reichtumsbericht einen anderen Weg als die schwarz-gelbe Regierungskoalition in Berlin. Sie wissen, dort wird seit Wochen am bundesweiten Bericht herumgewerkelt, getäuscht, vertuscht.

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Unverschämt- heit!)

Man könnte den Eindruck haben, dort geht es darum, negative Befunde aus der Welt zu schaffen nach dem Motto: Weil es nicht sein darf, ist das auch nicht. – So gehen wir eben nicht vor. Wir wollen die Probleme in Nordrhein-Westfalen offen benennen, weil – wie heißt es so schön? – jede Politik damit beginnt, dass man feststellt, was ist. Deshalb bin ich der Auffassung, wir sollten heute eine offene, kritische Debatte über die sozialen Verhältnisse in unserem Land führen.

Meine Damen und Herren, um es auf einen Nenner zu bringen: Der Armuts- und Reichtumsbericht zeigt: Trotz Wirtschaftswachstum nimmt die Armut in NRW zu. Und auch die Ungleichgewichte nehmen zu. Es gibt auf der einen Seite immer mehr Menschen, denen es gut bis sehr gut geht, und auf der anderen Seite immer mehr Menschen, denen es schlecht geht, die arm sind oder an der Armutsgrenze leben. Ich weiß, hier kommt seitens der Opposition der erste Einwand: Was ist denn Armut? – Natürlich ist Armut immer relativ zu sehen angesichts der Produktivität, der Verteilungsmöglichkeiten in einer so hoch entwickelten Volkswirtschaft. Deshalb kann man Armut bei uns nicht vergleichen mit Armut in Entwicklungsländern. Die Grundlagen sind eben andere.

Meine Damen und Herren, in NRW gab es im Jahr 2011 eine positive Wirtschaftsentwicklung und damit auch eine Belebung des Arbeitsmarktes. Das Bruttoinlandsprodukt stieg im Jahr 2011 um 2,6 %. Auch die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung stieg um 2,5 %. Sie lag bei knapp 6 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern.

Die Erwerbslosenquote ging 2011 auf 6,5 % zurück. So niedrig war sie zuletzt im Boom der Jahre 2000/2001. Diese Zahlen sind rückblickend erfreulich. Sie zeigen aber nur eine Seite wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklung. Offensichtlich wird, dass viele Menschen nicht am Wirtschaftswachstum partizipieren. Diese Gruppe wird größer, ihre Armut und soziale Ausgrenzung verfestigen sich.

Der Trend zeichnet sich bereits seit Längerem ab: Von 2003 bis 2008 hatten die ärmsten 10 % der Haushalte bereits einen Einkommensverlust von 5,3 % zu verkraften. Die obersten 10 % der Haushalte konnten sich über einen Einkommenszuwachs in Höhe von 12,7 % erfreuen. Und während das unterste Fünftel der Menschen in Deutschland generell

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30.11.2012

überhaupt kein Vermögen besitzt, verfügen die obersten 20 % über sage und schreibe 71 % des gesamten Vermögens. Im Übrigen wollte Herr Rösler diese Zahlen im Armutsbericht der Bundesregierung geschönt bzw. geschwärzt sehen. Und während das …

(Dr. Joachim Stamp [FDP]: Waren Sie bei der Ressortabstimmung dabei?)

Es handelt sich hier um demoskopische Erhebungen. Da ist jede Ressortabstimmung ein Einfallstor für politische Manipulationen. Merken Sie sich das einmal!

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN)

Sie haben sowieso eine bemerkenswerte Umgangsweise mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Wenn Sie der Auffassung sind, solche Erhebungen so drehen zu können, dass sie Ihnen in den politischen Kram passen, dann sollten Sie es lieber von vornherein sein lassen. Das ist schließlich auch Ihr Ziel.

(Beifall von der SPD – Hanns-Jörg Rohwed- der [PIRATEN]: Fälscherwerkstatt!)

Meine Damen und Herren, Politik ist hier in der Pflicht. Wir müssen Gerechtigkeit anstreben. Wir werden uns daher im Bundesrat für eine Steuer auf große Vermögen und Erbschaften und für die Erhöhung des Spitzensteuersatzes einsetzen. Dazu gibt es eigentlich, um ein von der Bundeskanzlerin inflationär benutztes Wort zu wählen, keine Alternative. Auch werden wir Steuerflucht entschieden bekämpfen und die Abschöpfung von Vermögen, die durch Kriminalität erzielt werden, intensivieren. Die Auseinandersetzung um das Steuerabkommen mit der Schweiz zeigt, dass wir hier auf einem guten Wege sind.

Meine Damen und Herren, nachdem sich die Armutsrisikoquote in den letzten Jahren kaum verändert hat, ist der akute Anstieg von 14,7 % in 2010 auf 15,8 % in 2011 auffällig. Mit dieser Entwicklung liegt NRW im westdeutschen Trend, was die Tatsache allerdings nicht besser macht. Das wird sich auch im Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung zeigen, wenn er denn seriös ausgefertigt wird.

Dass die Armutsrisikoquote trotz positiver Entwicklung am Arbeitsmarkt gestiegen ist, zeigt, dass Niedriglöhner unterdurchschnittlich von der Wirtschafts- und Einkommensentwicklung profitiert haben. Beträgt das Pro-Kopf-Einkommen weniger als 60 % des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung, gilt ein Mensch nach OECD-Kriterien als einkommensarm. In NRW galten im Jahr 2011 die Menschen als armutsgefährdet, deren Einkommen weniger als die eben benannte Quote ausmachte; das sind etwa 833 €. Also, alle Menschen, denen pro Monat weniger als 833 € zur Verfügung stehen,

gelten nach diesen OECD-Kriterien als einkommensarm.

Das waren in Nordrhein-Westfalen 2,8 Millionen Menschen, und unter ihnen – das ist besonders schlimm – waren 643.000 Minderjährige. 2010 waren es noch rund 200.000 minderjährige Personen weniger. Wir haben es also mit einem Anstieg der Kinderarmut zu tun, und deshalb ist es nur konsequent, dass die Politik der Landesregierung gerade auf Kinder abzielt und gerade Kindern, die benachteiligt sind, Hilfestellungen geben will.

Besonders betroffen sind die, die es am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft schwer haben: Alleinerziehende, Migranten, Geringqualifizierte und, wie eben schon genannt, Kinder und Jugendliche.

Der Armutsentwicklung muss für alle Zielgruppen in allen Lebenslagen entgegengewirkt werden. Daher hat sich die Landesregierung auf den Weg gemacht. Mit ihrer Armutsprävention ist der richtige Weg eingeschlagen worden. Mit diesen Präventionsketten erreichen wir unterschiedlichste Zielgruppen, bieten Hilfen, insbesondere in den Lebens- und Sozialräumen, und berücksichtigen die unterschiedlichen altersbedingten Lebenslagen. Zudem werden wir im kommenden Jahr ein umfassendes Handlungskonzept gegen Armut und soziale Ausgrenzung erarbeiten.

Meine Damen und Herren, problematisch ist die Situation der jungen Erwachsenen zwischen 18 und 35 Jahren und die Ausweitung von Niedriglohn und atypischer Beschäftigung in dieser Personengruppe. Die Jüngeren verfügen nicht nur über ein überdurchschnittliches Armutsrisiko; fast ein Viertel, exakt 24,7 %, der Männer und über 22 % der Frauen unter 30 sind befristet beschäftigt – eine bemerkenswerte Quote.

2010 arbeitete über die Hälfte der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten unter 25 Jahren im Niedriglohnbereich, häufig in atypischen Beschäftigungen. Hierzu gehört die Leiharbeit; hierzu gehören seit Neuestem zunehmend Werkverträge als Ersatz für Leiharbeitsverträge.

Wir wollen deshalb die Leiharbeit nicht abschaffen, wie uns manchmal unterstellt wird, sondern neu regulieren. Hier geht es vor allem um die Durchsetzung des Prinzips „Gleiches Geld für gleiche Arbeit am gleichen Ort“. Ich denke, auch die Werkverträge müssen neu reguliert werden, damit mit diesem Instrument nicht noch zusätzlich gerade Jüngere nach Beendigung ihrer Berufsausbildung in den Niedriglohnsektor gebracht werden.

Bemerkenswert ist: All diese Formen atypischer Beschäftigung führen dazu, dass das Risiko, der Altersarmut zum Opfer zu fallen, ansteigt. Natürlich gibt es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Niedriglohnsektor und der Altersarmut. Wir wollen deshalb auch dafür sorgen, dass Menschen verstärkt in eine Berufsausbildung gelangen.

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30.11.2012

Unser Übergangssystem von der Schule in den Beruf hat auch den Sinn, die Zahl derer, die eine Berufsausbildung als Grundlage für eine Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt absolvieren, ansteigen zu lassen.

Meine Damen und Herren, insgesamt lag die Niedriglohnquote Ende 2010 in NRW bei 20,4 %. Ende 2000, vor zehn Jahren, lag sie noch bei 16,3 % und damit etwas über 4 % niedriger.

Nicht nur der Niedriglohnsektor wächst, auch die Zahl der atypischen Beschäftigungen. Deshalb gibt es ebenfalls keine Alternative dazu, dass das feste, unbefristete Arbeitsverhältnis weiterhin die Regel bleibt und die Befristung die Ausnahme. Im Moment gibt es eine genau gegenteilige Entwicklung. Dies muss gestoppt werden.

(Vereinzelt Beifall von der SPD)

Wenn ich vom Niedriglohnsektor spreche, muss ich auch weiterhin auf den seit Jahrzehnten anhaltenden Skandal der Unterbezahlung der Frauen hinweisen. Im Durchschnitt verdienen bei uns Frauen 23 % weniger als Männer. Dies ist nicht akzeptabel.

(Beifall von der SPD und Simone Brand [PIRATEN])

Dies ist ein Bruch der Verfassung. Dies muss, wenn die Tarifvertragsparteien nicht mehr die Kraft dazu entwickeln, auch über Gesetze angepackt werden. Hier ist sich die Landesregierung mit vielen anderen gesellschaftlichen Kräften einig.

Meine Damen und Herren, um den Niedriglohnsektor aufzubrechen, wollen wir weiterhin einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einführen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Wir wollen hier bei 8,50 € beginnen. Wir wollen, dass dieser Mindestlohn von einer unabhängigen Kommission vor allem anhand der Kriterien Preisentwicklung, Produktivität und allgemeine Einkommensentwicklung kontinuierlich ausgestaltet und angepasst wird.