Protocol of the Session on April 5, 2017

Das kann man durchaus beklatschen, aber wir wissen noch nicht, wie die Wahlen in Frankreich ausgehen. Das muss uns allen Sorgen machen. Die Europäische Union steckt wahrlich in der schwersten Krise seit ihrer Existenz.

Ich will noch einmal daran erinnern, dass die Krise 2008 mit der Bankenkrise begann. Es war eben keine Staatsfinanzkrise, sondern eine Bankenkrise war der Auslöser. Das wird in diesen Zusammenhängen gerne verschwiegen.

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Ganz genau!)

Die Bankenkrise, die die Finanzkrise ausgelöst hat, ist in Griechenland noch immer nicht überwunden. Deshalb ist es umso wichtiger, heute noch einmal zu betonen, dass die Europäische Union eine Solidargemeinschaft ist. Das halte ich für den Kernpunkt, über den wir reden müssen.

Auch nicht überwunden ist gerade im Süden Europas die Arbeitslosigkeit. Dort herrscht vor allem eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Die verheerende Austeritätspolitik in den vergangenen Jahren schnürt den südeuropäischen Ländern die Luft ab. Das hat mit Solidarität nun wahrlich wenig zu tun.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Aber es gibt auch positive Ansätze in Europa. Es gibt die Bürgerbewegung Pulse of Europe. Es gibt zunehmend Eintritte in die demokratischen Parteien. Das hat viel mit einer positiven Entwicklung zu tun. Die Menschen interessieren sich für Politik, dafür, worum es in der Politik geht. Sie haben Angst um ihre Demokratie, Sie haben Angst um unser Europa. Das ist wichtig in diesen Zeiten.

Die Rechtsstaatlichkeit ist in einigen europäischen Ländern bedroht; ich verweise da nur auf Polen und Ungarn. In dem Zusammenhang will ich auch sagen: Ein Beitrittsland wie die Türkei bedroht rechtsstaatliche Werte, die wir als Europäer als Grundwerte verstanden wissen wollen. Diese Werte müssen wir verteidigen.

Dann muss man innerhalb der Europäischen Union – so meine Überzeugung – auch einmal über Konditionalitäten reden. Wer die Pressefreiheit einschränkt, wer demokratische Grundrechte verletzt, den muss

man – darüber muss man in Europa auch reden – in die Schranken weisen, notfalls finanziell.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir von mehr und von einem besseren Europa reden, dann muss es auch um ein soziales Europa gehen. Ich sage das häufiger und habe immer wieder betont: Die Europäische Union hat einen Fehler in der Grundkonstruktion. Sie hat sich in den vergangenen 60 Jahren zu wenig auf die soziale Solidargemeinschaft konzentriert. Sie hat einen Binnenmarkt sowie eine Wirtschafts- und Währungsunion geschaffen, aber sie hat keine soziale Gerechtigkeit innerhalb der Europäischen Union geschaffen. Das ist das Problem, mit dem wir heute zu kämpfen haben.

Wir dürfen Europa nicht mehr nur als reinen Wirtschaftsraum betrachten. Solidarität ist der Weg in die Zukunft, nicht Renationalisierung. Das müssen wir auch den Rechten in Europa sagen.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dafür braucht es mutige Entscheidungen, auch von den Spitzen, nämlich den Staats- und Regierungschefs. Jetzt ist die Zeit, an unsere Erfolge anzuknüpfen und das Fundament für die nächsten 60 Jahre europäischer Integration zu legen. Europa braucht einen sozialen Kompass. Europa ist eben nicht nur Binnenmarkt und Wirtschafts- und Währungsunion, Europa ist bedeutend mehr: Europa ist eine Wertegemeinschaft.

Die Mitgliedsstaaten sind jetzt gefordert. JeanClaude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, hat das Weißbuch zur Zukunft der Europäischen Union vorgelegt. Er macht einige Vorschläge, über die man diskutieren muss – auch in diesem Hause; denn es geht um die Zukunft Europas, und wir müssen uns einmischen.

Jean-Claude Juncker hat den Begriff „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ genannt. Ich habe ernsthafte Zweifel daran.

(Beifall von der SPD)

Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten sollte nie die erste Option sein, die wir anstreben; denn es birgt Gefahren, und die Gefahren sind enorm. In einem Europa der zwei Geschwindigkeiten können Regionen oder auch Länder plötzlich auf Dauer abgekoppelt werden. Ich halte das für ein enorm großes Problem, das wir im Auge behalten müssen.

Deshalb: Ich weiß, es gibt jetzt schon unterschiedliche Geschwindigkeiten. Aber sie noch zu forcieren, halte ich nicht für den richtigen Weg. In die Debatte darüber, ob das richtig ist oder nicht, müssen wir uns einbringen, muss sich das Land NRW einbringen.

Zu Ihrem Antrag will ich noch sagen, liebe Ilka von Boeselager: Wir sind uns in diesem Haus in europäischen Fragen fast immer einig gewesen. Ich finde aber – das muss ich sagen –, dass der Antrag der CDU ein bisschen zu kurz springt. Es ist natürlich richtig, auf die vergangenen 60 Jahre zu verweisen. Aber wir müssen jetzt über die Krise reden, über die anstehenden Fragen und auch über Lösungen dafür. Das ist nach meiner Überzeugung in diesem Antrag ein bisschen zu kurz gekommen.

Nordrhein-Westfalen muss sich in diese Debatte einbringen. Dazu gehören aber auch Ideen und Perspektiven für die Zukunft Europas. Hier ist gerade Deutschland gefordert. Wir sind die größte Volkswirtschaft. Wir sind das reichste Land innerhalb der Europäischen Union. Wir haben aber auch die größte Verpflichtung für den Erhalt der Europäischen Union, die bedroht ist.

Dazu gehört – das will ich ganz deutlich sagen – ein Kanzler, der einen europäischen Kompass hat. Ich will auch sagen: Frau Merkel hat diesen Kompass nie gehabt,

(Beifall von der SPD – Zurufe von der CDU)

oder sie hat ihn anscheinend verloren. Ich kann ihn nicht erkennen. Herr Schäuble hat Europa und somit Deutschland mit seiner Austeritätspolitik geschadet.

(Beifall von der SPD – Lutz Lienenkämper [CDU]: Ach was!)

Er hat Europa geschadet.

(Lutz Lienenkämper [CDU]: Nein! Das ist doch gar nicht wahr!)

Gerade die Rechtspopulisten verdanken dieser Politik den Aufstieg.

(Lutz Lienenkämper [CDU]: Nein!)

NRW ist die größte Region in Europa, auch wirtschaftlich. Da wir das in letzter Zeit ein bisschen anders hören – es ist Wahlkampfzeit, da ist man immer etwas emotionaler –, will ich auch noch einmal betonen: Als eine der bedeutendsten Wirtschaftsregionen Europas erwirtschaftet Nordrhein-Westfalen 4,4 % des europäischen Bruttoinlandsprodukts. Die enge wirtschaftliche Verflechtung des Bundeslandes mit der Europäischen Union zeigt die Handelsbilanz: 66 % der nordrhein-westfälischen Exporte gehen in die Mitgliedsstaaten der EU; bundesweit sind es 59 %. Nordrhein-Westfalen ist das industrielle Herz Europas.

Da man es in Wahlkampfzeiten hört, will ich Ihnen auch sagen: Wenn der Motor Nordrhein-Westfalen stottert, wenn also Nordrhein-Westfalen Husten bekommt, dann hat Deutschland die Schwindsucht, und Europa liegt auf der Intensivstation.

Ich fordere Sie auf: Erzählen Sie bitte nicht weiterhin einen solchen Quatsch über den Zustand der Wirtschaft in Nordrhein-Westfalen; am Ende glaubt das vielleicht noch jemand.

(Lutz Lienenkämper [CDU]: Sie kommen aus Gelsenkirchen!)

Ja, deshalb weiß ich das auch so genau.

Es gibt unzählige Projekte der Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn. Wir arbeiten gut mit unseren direkten Nachbarn Belgien und Niederlande zusammen, die übrigens sehr wichtige Handelspartner sind. Die Landesregierung fährt eine hervorragende Beneluxstrategie, die von unseren Partnern gelobt wird.

Wir müssen weiterhin – das ist ganz wichtig – unsere nordrhein-westfälischen Vertreter in den europäischen Institutionen unterstützen, unter anderem, was Sie nicht verwundern wird, im Ausschuss der Regionen und im Kongress der Regionen Europas. Wir können mit Stolz darauf verweisen, dass es Parlamentarier sind, die wir dorthin schicken. Das macht nicht alle 16 Bundesländer so. Parlamentarier aus diesem Haus vertreten uns dort. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt, auf den wir stolz sein können.

(Beifall von der SPD)

Wir in Nordrhein-Westfalen müssen uns im Sinne einer stärkeren Solidargemeinschaft in die Debatten über die Zukunft der EU einbringen – gerade gegen populistische und nationalistische Angriffe. Wir müssen uns, auch auf der Bundesebene, in die BrexitDebatte einmischen. Wir Europäer sind eine Solidargemeinschaft. Die Menschen spüren das, zum Beispiel bei Pulse of Europe. Deshalb muss es in den Debatten um ein soziales Europa gehen, deshalb muss es ein soziales Europa geben.

Ich komme zum Schluss meiner Rede und würde gerne noch zwei persönliche Bemerkungen machen.

Nach zwölf Jahren im Landtag Nordrhein-Westfalen werde ich ihn auch im Mai verlassen. Ich kandidiere nicht mehr für den Landtag – freiwillig. Ich strebe etwas anderes an; der eine oder andere weiß das. Ich habe hier spannende Jahre erlebt: Opposition, Minderheitsregierung – sehr spannend für einen Politikwissenschaftler –, stabile Mehrheit, und ich war fünf Jahre im Ausschuss der Regionen für NordrheinWestfalen. Es hat mir immer Freude gemacht, hier die Debatten zu erleben. Der Landtag ist ein Parlament der politischen Streitgespräche, und es macht sehr viel Freude, diese zu führen. Man muss das den Menschen aber auch sagen, auch auf den Rängen und – wie die Piraten gerne sagen – „am Stream“, dass es eben der politische Streit ist, um den es hier geht.

Aber eines ist mir auch wichtig: Die repräsentative Demokratie und somit die Parlamente in Deutschland schützen die Demokratie. Sie schützen den Rechtsstaat. Sie schützen die Grundrechte und die Freiheit. Das ist, mit Verlaub, vor dem Hintergrund dessen, was wir vielleicht bei den nächsten Wahlen erleben, aus meiner Sicht vollkommen alternativlos. – Ich verabschiede mich mit einem herzlichen Glückauf!

(Anhaltender Beifall von allen Fraktionen)

Vielen Dank, lieber Kollege Markus Töns. Auch hier vom Präsidium alle guten Wünsche für die weitere Zukunft, vor allen Dingen Gesundheit und immer eine glückliche Hand bei den weiteren Lebensentscheidungen, die ja dann nicht mehr direkt mit dem Landtag Nordrhein-Westfalen in Verbindung stehen. – Danke schön.

Ich begrüße am Pult als nächsten Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Herrn Kollegen Engstfeld.

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich vorneweg ein paar persönliche Worte an meine Vorrednerin und an meinen Vorredner richten.

Liebe Frau von Boeselager, liebe Ilka, von den 27 Jahren, die du hier im Parlament erlebt hast, durften wir sieben gemeinsam durchlaufen. Wir haben im Europa- und Eine-Welt-Ausschuss viel gestritten und viel diskutiert. Aber es war immer fair, immer menschlich angenehm und immer produktiv. Und wir haben am Ende des Tages immer zusammen dafür gesorgt, dass die „MS Landtag“ einen klaren proeuropäischen Kurs gehalten hat. Für die gute Zusammenarbeit möchte ich mich ganz herzlich bei dir bedanken, auch im Namen der Fraktion.

(Beifall von allen Fraktionen)

Viel Glück, toi, toi, toi und gute Gesundheit bei all dem, was du jetzt tust!

Lieber Markus Töns, lieber Kollege, zwölf Jahre warst du hier im Landtag, davon durften wir sieben zusammen gehen. Wir waren in der Regierungsverantwortung, haben zusammen im Ausschuss für Europa und Eine Welt gearbeitet, wir haben zusammen für Nordrhein-Westfalen im Ausschuss der Regionen in Brüssel und anderswo in Europa viel gestritten und uns starkgemacht.

Auch dir, lieber Markus, ganz lieben Dank für die tolle Zusammenarbeit. Viel Glück im September bei dem, was du da neu anstrebst! Selbst wir – wir hatten ja eine hohe Hürde; wir spielen quasi in zwei Ligen, ich Fortuna Düsseldorf, du Schalke 04 – haben es im Laufe der Jahre geschafft, diesen tiefen Graben