Protocol of the Session on June 5, 2008

Danke schön, Frau Kastner. – Für die SPD spricht nun Frau Schneppe.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sicherlich sind etliche Väter und Mütter unter uns. Ich möchte einmal darauf hinweisen: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihr Kind als dumm bezeichnet würde? Das ist ein Schubladendenken: Kann das Kind nicht rechnen, wird gesagt: Das Kind ist dumm. Der psychische Druck, der damit auf die betroffenen Schülerinnen und Schüler ausgeübt wird, ist enorm und hat meist noch weitere negative Folgen.

Dabei sind es mitnichten, meine Damen und Herren, mangelnde Intelligenz, fehlende Begabung oder Probleme im sozialen Umfeld, die bei immerhin rund 5 % der deutschen Drittklässler zu großen Leistungsrückständen führen. Die Diagnose lautet Dyskalkulie oder Rechenstörung. Wer möchte da nicht die bestmögliche Förderung und Unterstützung für diese Kinder?

Den betroffenen Kindern fehlt das Verständnis für Mengen und Richtungen. Grundlegende Rechenoperationen wie Additionen, Subtraktionen, Multiplikationen und Divisionen werden nur schwer erlernt, wenn überhaupt. Höhere Fertigkeiten, die für Algebra, Geometrie oder Differenzialrechnungen benötigt werden, sind hingegen häufig vorhanden. Es ist die vorrangige Aufgabe der Schule, Schülerinnen und Schüler die grundlegenden Fähigkeiten und Fertigkeiten zum erfolgreichen Lernen in Mathematik zu vermitteln. Hierzu bedarf es Fachlehrer, die durch ihre Ausbildung und die kontinuierliche Weiterbildung die Rechenstörung

erkennen und frühzeitig fördern. Besonderes Augenmerk muss dabei auf den Grundschulbereich gerichtet werden, denn hier werden die Grundlagen für die Zukunft gelegt.

Wird die Diagnose Dyskalkulie gestellt, muss diese im schulischen Bereich berücksichtigt werden – auch an weiterführenden Schulen –, vor allem vor dem Hintergrund, dass eine Rechenstörung zwar bereits Mitte des zweiten Schuljahres durch Fachleute diagnostiziert werden kann, aber im schulischen Bereich meist erst im dritten oder vierten Schuljahr gravierend auffällt. Um betroffenen Kindern eine gezielte Förderung zuteil werden zu lassen, ist eine schulrechtliche Regelung dringend erforderlich.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Nur so können bei Bedarf Nachteile ausgeglichen, Notenschutz gewährleistet und letztendlich die grundlegenden mathematischen Kenntnisse aufgebaut werden.

Es sollten daher während der Förderphase folgende Möglichkeiten gegeben werden: Aufgaben zu stellen, die dem individuellen Lernstand entsprechen; Notenschutz bei Prüfungen und Abschlussarbeiten; mehr Zeit bei den Klassenarbeiten und die Leistungsbewertung so vorzunehmen, dass der erreichte Lernstand pädagogisch gewürdigt wird und nicht zu einem Misserfolg abqualifiziert wird, weil der Klassenstand noch nicht erreicht ist; mündliche Leistungen, die dem individuellen Lernstand entsprechen, stärker zu gewichten; auch in der weiterführenden Schule die diagnostizierte Rechenstörung zu berücksichtigen.

Für Schülerinnen und Schüler, die von einer Dyskalkulie betroffen sind, muss über eine schulische Regelung gewährleistet sein, dass sie das Rechnen mit allen Hilfen, die möglich sind, erlernen, um ihnen einen begabungsgerechten Schulabschluss zu ermöglichen und sie nicht von der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft auszuschließen.

Bewahren wir diese Kinder vor dem Schubladendenken, meine Damen und Herren! Dazu bedarf es jedoch unstrittig der Anerkennung der Dyskalkulie als Teilleistungsstörung. Andere Bundesländer haben uns dies schon voraus und entsprechende Erlasse verfasst. Deshalb werden wir dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf individuelle Förderung von Kindern mit Teilleistungsstörungen zustimmen. Ich bedauere es sehr, dass wir im Ausschuss für Schule und Weiterbildung nicht weitergekommen sind, zumal das

Thema vor zwei Jahren schon einmal behandelt wurde.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Danke schön, Frau Schneppe. – Frau Pieper-von Heiden spricht nun für die FDP.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich müssen wir uns mit der Problematik der Dyskalkulie und auch mit ihren Folgen beschäftigen. Deswegen müssen wir nützliche Lösungen für die Schüler finden. Dabei sollten wir immer im Auge behalten, Frau Beer, welche Bewertung uns die Wissenschaft vermittelt. Das, was Sie uns eben erzählt haben, war erneut – wie schon zuvor – wenig wissenschaftlich.

(Beifall von der FDP)

Deshalb macht der Antrag, den die Fraktion der Grünen vorgelegt hat, in dieser Form keinen Sinn.

Die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz, die Sie ebenfalls angesprochen haben, sind bekannt; ich werde sie nicht wiederholen. Auch möchte ich nicht weiter auf den Streit zwischen widerstreitenden juristischen Bewertungen eingehen. Mir geht es zuallererst um die inhaltliche und tatsächlich die wissenschaftliche Bewertung der Dyskalkulie und darum, wie wir in der Folge in der Schule am besten mit ihr umgehen können.

Wir alle sind uns einig, dass Dyskalkulie eine Einschränkung der Lernfähigkeit ist, die auf die betroffenen Schüler und deren Leistungen einen nachhaltigen Einfluss ausüben kann. Die Wissenschaft sagt uns aber auch – entgegen Ihrer Behauptung, Frau Beer –, dass Dyskalkulie keine Behinderung ist. Wenn Sie jetzt nicht telefonieren würden, könnten Sie das vielleicht noch einmal überprüfen. Das gilt es genau zu unterscheiden.

Den von Dyskalkulie betroffenen Schülern fehlen vor allem hinreichende Vorstellungsbilder der Grundrechenarten, die sich dann in der Folge auch auf Sachaufgaben und damit unter Umständen auf weitere schulische Felder erstrecken können. Da die Dyskalkulie keine Behinderung ist, bedeutet dies zum Glück, dass man sie tatsächlich beheben kann. Sie ist wissenschaftlich keine Behinderung, Frau Beer.

(Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

Ein von den Grünen geforderter einfacher Nachteilsausgleich bei der Notengebung wäre deshalb wenig sinnvoll. Den Schülern ist ihre

Schwäche durchaus bewusst, sodass ihnen durch Rücksichtnahme bei der Notengebung die von den Grünen geforderte psychische Entlastung kaum zugute käme.

Ein wirklich sinnvoller Umgang mit der Dyskalkulie kann aus meiner Sicht nur die frühzeitige individuelle Förderung der Schüler darstellen. Hierzu gehört zunächst aber auch die Feststellung, ob es sich tatsächlich um eine Dyskalkulie handelt. Für fachfremde Personen ist diese Form der Rechenschwierigkeit oftmals nicht leicht zu erkennen.

Mit der DEMAT-Testreihe – das ist der deutsche Mathematiktest – liegt mittlerweile für die Klassen 1 bis 4 ein Verfahren vor, das relativ präzise auch zur Diagnostik von Rechenschwierigkeiten eingesetzt werden kann. Es wird an mancher Stelle auch eingesetzt.

Danach kann bei einer Rechenleistung, die etwa bei den Schwächsten 15 % der Schüler eines Jahrgangs anzusetzen ist, von einer solchen Rechenschwierigkeit gesprochen werden. Sie ist in dieser Form jedoch behandelbar und sollte eben nicht über die Notenvergabe gesteuert werden, sondern durch eine frühzeitige Förderung.

(Beifall von Ralf Witzel [FDP])

Durch diese wissenschaftlichen Erkenntnisse sollten wir uns in unseren Betrachtungen leiten lassen, Frau Beer, auch wenn Sie heute deutlich die Tendenz zu erkennen gegeben haben, dass Sie sich immer mehr von Wissenschaftlichkeit entfernen wollen.

(Ralf Witzel [FDP]: Nicht nur heute!)

Ja, aber heute in besonderer Weise.

Meine Damen und Herren, mir erscheint es daher von zentraler Bedeutung, dass wir uns auf die frühzeitige Förderung der Schüler konzentrieren. Um diese zu erreichen, ist es zunächst vor allen Dingen wichtig, dass die Lehrkräfte diese Problematik frühzeitig erkennen. Da spielt eine adäquate Information der Lehrkräfte und auch der Erzieherinnen in Aus- und Fortbildung eine ganz herausragende Rolle. Nur so kann der Rechenschwäche, die sich in der Folge eben durchaus über weitere schulische Felder erstrecken kann, pädagogisch entgegengewirkt werden. Nur so ermöglichen wir es Schülern, dass sie die schulischen Inhalte beherrschen lernen; denn nichts anderes drückt die Notevergabe letztendlich aus, nämlich die Beherrschung thematischer Inhalte sowie die Fähigkeit und Fertigkeit, mit ihnen umzugehen.

Nochmals: Ich denke daher, dass ein Nachteilsausgleich bei den Noten in diesem Fall

überhaupt nicht zielführend ist. Das wollen echt Betroffene definitiv nicht. Aber es gibt viele Kinder, die eine Schwäche im Rechnen haben und bei denen gern dieser Vorwand herangezogen wird. Das darf man an dieser Stelle nicht verkennen. Frau Beer, das wissen Sie ganz genau. Das sollten Sie hier nicht verheimlichen. Sie wissen es doch.

Weil wir uns in diesem Punkt nicht einigen konnten und weil Sie die Aussagen der Wissenschaft nicht annehmen wollen, Frau Beer,

(Beifall von Ralf Witzel [FDP])

ist es nicht zu einem gemeinsamen Antrag gekommen. Wenn Sie schon von einer Behinderung sprechen, dann müssen wir ganz andere Teilleistungsstörungen ebenfalls einbeziehen. Wir werden darüber im Ausschuss diskutieren. Seien Sie sich ganz sicher, die Koalitionsfraktionen werden auch auf diese schulischen Probleme eine Antwort finden, die sich aber nicht am Populismus entlang bewegt, sondern an den Aussagen der Wissenschaft. Wir machen in Nordrhein-Westfalen eine seriöse Schulpolitik und springen nicht auf jedes populistische Pferd auf.

(Beifall von der FDP)

Danke schön, Frau Pieper-von Heiden. – Für die Landesregierung spricht jetzt Ministerin Sommer.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine bahnbrechende Rede für die Dauer von mehr als fünf Minuten lasse ich stecken. Ich möchte das, was ich vorbereitet habe, in sechs Thesen ausdrücken.

Erste These, die auch an Sie, Frau Kollegin Schäfer, gerichtet ist: Es gibt keine dummen Kinder.

Zweite These: Schule muss Kinder stärken und das Stärken in den Mittelpunkt rücken, denn dann werden Misserfolge leichter verkraftet werden.

Dritte These: Lehrerhilfen. Es gibt Fortbildungen. Es gibt in der Lehrerausbildung demnächst einen Passus, der sich besonders damit beschäftigt. Meine Lehrerinnen und Lehrer im Lande haben sicherlich die Möglichkeiten des methodischen Zugangs.

Vierte These: Sie gehen Kooperationen mit außerschulischen Anbietern ein, die gerade diese Thematik in den Blick rücken und helfen können.

Vorletzte These: Teilleistungsstörung darf nicht in die Nähe von Behinderung gebracht werden.

Die sechste These richtet sich insbesondere an Sie, meine Damen und Herren von Bündnis 90/Die Grünen: Ich halte die KMK für eine lernfähige Veranstaltung. – Danke schön.

(Beifall von CDU und FDP)

Danke schön, Frau Ministerin. – Meine Damen und Herren, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Wir sind deshalb am Schluss der Beratung.

Der Ausschuss für Schule und Weiterbildung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung Drucksache 14/6638, den Antrag Drucksache 14/1663 abzulehnen. Wer dieser Beschlussempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind CDU und FDP. Wer ist dagegen? – SPD und Grüne. Wer enthält sich? – Niemand. Dann ist diese Beschlussempfehlung angenommen.

Meine Damen und Herren, bevor wir zu Tagesordnungspunkt 14 kommen, muss ich eine Rüge aussprechen. Sie betrifft den Abgeordneten und Finanzminister Dr. Helmut Linssen. Er hat sich in der heutigen Plenarsitzung bei Tagesordnungspunkt 2 „Gesetz zur Änderung aufsichtsrechtlicher, insbesondere sparkassenrechtlicher Vorschriften“ während der Rede des Kollegen Sagel mit einem Zwischenruf unparlamentarisch geäußert. Dies muss gerügt werden, was ich hiermit tue.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt

14 Drogenkonsum nicht kriminalisieren, Justiz nicht überlasten: „Hilfe statt Strafe“ muss oberstes Prinzip der Drogenpolitik bleiben