Protocol of the Session on March 13, 2008

(Ralf Witzel [FDP]: Ganztagsplätze!)

Das versucht er auf dem Erlassweg. Das DreierKastenwesen im Schulsystem soll nun in der Denke und faktisch schon im ersten Aufnahmeverfahren bei den Gesamtschulen durchexerziert werden. Das hält der Staatssekretär – und damit das Ministerium – für Heterogenität.

So verordnet er in einem schulrechtlich nirgends gedeckten Erlass, bei der Gründung einer Gesamtschule müssten je ein Drittel Haupt-, Realschul- und Gesamtschulempfehlungen vorliegen. Als ob wir nicht genau wüssten, dass in den Grundschulgutachten der soziale und familiäre Hintergrund durchschlägt und dass dort keine sicheren Aussagen über die kognitive Leistungsfähigkeit getroffen werden! Das Ministerium tut so, als ob die Bevölkerung in dieser Gesellschaft qua natürlicher Begabungsverteilung dreigeteilt werden müsste.

(Beifall von den GRÜNEN)

Frau Kollegin, es gibt eine Zwischenfrage von Herrn Hollstein. Möchten Sie die zulassen?

Herr Hollstein, herzlich gerne.

Bitte schön, Herr Hollstein.

Frau Kollegin, es ist jetzt schon ein paar Sätze her; da hätte die Zwischenfrage vielleicht noch besser gepasst. Aber vielleicht können Sie mir bei meiner Erinnerung helfen und mir sagen, wann in diesem Land die letzte Gesamtschule gegründet worden ist.

Unter der rot-grünen Landesregierung.

(Jürgen Hollstein [CDU]: Wann?)

2003.

(Ralf Witzel [FDP]: Wann davor? In den letz- ten zehn Jahren?)

In den letzten zehn Jahren? Soll ich Ihnen erzählen, wie ich gemeinsam mit Eltern eine Gesamtschule gegründet habe und deshalb von deren Leistungsfähigkeit überzeugt bin und verstehen kann, dass Eltern genau das für ihre Kinder wollen? Deshalb setzen sich Bündnis 90/Die Grünen für den Elternwillen an dieser Stelle ein.

(Beifall von den GRÜNEN)

Frau Beer, es gibt eine Zwischenfrage von Herrn Solf.

Aber gerne, Herr Solf. Bitte schön.

Bitte, Herr Solf.

Liebe Frau Kollegin Beer, können Sie zur Kenntnis nehmen, dass in Siegburg bei der Anmeldung durch die Eltern nur drei Kinder mit Gymnasialempfehlungen dabei waren,

(Beifall von der CDU – Ralf Witzel [FDP]: Das hat seinen Grund!)

und können Sie mir folgen, wenn ich sage, dass das der Philosophie einer Gesamtschule doch zutiefst zuwiderläuft?

Herr Solf, würden Sie mir erlauben, darauf hinzuweisen, dass die Gesamtschule Nettetal im letzten Jahr einen Abiturjahr

gang hatte, der im Zentralabitur ganz hervorragend, überdurchschnittlich gut abgeschnitten hat, und dass kein Kind dieses Jahrgangs bei der Anmeldung eine Gymnasialempfehlung hatte?

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Aber 40 % scheitern doch in der Ober- stufe!)

Zum Einmaleins eines Staatssekretärs und auch Ihrem, Herr Solf, sollte eigentlich die berühmte Grafik aus der ersten PISA-Veröffentlichung gehören. Sie erinnern sich an die Gauß’sche Normalverteilung und an die glockenförmigen Kurven.

Sie wissen ganz genau, dass die Kinder nicht aufgrund ihrer kognitiven Grundfähigkeiten auf die verschiedenen Schularten aufgeteilt werden, sondern dass es große Überlappungsbereiche gibt und dass Kinder, die auf die Hauptschule gekommen sind, genauso gut im Gymnasium mithalten könnten, während umgekehrt Kinder im Gymnasium sitzen, die nach Ihrer Denke aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit so eigentlich nicht hätten einsortiert werden dürfen. Auch die Ergebnisse der IGLU-Studie zeigen uns diesen Befund immer wieder.

Frau Beer, eine Frage von Frau Löhrmann?

Ja, ausnahmsweise, gerne.

Bitte schön.

Frau Beer, Sie haben eben etwas zu der Entwicklung von Kindern mit und ohne Gesamtschulempfehlung und zu der von Kindern mit Gymnasialempfehlung gesagt. Können Sie denn dem Hohen Hause und insbesondere den Kollegen etwas über die Entwicklung der Kinder an Gymnasien, die eine Gymnasialempfehlung haben, sagen? Wie viele kommen denn davon durch und werden zum Abitur geführt?

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Das ist eine sehr interessante Frage, danke schön. Zum Teil kommen nämlich 40 % der Kinder dort nicht an.

(Beifall von den GRÜNEN)

Das heißt, sie werden nach unten durchgereicht, und wir wissen, dass die Durchlässigkeit in diesem Schulsystem – da haben Sie ja an der Verstärkerschraube gedreht – von oben nach unten

geht und dass eben keine Aufwärtsbewegung da ist.

Aber wenn es nach dem Staatssekretär geht, dann hätte der letzte Gesamtschuljahrgang in Nettetal – ich habe es schon erwähnt –, überhaupt nicht an den Start gehen können. Das ist die Gesamtschulverhinderungspolitik, die wir hier im Augenblick erleben.

(Beifall von GRÜNEN und SPD – Ralf Witzel [FDP]: Interessant – Gleichberechtigung heißt für Grüne Verhinderung!)

Die Heterogenität ist also nur in Form eines Kastenwesens vorstellbar, und dabei wird gar nicht die gesamte Begabungsbreite berücksichtigt. Sie wird durch Grundschulempfehlungen und gutachten nicht abgebildet.

Aber wenn wir schon bei solch deutlichen Worten sind, will ich auch noch einmal ganz klar sagen, was ich davon halte, wenn Sie neu zu gründenden Gesamtschulen den Ganztag vorenthalten wollen. Das ist ein absolut mieses Spiel mit Eltern und Kindern!

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Ich empfinde es als Heuchelei, dass Sie hier zwar die besonders notwendige Unterstützung und Förderung von Kindern mit einer Hauptschulempfehlung betonen und erklären, dass sie Ganztagsangebote brauchen, diese Unterstützung aber dann, wenn sich Eltern für die Gesamtschulen entscheiden und Ihnen und Ihrer Hauptschulpolitik nicht folgen, nicht gewährt werden soll. Das nenne ich Heuchelei, und das ist ein mieses Spiel mit Eltern und Kindern.

(Beifall von GRÜNEN und SPD)

Lassen Sie mich an der Stelle auch noch einmal mit einer Geschichtsklitterung aufräumen. Herr Witzel zelebriert sie besonders gerne: Es sei nötig gewesen, das vermeintliche Ganztagsschulprivileg der Gesamtschulen zu schleifen.

(Ralf Witzel [FDP]: Natürlich!)

Hören Sie zu, dann können Sie etwas lernen! Denn damit wird so getan, als ob es schon immer Wellen von Schulen gegeben habe, die unbedingt Ganztagsschulen hätten sein wollen.

(Ralf Witzel [FDP]: Das ist doch das Privileg der Gesamtschulen gewesen!)

Das ist Unfug. Die Ganztagsschuldebatte ist erst nach PISA richtig in Fahrt gekommen.

(Beifall von den GRÜNEN – Zuruf von Bern- hard Recker [CDU])

Die anderen Schulformen haben den Ganztag erst ganz langsam für sich entdeckt. Herr Witzel, wenn Sie in der Schule tätig gewesen wären, dann wüssten Sie, wie viel Widerstände es dort in den Kollegien gegeben hat und bei einigen auch heute noch gibt, die gar nicht Ganztagsschule werden wollen. Viele Kolleginnen und Kollegen sind zunächst an die Gesamtschulen gegangen, weil sie eine Stelle haben wollten. Sie haben dann kurzfristig abgesagt, weil sie noch an einer Halbtagsschule untergekommen sind. Da haben die Gesamtschul-Kollegien ganz bittere Erfahrungen gemacht.

Ich finde es hervorragend, dass der Ganztag nun endlich als pädagogisches Prinzip von allen Schulen entdeckt worden ist. Es ist deshalb wichtig, ihn systematisch für alle Schulformen in der Sekundarstufe I zu verankern.

(Beifall von den GRÜNEN)

Ich fordere Sie auf, mit Ihrer Anti-Gesamtschulpolitik, mit der Sie Gesamtschulneugründungen sabotieren wollen, aufzuräumen. Respektieren Sie den Elternwillen, den Sie sonst wie eine Monstranz vor sich her tragen, der aber nicht gelten soll, wenn es um die Gesamtschulen geht.