Protocol of the Session on April 5, 2017

Ich möchte aber auch auf die tagesaktuellen und dringenden Herausforderungen Europas zu sprechen kommen – weg von den wichtigen und teilweise sehr abstrakten Langzeitproblemen.

Der Brexit ist die Mutter aller Lose-lose-Situationen. Die verantwortlichen politischen Entscheider müssen nun Antworten auf diesen bedauernswerten Zustand finden – das wurde hier schon mehrfach erwähnt –, unter anderem Antworten in den Bereichen Bildung,

Wissenschaft und Forschung, Handel und Arbeitnehmermobilität, Wahlrecht und Medien. Das sind nicht nur Landesinteressen, sondern das betrifft auch Kompetenzen. Deshalb war es richtig, dass sich der Bundesrat im März in einer Entschließung für eine enge Einbeziehung der Länder in die Brexit-Verhandlungen ausgesprochen hat. Warum NordrheinWestfalen nicht auch Mitantragsteller der Entschließung war, wird uns sicherlich Herr Minister LerschMense erklären können.

Auch ein ganz eigenes Anliegen Nordrhein-Westfalens ist vom Brexit betroffen: Die heute in London ansässige Europäische Arzneimittel-Agentur EMA braucht demnächst einen neuen Standort innerhalb der EU. Hier muss die Bundesstadt Bonn positioniert werden, um die EU-Agentur nach Nordrhein-Westfalen zu holen – ein idealer Standort sowohl für NRW als auch für die EU.

Ein weiteres Thema, das endlich konsequent angegangen werden muss, ist die Situation der Geflüchteten in der EU. Die europäische Flüchtlingspolitik muss endlich auf ein nachhaltiges, humanes und dezentrales System umgestellt werden. Was für den landespolitischen Integrationsplan gilt, gilt auch für die europäische Flüchtlingspolitik: Wir müssen weg von der Abwehrhaltung und dem Aussitzen der Flüchtlingssituation.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Ich möchte zusammenfassend einen Blick auf die Zukunft der EU werfen, denn die Frage lautet ja – das wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern bestätigt –: Wo wollen wir als Europäische Union eigentlich hin? Die Antwort der Piraten ist eindeutig: Wir brauchen ein Update des politischen Systems der EU und eine grundlegende Reform der Beziehungen zu den Mitgliedstaaten und Regionen – kurzum: eine demokratischere Basis.

Der Dialog mit den Menschen muss unmittelbar in den Regionen, Gemeinden und Kommunen passieren, in den Town-hall-Meetings und Bürgermeistersprechstunden, in den Landesforen und Landtagsausschüssen. Hier kommt Nordrhein-Westfalen als einem aktiven europapolitischen Player eine ganz besondere Verantwortung zu. Dies drückt sich auch in der Fortführung der wichtigen Arbeit des Europaausschusses des Landtags von Nordrhein-Westfalen aus.

Meine Damen und Herren, ich hatte es bereits in einer der letzten Europadebatten gesagt: Wir brauchen eine positive Vision für unseren Kontinent. – Diese Vision beleuchten wir in unserem Entschließungsantrag. Denn oftmals bedeutet die EU für die junge Generation nur noch einen leblosen Binnenmarkt oder ein chancenvernichtendes Spardiktat. Was wir brauchen, ist ein Europa des sozialen Ausgleichs, der politischen Transparenz, der Bildung in der digitalen

Welt und der fairen Unternehmensbesteuerung. Ein Systemupdate für Europa ist verfügbar. Lassen Sie uns das bitte gemeinsam installieren.

Herr Wolf, Sie haben gerade die Globalisierung und den Wettbewerb in Europa angesprochen. Ich glaube, man darf an der Stelle nicht vernachlässigen, dass Europa eigentlich als Mannschaft auftreten sollte, und dann muss man gucken, dass die Mannschaft insgesamt und nicht nur einige wenige gut aufgestellt sind. Das ist meiner Meinung nach wesentlich.

Die vier Anträge der Fraktionen legen eigentlich so etwas wie einen gemeinsamen Antrag nahe. Ich möchte allerdings auch zum Ausdruck bringen, dass die vier Anträge zeigen, dass man sich dem Thema „Europa“ auf unterschiedlichste Weise nähern kann, aber trotzdem ist das grundsätzliche Bekenntnis zu Europa dabei nicht infrage gestellt. Das ist eben auch Element einer klaren Haltung aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen und dem Europaausschuss.

Lassen Sie mich abschließend den scheidenden Kolleginnen und Kollegen auch noch persönlich danken. Liebe Ilka, lieber Markus, lieber Ingo, bei allem Streit, den wir im Ausschuss – manchmal auch recht heftig – geführt haben, denke ich, dass ich als Jungparlamentarier

(Vereinzelt Heiterkeit)

ein bisschen von euch gelernt habe. Das war gut. Ich sage jetzt noch nicht „Auf Wiedersehen!“; denn ich kandidiere noch einmal, und da halte ich es mit Katja Ebstein: Wunder gibt es immer wieder. – Vielen Dank.

(Heiterkeit – Beifall von den PIRATEN, der SPD und den GRÜNEN)

Vielen Dank, Herr Dr. Paul für die Piratenfraktion. – Nun spricht für die Landesregierung Herr Lersch-Mense, der zuständige Europaminister.

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Herr Paul, Wunder gibt es immer wieder. Eines ist sicherlich das, dass wir in den vergangenen Jahrzehnten durch die europäische Integration auf unserem Kontinent die friedlichste und glücklichste Phase unserer Geschichte haben erleben dürfen. Das 60. Jubiläum der Unterzeichnung der Römischen Verträge hat uns in diesem Jahr daran erinnert. Gefeiert haben in Rom nur die EU-27 – ohne Großbritannien. Premierministerin May hat nur vier Tage später, am 29. März, das historische Austrittsgesuch nach Brüssel übersandt. Zum ersten Mal wächst die Union nicht weiter, sondern sie verliert ein Mitglied.

Wir wollen, dass die EU in den nun anstehenden Verhandlungen zum Brexit zusammensteht. Das Europäische Parlament wird heute seine Position dazu beschließen. Wir als Bundesländer haben am vergangenen Freitag im Bundesrat deutlich gemacht, dass wir innerstaatlich in diesem Prozess beteiligt und gehört werden wollen. Wir haben in NordrheinWestfalen bereits begonnen, konkrete inhaltliche Forderungen für diesen Prozess zu erarbeiten.

Herr Paul, da Sie die europäische Arzneimittelbehörde angesprochen haben: Ich habe letzten Freitag im Bundesrat dazu gesprochen und unser Interesse am Standort Bonn in dieser Frage deutlich hervorgehoben. Es wird jetzt zunächst einmal wichtig sein, dass Deutschland den Sitz der europäischen Arzneimittelbehörde für Deutschland reklamiert, und dann gibt es, wie Sie wissen, verschiedene Standortinteressen. Herr Ministerpräsident Bouffier hat deutlich gemacht, dass er besonders daran interessiert ist, dass die europäische Bankenaufsicht nach Frankfurt kommt. Also, es wird ein schwieriger Prozess. Deshalb brauchen wir, wenn wir für Bonn etwas erreichen wollen – und alle sachlichen Kriterien sprechen für Bonn als Standort der europäischen Arzneimittelbehörde –, die Solidarität aller Parteien im Landtag für dieses Ziel. Meine Bitte ist: Helfen Sie alle durch Ihre Berliner Kontakte dabei mit, dass wir dieses gemeinsame Ziel erreichen können.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Keine Frage: Die nun laufende zweijährige Frist für diese Verhandlungen ist knapp bemessen. Das werden hochkomplexe Verhandlungen.

Der Brexit ist jedoch nicht die einzige Herausforderung, vor der die Europäische Union steht. Die zuletzt geringe Solidarität der Mitgliedstaaten, die Angst vor einer Rückkehr der Migrationskrise, der Eurokrise, die unkalkulierbare internationale Lage, ein erstarkender Populismus lassen die Sorge wachsen, die Europäische Union könnte insgesamt scheitern.

Meine Damen und Herren, ich teile diese Besorgnis über den Zustand der Union, aber jetzt ist nicht die Zeit für Fatalismus. Ganz im Gegenteil: Jenen Europafeinden, die auf einen Zerfall der Europäischen Union hoffen, müssen wir ein klares Bekenntnis zur Europäische Union entgegenhalten.

Die meisten hier im Saal – ich hoffe, ich trete niemandem zu nahe – gehören wie ich der ersten Generation an, die auf dem europäischen Kontinent ein Leben ohne Krieg hat erleben dürfen. Gerade wir haben, denke ich, die Pflicht, alles dafür zu tun, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Bundespräsident Steinmeier hat es gestern vor dem Europäischen Parlament in Straßburg so formuliert: „Dieses kostbare Erbe, das dürfen wir nicht preisgeben und nicht den Gegnern Europas überlassen.“

Ich bin daher sehr froh, dass seit Anfang des Jahres jeden Sonntag Europäerinnen und Europäer auf die Straße gehen und unter dem Motto „Puls of Europe“, der Puls Europas, eine Stunde auf öffentlichen Plätzen für Europa demonstrieren. Auch wenn es Kritik daran gibt, dass diese Bewegung inhaltlich zu wenig konkret sei, ist sie, glaube ich, ein Zeichen der Hoffnung für die Zukunft Europas, und wir sollten uns darüber freuen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Auch die Feierlichkeiten am 25. März in Rom wurden von europaweiten Demonstrationen für die Europäische Union begleitet.

Natürlich ist dies auch ein Thema der Landespolitik und nicht nur der Bundespolitik. Deshalb begrüße ich es ausdrücklich, dass sich der Landtag heute ausführlich mit dem Thema „Europa“ befasst. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat Anfang März fünf Szenarien für die Zukunft der Union im Jahre 2025 vorgestellt. Die Verantwortung für die Zukunft des europäischen Projektes liegt nun bei den Mitgliedstaaten, in deren Feld er den Ball ja bewusst hineingespielt hat.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich klar sagen: Als größtes deutsches Land und größte Region in der Europäischen Union trägt auch NordrheinWestfalen eine Verantwortung für die Zukunft Europas. Wir bekennen uns im Zeitalter der internationalen Vernetzung und Verzahnung zu dieser Verantwortung. Wir wollen ein Europa der Bürgerinnen und Bürger. Wir wollen ein Europa der Regionen. Wir wollen ein handlungsfähiges Europa mit demokratischen Strukturen. Und wir wollen vor allen Dingen ein soziales, ein gerechtes Europa.

Im Jahr 2013 hat die Ministerpräsidentin die ersten Städte und Kreise in unserem Land als „Europaaktive Kommune“ ausgezeichnet. Mittlerweile sind es stolze 41 Europaaktive Kommunen. Damit leben rund 7,7 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen in Europaaktiven Kommunen, und auch bei den mehr als 200 zertifizierten Europaschulen nimmt Nordrhein-Westfalen ein Spitzenplatz im Vergleich zu anderen Ländern ein. Im Rahmen der Europawoche ist die Zahl der geförderten Projekte von elf im Jahr 2010 auf inzwischen über 80 in diesem Jahr angestiegen. Das ist der Weg, wie wir Europa vor Ort, in den Herzen und Köpfen unserer Bürgerinnen und Bürger verankern können.

Auch über die Grenzen hinweg gilt dies in den regionalen Partnerschaften, wie wir sie mit unseren Partnerregionen – der französischen Region Hauts-deFrance, mit Schlesien, aber auch in der Benelux-Kooperation – haben.

Ich will nur ein Beispiel für eine erfolgreiche Kooperation nennen. Die Niederlande, Flandern und Nordrhein-Westfalen bilden zusammen eine der weltweit

bedeutendsten Chemieregionen. Um Synergien zu nutzen, erarbeiten wir gemeinsam eine trilaterale Chemiestrategie. Sie soll in der zweiten Jahreshälfte 2017 fertig sein.

Meine Damen und Herren, wir brauchen Europa auch, weil kein einziger Mitgliedstaat allein – auch dies hat Bundespräsident Steinmeier deutlich gemacht – den Weltmächten in den großen internationalen Herausforderungen auf Augenhöhe begegnen kann. Das gilt auch für die großen inhaltlichen Herausforderungen, denen wir gegenüberstehen: die Bewältigung des Klimawandels, die Lösung der Migrationsproblematik, die Sicherheit, das Streben nach einer nachhaltigen Welt gemäß der UN-Agenda 2030. All dies können wir besser gemeinsam als als Nationalstaaten allein in Angriff nehmen.

(Beifall von der SPD und den GRÜNEN)

Und was wir unbedingt erhalten und weiter fördern müssen, ist das, was Europa für die jüngeren Generationen so wertvoll macht und was heute zu Unrecht als selbstverständlich gilt: dass wir frei über die Grenzen hinweg arbeiten können, studieren können, reisen können, Urlaub machen können. All dies gilt es auch für die Zukunft zu sichern.

Europa muss das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger auch dadurch zurückgewinnen, dass Brüssel sich nur um die Dinge kümmert, die europaweit geregelt werden müssen, während die einzelnen Länder und Regionen die Kompetenz dafür behalten sollten, was nicht überall in Europa gleich geregelt sein muss.

Das jüngste Vorpreschen der Kommission bei der Frage der Berufsanforderungen im Handwerk und bei den freien Berufen hat gezeigt, dass diese Erkenntnis noch nicht überall angekommen ist. Wir haben als Land gemeinsam mit anderen Ländern im Bundesrat ausdrücklich darauf hingewiesen und eine Subsidiaritätsrüge ausgesprochen. Ich glaube, das war ein richtiges und wichtiges Zeichen.

(Beifall von der SPD)

Fakt ist aber auch, die Bürgerinnen und Bürger müssen in der EU eine stärkere Stimme haben. Der demokratische Prozess muss so gestaltet sein, dass er den Menschen Einfluss auf die politische Agenda der Union ermöglicht.

Die Erklärung von Rom hat am 25. März die Chance einer EU betont, die – ich zitiere – „wenn nötig, auch mit unterschiedlicher Gangart und Intensität handelt“. Und hier, Herr Kollege Töns, haben wir vielleicht einen leichten Dissens. Gemeint ist, dass dort, wo nur eine Gruppe von Mitgliedstaaten zu einer weiteren Vergemeinschaftung bereit ist, das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit genutzt werden sollte – so wie es die Verträge ja vorsehen. Wichtig ist aber, dass dann weitere Mitgliedstaaten sich anschließen können, diesem Weg folgen können, eine Spaltung

Europas vermieden wird und Länder nicht an den Rand der Europäischen Union gedrängt werden.

Meine Damen und Herren, die Staats- und Regierungschefs waren sich beim Gipfel im September 2016 in Bratislava und in der Erklärung von Rom einig darüber, dass auch die Europäische Union nun liefern muss. Wir wollen ein Europa, das sich an den Interessen der Bürgerinnen und Bürger orientiert.

Die Europäische Union muss von den Menschen auch als Schutzschild wahrgenommen werden – gegen den rauen Wind der Globalisierung. Dafür braucht es mehr Kompromissbereitschaft und mehr Bereitschaft zur Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Das heißt aber auch, dass ohne Überwindung der sozialen Schieflage in der Eurozone Europa nicht die Akzeptanz der Menschen gewinnen kann. Auf dem Boden wachsender wirtschaftlicher Ungleichgewichte und wachsender sozialer Verwerfungen gedeihen Instabilität, Populismus, Radikalisierung und auch Migrationsdruck. Deshalb werden wir uns in allen Politikfeldern, die in den europäischen Prioritäten der Landesregierung identifiziert wurden, aktiv einbringen.

Wir wollen Europas Zukunft mitgestalten: mit einem Brexit, der die vier Grundfreiheiten nicht zur Disposition stellt; mit einer humanen Migrations- und Flüchtlingspolitik, die eine faire Lastenverteilung gewährleistet und eine bessere Sicherung der Außengrenzen bietet; mit mehr innerer Sicherheit durch eine bessere europäische Koordination; mit einem europäischen Klimaschutz, der die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie im Blick hat und verhindert, dass Emissionen und Arbeitsplätze nur ins außereuropäische Ausland verlagert werden; mit einer Digitalisierung, die auch die Bürgerrechte schützt; mit einem klaren Konzept gegen Steuerdumping und für Steuergerechtigkeit und mit einem auskömmlichen EUHaushalt, der es auch in der Zukunft möglich macht, die Segnungen der europäischen Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen nutzen zu können.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Ende meiner Ausführungen auch im Namen der Landesregierung einen herzlichen und ausdrücklichen Dank an Frau von Boeselager, an Markus Töns und an Herrn Wolf für die gute Zusammenarbeit aussprechen, die wir in europapolitischen Fragen in dieser Legislaturperiode gehabt haben.

Der Ausschuss für Europa und Eine Welt hat sich bei allen Kontroversen, die es in der Sache gegeben hat, immer an einem Grundkonsens orientiert. Dafür möchte ich auch namens der Landesregierung herzlichen Dank sagen, Ihnen persönlich alles Gute für die Zukunft wünschen und mir zugleich wünschen, dass Sie unsere europapolitischen Veranstaltungen – sei es hier in Düsseldorf, sei es in Berlin oder sei es vor allen Dingen in Brüssel – weiterhin so intensiv besuchen, wie Sie das in der Vergangenheit

gemacht haben. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.

(Beifall von der SPD, den GRÜNEN und der FDP – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister Lersch-Mense. – Für die SPD-Fraktion hat nun Herr Kollege Hübner das Wort.