Protocol of the Session on June 9, 2016

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie alle ganz herzlich zu unserer heutigen, 115. Sitzung des Landtags NordrheinWestfalen. Mein Gruß gilt auch unseren Gästen auf der Zuschauertribüne sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Medien.

Für die heutige Sitzung haben sich insgesamt zwölf Abgeordnete entschuldigt; ihre Namen werden wir in das Protokoll aufnehmen.

Vor Eintritt in die Tagesordnung möchte ich noch einmal daran erinnern – das hatten wir bereits gestern mitgeteilt –, dass die Fraktion der Piraten den Gesetzentwurf zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen Drucksache 16/10057 zurückgenommen hat. Damit haben sich logischerweise auch die zweite und dritte Lesung, die heute als Tagesordnungspunkt 12 vorgesehen waren, erledigt. Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte verschieben sich dementsprechend.

Damit trete ich mit Ihnen gemeinsam in die Abarbeitung der Tagesordnung für den heutigen Plenartag ein.

Ich rufe auf:

1 Grundschulen „Stiefkinder“ der Bildungspoli

tik in NRW – Unterrichtsbedingungen in den Grundschulen müssen verbessert werden!

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der PIRATEN Drucksache 16/12178

In Verbindung mit:

Die Grundschule als „Stiefkind“ der Landesregierung: Welche Maßnahmen wird die rotgrüne Koalition angesichts der erschreckenden Ergebnisse der jüngsten VBE-Umfrage zur Situation der Grundschulen in NordrheinWestfalen ergreifen?

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP Drucksache 16/12179

Die Fraktion der Piraten hat mit Schreiben vom 6. Juni dieses Jahres gemäß § 95 Abs. 1 der Geschäftsordnung zu der erstgenannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

In Verbindung damit haben die Fraktionen der CDU und der FDP, ebenfalls mit Schreiben vom 6. Juni dieses Jahres, gemäß desselben Paragrafen der Geschäftsordnung zu der zweitgenannten aktuellen Frage der Landespolitik eine Aussprache beantragt.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Redner für die antragstellende Fraktion der Piraten Herrn Kollegen Marsching das Wort.

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer auf der Tribüne und zu Hause! Als erster Redner muss ich erklären, warum wir uns mit dem Thema beschäftigen. Der Lehrerverband Bildung und Erziehung hat am letzten Mittwoch eine Umfrage vorgestellt. Die Stimmen wurden immer lauter, und die Beschwerden wurden immer mehr. Lehrer haben Ideale, einen Anspruch an sich selbst, und wenn dieser Anspruch nicht mehr erfüllt werden kann, kriegen wir in der Politik Post. Die Zuschriften gab es schon immer, aber wir müssen eines konstatieren: Die Zuschriften aus den Grundschulen werden immer verzweifelter. – Der Verband Bildung und Erziehung unterfüttert das Ganze jetzt mit Zahlen.

Zu den Ursachen für die immer schlechtere Lage der Grundschulen:

Erstens. Inklusion. Wer sagt, dass er kein Kind zurücklassen will, aber zulässt, dass inklusive Klassen ohne Sonderpädagogen auskommen müssen, wer einen Klassenfrequenzrichtwert – er zeigt an, wie viele Kinder von einem Lehrer unterrichtet werden – von 23 festlegt, der reale Wert aber laut VBEUmfrage bei 24,5 liegt, also am Ende aller Bundesländer, muss sich fragen: Welcher einzelne Lehrer, der ohne Kollege oder Kollegin auskommen muss, soll da inklusiv fördern? – Meine Damen und Herren, an den Grundschulen fehlen die Mittel. An den Grundschulen fehlen die Lehrer.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Zweitens. Individuelle Förderung. Auch die individuelle Förderung finden wir wie die Inklusion eigentlich gut; das wollen wir haben. Aber wir können nicht jeden Schüler fördern, wenn es nicht mehr Lehrer gibt. Welcher Lehrer soll sich um 24 Schüler einzeln kümmern? Wer die individuelle Förderung propagiert, der muss für das erforderliche Personal sorgen, und wir haben zu wenig Lehrer an den Grundschulen.

Drittens. Integration – eine wichtige Aufgabe. Frau Löhrmann, da haben Sie schnell reagiert. Dafür muss ich Sie loben. Als die geflüchteten Kinder kamen, haben Sie Geld in die Hand genommen; Sie haben neue Lehrer eingestellt. Das Problem ist: Damit haben Sie für die Grundschulen nur den Status quo erhalten. Das ist nicht nice to have, das ist kein

Mehrwert, sondern wir bleiben da stehen, wo wir sind. Und wenn es vorher schlecht war und ich die Situation erhalte, ist es hinterher immer noch schlecht. Auch hier müssen wir konstatieren: Es gibt immer noch zu wenig Lehrer.

Viertens. Die Erziehungsaufgaben werden mehr in der Grundschule in Verbindung mit dem Ausbau des Ganztags. Vielleicht ist es sogar okay so. Vielleicht ist es einfach so: Wenn die Schüler eine längere Zeit des Tages in der Schule sind, dann muss die Schule mehr Erziehungsaufgaben übernehmen. Alles gut.

Aber warum trennen wir dann in Ganztagsschule und Nachmittagsbetreuung durch Erzieher? Warum holen wir nicht die Erzieher in die Schule? Warum verknüpfen wir nicht Schulunterricht und Freizeit, in der auch erzogen werde kann? Warum nehmen wir nicht mehr Sozialpädagogen in die Schule? Alles Forderungen, die hier gestellt wurden, aber alles wurde nicht umgesetzt. Auch da: zu wenig Mittel, zu wenig Personal.

Was last but not least oben draufkommt, ist die digitale Revolution. Die Jobs von morgen haben nichts mehr mit der Ausbildung von heute zu tun. Das sage nicht nur ich, das hat Minister Duin am letzten Wochenende in einem Interview gesagt. Die Grundlagen für die Jobs von morgen werden aber in der Grundschule gelegt. Die heißt übrigens deswegen so. Das ist eine zusätzliche Belastung, die in die Grundschulen kommen wird. Sie ist noch gar nicht abzusehen, und über die haben wir hier noch gar nicht in dieser Form geredet.

Meine Damen und Herren, das Bildungssystem steht kopf. Oben, in der Oberstufe, ist das Verhältnis Lehrer-Schüler besser. Es wird mehr Geld pro Schüler investiert. Unten, wo die Grundlage gelegt wird, sparen wir. Da wird nicht angepasst, anders als zum Beispiel im „gelobten Land“ Skandinavien.

Wenn man vergleicht – auch da die Tabelle – Geld pro Schüler, das in die Hand genommen wird, stellt man fest: Auch da steht Nordrhein-Westfalen im Ländervergleich ganz weit unten und ist ganz weit abgeschlagen. Das hat historische Gründe. Das will ich nicht verhehlen. Wenn man es aber 70 Jahre nach Gründung dieses Landes nicht schafft, der Primarstufe die entsprechende Wichtigkeit beizumessen, meine Damen und Herren, dann müssen wir uns fragen: Sind wir mit dieser Landesregierung, sind wir mit diesen Konzepten wirklich vorne dran?

(Beifall von den PIRATEN)

Ja, Sie haben den Klassenfrequenzrichtwert gesenkt. Ja, Sie haben die Leitungszeiten in den Grundschulen erhöht, um Schulleiter zu finden. Aber das alles hat doch die Probleme nicht gelöst. Grundschullehrer sind an der Belastungsgrenze.

Wir sprechen immer wieder als Politiker vor Ort den Lehrerinnen und Lehrern unsere Anerkennung aus.

Aber so langsam sind wir verzweifelt, weil die uns angucken und sagen: Ihr Politiker seid doch schuld. Was sollen wir denn tun, wenn die Landesregierung da nicht hilft und wenn die Landesregierung da untätig bleibt?

Grundschule ist Grundbildung. Ich habe es gerade schon gesagt. Da werden Grundlagen gelegt. Das begründet die Bildungslaufbahn. Ich glaube, besser kann man den Zusammenhang nicht darstellen, als einfach diese Worte immer im Zusammenhang zu sagen.

Wem das nicht finanzierbar erscheint, der lebt im Heute. Eine Landesregierung aber sollte in die Zukunft blicken und im Morgen leben und nicht nur bis zur nächsten Wahl, gerade wenn es um die Grundschüler geht. Sie haben noch Jahre der Schulbildung vor sich. Da darf man nicht im Fünfjahresturnus denken.

(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Wir wissen auch, was Sie gleich erzählen. Meine Kollegin Pieper würde sagen: „geschenkt!“ Ja, Sie haben in den letzten Jahren. 3,5 Milliarden € in die Bildung gesteckt.

(Ministerin Sylvia Löhrmann: Zusätzlich!)

Zusätzlich in die Bildung gesteckt. Mensch, wie toll Sie doch sind! Aber das hat eben alles nur den Status quo erhalten, weil wir zusätzliche Belastungen hatten. Die haben Sie aufgefangen. Da gebe ich Ihnen, wie gesagt, das Lob. Aber Sie schaffen es eben nicht, die Grundschule besserzustellen.

Die Opposition wird sagen – ich weiß gar nicht, warum Sie die Aktuelle Stunde beantragt haben, Herr Laschet, Herr Lindner –: Jawohl, wir müssen jetzt etwas für die Grundschule tun. Sie stellen sich hier hin und sagen: Na gut, die Grundschulen dürfen nicht mehr Stiefkinder sein. In den letzten Haushaltsverhandlungen haben wir von Ihnen gelesen: Wir müssen bei den Lehrern Stellen einsparen. – Wie soll das zusammengehen?

Am Ende ist eine Grundschule, die so ist, wie sie sein soll, vor allen Dingen eines: Sie ist teurer. Wir – und das, meine Damen und Herren, halte ich für den wirklichen Skandal – sind als kleinste Fraktion hier die Einzigen, die sagen: Bildung ist so wichtig, da dürfen wir nicht sparen. Bildung muss aus der Schuldenbremse raus. Für Bildung muss Geld in die Hand genommen werden.

(Zurufe von den GRÜNEN)

Jedes Mal, wenn wir uns die realen Zahlen ansehen und was Sie machen, heißt es: sparen, sparen, sparen.

Meine Damen und Herren, Bildung ist das wichtigste Gut, das wir hier im Land Nordrhein-Westfalen beein

flussen können. Ich möchte frei nach Rio Reiser enden: Wann, wenn nicht jetzt, wo, wenn nicht hier, wie ohne Bildung, wer, wenn nicht wir? – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Marsching. – Für die CDU-Fraktion erhält Herr Kollege Laschet das Wort.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben seit Wochen Diskussionen im Land über die Frage der Kinderarmut in Nordrhein-Westfalen. Wir verzeichnen bei der Kinderarmut den höchsten Anstieg aller Bundesländer seit 2010. Wir haben die höchste Hartz-IV-Quote aller westdeutschen Flächenländer. Die Hans-BöcklerStiftung und die Paritätischen Wohlfahrtsverbände und die Diakonie haben uns gesagt: Das hängt ganz eng auch damit zusammen, dass wir zu wenig Arbeitsplätze haben.

Deshalb ist die Frage „Wirtschaft und Arbeitsplätze“ eine, die ein Beitrag sein kann, um Kinderarmut zu bekämpfen. Da müssen wir besser werden.

Nun hat die Ministerpräsidentin am Beginn ihrer Wahlperiode nicht gesagt: Die Stärkung des Wirtschaftsstandortes Deutschland ist meine absolute Priorität.

(Eva Voigt-Küppers [SPD]: Hat sie wohl ge- sagt!)

Herr Duin hat letztlich gesagt: Ich war selbst bei den Koalitionsverhandlungen 2012 nicht dabei, und es gibt nichts, was ich mehr bedauere, denn genau dieses Thema fehlt. – Nach vier Jahren Regierungszeit sagt der Wirtschaftsminister: Das hat die Ministerpräsidentin damals nicht überblicken können, weil ich noch nicht da war. – Das ist aber die Realität dieser vier Jahre gewesen.

(Beifall von der CDU)

Allerdings hat sie gesagt: Ich will kein Kind zurücklassen. – Das war der Anspruch. Wir haben letzte Woche eine kleine Bilanz erlebt. 18 Modellkommunen haben das gemacht, was wir seit vielen Jahren machen: Prävention, Kinder früh begleiten, Jugendämter sensibilisieren, bereits nach der Geburt erste Projekte durchführen.