Protocol of the Session on July 8, 2016

Wenn das allen Ernstes Ihre Position ist und nicht nur eine Defensivstrategie, dann haben Sie die politische und auch die darüber hinausgehende Brisanz dieses Themas vollständig verkannt.

(Stefan Engstfeld [GRÜNE]: Nein!)

Es ist diesem Haus nicht angemessen – und eigentlich dürfte es auch dieser Regierung nicht angemessen sein –, dass es Oppositionsfraktionen sind, die das Thema erst auf die Tagesordnung des Plenums setzen.

(Beifall von der FDP und der CDU – Stefan Engstfeld [GRÜNE]: Das stimmt doch gar nicht! Das stimmt doch überhaupt nicht! Ich war doch dafür!)

Entschuldigen Sie bitte; aber der Erste, der hier heute gesprochen hat, war der Vorsitzende der CDUFraktion. Es war nicht die Ministerpräsidentin. Daran kann man doch sehen, woher die Initiative kommt.

(Beifall von der FDP, der CDU und den PIRATEN)

Dass hier nicht die Spitzen der Regierungsfraktionen sprechen, sondern anerkannte Fachleute, aber eben nicht die Spitzen der Fraktionen, ist doch ebenfalls ein politisches Signal.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Meine Damen, meine Herren, eine gute Nachricht gibt es: Heute Morgen im ARD-DeutschlandTrend konnte man sehen, dass die Zustimmung zur europäischen Einigungsidee nach dem Votum der Briten zumindest in Deutschland gestiegen ist. Vielleicht ist also dieser Schock für uns auch eine Selbstvergewisserung, was wir tatsächlich an Europa haben;

denn bei allen Rivalitäten, aller Konkurrenz und allem Wettbewerb auf unserem Kontinent, allen harten Interessensgegensätzen, um die gerungen wird, muss man sagen: Vor hundert Jahren sind diese Interessensgegensätze auf dem Schlachtfeld ausgetragen worden. Heute werden sie hingegen im Sitzungssaal ausgetragen. Allein dafür hat sich der europäische Einigungsprozess gelohnt.

(Beifall von der FDP, der CDU und den PIRATEN)

Natürlich ist Europa durch die Flüchtlingskrise, die Eurokrise und viele weitere auch sicherheitspolitische Fragen in unserer Nachbarschaft herausgefordert. Aber diesen Herausforderungen können wir uns stellen. Wir können diesen Herausforderungen auch gemeinsam gerecht werden.

Freiheit, Wohlstand und Frieden werden nicht durch Flüchtlingskrise und Euro gefährdet. Das kann man politisch lösen. Die große Gefahr, vor der Europa steht, ist ein neuer Nationalismus und Rechtspopulismus, der am Ende dafür sorgt, dass sich jede europäische Gesellschaft diesen Herausforderungen allein stellen müsste. Das ist die Gefahr, der wir gemeinsam begegnen müssen.

(Beifall von der FDP, der CDU und den PIRATEN)

Nun gibt es Auswirkungen auf Nordrhein-Westfalen. Noch nicht alle können wir absehen. Klar ist aber: Es wird insbesondere auch ökonomische Auswirkungen geben.

Herr Duin hat in einer ersten Stellungnahme gesagt, unsere Wirtschaft sei nicht gefährdet. Später sprach er davon, die Folgen seien beherrschbar. Ich bin nicht sicher, Herr Duin, ob das Ausdruck einer präzisen Analyse war oder es sich dabei – nach dem Motto: die Hälfte der Wirtschaftspolitik ist Psychologie – um den Versuch einer gruppendynamischen Einflussnahme und Beruhigung der Wirtschaft in Deutschland handelte.

Klar ist jedenfalls, dass die Wirtschaftsforschungsinstitute, insbesondere jene, die der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften nahestehen, von einem Wirtschaftswachstumseinbruch in Deutschland von bis zu 0,9 % für unser ganzes Land ausgehen. Da Nordrhein-Westfalen in besonderer Weise mit Großbritannien verflochten ist, könnten die Auswirkungen noch größer sein. Wenn Sie das also für beherrschbar halten, Herr Duin, dann möchten wir von Ihnen wissen, wie das beherrschbar ist und welche Strategie Sie dafür haben.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Herr Hollande spricht schon Einladungen aus, dass zum Beispiel der Finanzplatz Paris durch das mögliche Ausscheiden Großbritanniens gestärkt wird. Hier in Nordrhein-Westfalen gibt es Unternehmen, die

auch Aktivitäten in Großbritannien haben oder deren Sitz sogar in London ist, beispielsweise Vodafone.

Was wird konkret dafür getan, dass Nordrhein-Westfalen im legitimen Wettbewerb der Standorte reüssiert? Das ist die Frage, die wir gerne hier mit Ihnen erörtern würden. Zu dieser Frage bekämen wir gerne von Ihnen eine Strategie präsentiert. Denn während Sie noch nicht einmal aus eigener Initiative hier im Landtag sprechen wollen, sind andere bereits dabei, Gespräche zu führen und die konkrete Standortansiedelung zu gestalten.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Wir möchten von Ihnen etwas hören über Flächen, den Abbau von Bürokratie, die Stärkung der englischen Sprache in der öffentlichen Verwaltung und Ihre Kommunikationsinitiativen in Großbritannien. Was tun Sie also, damit diese Unternehmen nicht ins europäische Ausland oder in 15 andere Länder gehen?

Herr Duin und Herr Lersch-Mense, jetzt müssen Sie einmal Tempo zeigen. Denn wenn Sie so langsam agieren wie sonst auch, dann werden die Entscheidungen getroffen sein, bevor Sie überhaupt aufgewacht sind.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir ein Anliegen, jetzt noch auf einen Aspekt in Bezug auf die Bewältigung dieser Frage hinzuweisen, nämlich auf den Umgang mit Großbritannien, der mir Sorge macht. Mir bereitet Sorge, dass unsere Bundesregierung, deren Gewicht in Europa gewachsen ist, keine gemeinsame Strategie hat, wie sie vom Zeitplan und vom Inhalt her mit dem möglichen Ausscheiden Großbritanniens umgehen will.

Mir bereitet es Sorge, wie über Großbritannien auch hier gesprochen worden ist, wie sich Sigmar Gabriel heute wieder mit erhobenem Zeigefinger in den „Ruhr Nachrichten“ geäußert hat und wie Martin Schulz den Briten mit erhobenem Zeigefinger sagt: Du, du, du; ihr habt falsch entschieden. – Natürlich haben sie falsch entschieden. Wer aber jetzt so respektlos mit dem britischen Volk umgeht, der stärkt im Nachhinein noch weiter diejenigen, die aus der Europäischen Union ausscheiden wollen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Festigkeit ist erforderlich, kein Sonderdeal – aber eben auch Respekt.

Im Übrigen ist, Herr Hübner, anders als Sie es gesagt haben, keine Eile erforderlich. Das Enddatum muss klar sein, nämlich 2019 zur nächsten Europawahl. Jetzt kommt es aber nicht auf einen Tag oder eine Woche an. Sie können doch auch kein Interesse daran haben, dass Großbritannien als Ganzes politisch und wirtschaftlich ins Trudeln gerät.

Deshalb müssen die Briten sich jetzt sortieren. Dann wird gesprochen. 2019 zur Europawahl muss der Prozess abgeschlossen sein. Jetzt geht es aber darum, dass wir – auch über das mögliche Ausscheiden Großbritanniens aus der EU hinaus – zu einer guten Partnerschaft beitragen. Da sind scharfe und übereilte Entscheidungen, wie Sie sie fordern, Gift für eine weitere Zusammenarbeit.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Da machen Sie so eine wegwerfende Handbewegung. Das zeigt, dass Sie es eben nicht kapiert haben. So sind ja auch die ganzen Interviews von Herrn Gabriel zu verstehen.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Die SPD hat nicht kapiert – das sieht man sowohl an Ihrer wegwerfenden Handbewegung als auch an den Äußerungen von Herrn Gabriel –, …

Die Redezeit.

…dass es jetzt nicht darum geht, aus dem Ganzen einen Profilierungsfeldzug für Ihren Bundestagswahlkampf zu machen. Jetzt wollen Sie auch noch neue Schulden machen. Herr Gabriel will neue Schulden aufnehmen, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Jetzt sind Europa und die bösen Eliten in Großbritannien plötzlich für alles zuständig.

(Zurufe von der SPD)

Das alles trägt nicht dazu bei, dass wir gestärkt aus der Krise hervorgehen. Es ist nur ein Reanimationsprogramm für Ihren potenziellen Kanzlerkandidaten. Und das wird der Sache nicht gerecht.

(Beifall von der FDP und der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Lindner. – Für die Piraten spricht Herr Dr. Paul.

Vielen lieben Dank. – Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Saal und zu Hause! Die Menschen im Vereinigten Königreich haben sich mit knapper, aber dennoch unmissverständlicher Mehrheit für den Brexit entschieden. Sie haben mehrheitlich den Weg der Instabilität, der potenziellen Desintegration – insbesondere der im eigenen Land – und der politischen und wirtschaftlichen Verunsicherung gewählt. Und sie wurden gesellschaftlich gespalten. Doch es ist noch mehr passiert. Das zeigt auch diese Debatte hier.

Nach dem Brexit kann in Europa – in Brüssel, Berlin, Paris und auch Düsseldorf – nicht wie bisher weitergemacht werden. Wir haben den Brexit in einer ausführlichen und guten Debatte im Europaausschuss behandelt und behandeln ihn jetzt hier im Rahmen der Aktuellen Stunde im Plenum. Das ist gut so.

Die Debatte beschäftigt sich aus unserer Sicht aber zu sehr mit vordergründigen Wirtschaftseffekten, mit dem müßigen Aufrechnen von Import- und Exportvolumina. Da hilft es auch nicht, Herr Laschet und Herr Engstfeld, wenn man die falschen Beispiele wählt. Bei ERASMUS ist der EWR mit dabei. Da mache ich mir die wenigsten Sorgen.

(Armin Laschet [CDU]: Nein, nein, nein!)

Ich mache mir viel mehr Sorgen darüber, was mit dem Forschungsstandort Europa passiert, und über die britischen Wissenschaftler, die händeringend auf Mittel aus Brüssel angewiesen sind.

(Beifall von den PIRATEN)

Das hilft uns zum jetzigen Zeitpunkt aber kaum weiter. Es macht auch wenig Sinn, sich an Farage, Cameron oder Johnson abzuarbeiten.

Vielleicht gestatten Sie mir ein persönliches Wort. Als Nachfahre eines Mannes und einer Frau, die den Zweiten Weltkrieg noch als Erwachsene mitgemacht haben, habe ich das Bild von Menschen vor Augen, die sich politisch vor der Verantwortung drücken, auf den Scherben tanzen und Champagner trinken. Ich meine die AfD, die UKIP und den Front National. Dieses Bild ist schier unerträglich für einen überzeugten Europäer.

(Beifall von den GRÜNEN, der SPD, der CDU und den PIRATEN)

Wir müssen uns jetzt fragen: Erstens. Wie konnte es so weit kommen? Zweitens. Wo liegt möglicherweise unsere Verantwortung? Drittens. Was muss jetzt passieren?