Protocol of the Session on November 14, 2007

Die Variable, die in Bildungsprozessen über Erfolg und Misserfolg entscheidet, muss aus Leistungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit, also aus dem Potential bestehen, was ein Schüler mitbringt. Sie darf auf keinen Fall aus seiner sozialen Herkunft bestehen. Das ist die Variable, die diese Frage am allerwenigsten entscheiden darf.

Weil uns das nach unserem liberalen Gerechtigkeitsgefühl am Herzen liegt, haben wir Sie angesichts der Ergebnisse der verschiedenen Bildungsstudien zum Ende Ihrer Amtszeit um Ihre Bewertung der Situation gebeten. Es ist in der Landtagsdrucksache 13/6545 sehr interessant nachlesbar. Die damals verantwortliche Ministerin für Schule und Jugend – es gab noch einen etwas anderen Ressortzuschnitt –, Ute Schäfer, führte auf unsere Frage zur Korrelation von Bildungschancen und sozialer Herkunft aus:

„Nach PISA 2000 beträgt für den Bereich der Lesekompetenz das Leistungsgefälle zwischen allen 15-jährigen Jugendlichen aus Familien mit dem höchsten und dem niedrigsten sozialen Status etwa 97 Punkte (ungünstiger Wert …). Dabei ist für Nordrhein-Westfalen im Vergleich der Bundesländer die engste Kopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb festzustellen. Zugleich sind die relativen Chancen eines Gymnasialbesuchs für Jugendliche aus Familien mit einem niedrigen sozialen Status in Nordrhein-Westfalen im Vergleich der alten Länder relativ günstig …“

Das müssen Sie sich als Resultat Ihrer Politik vor Augen führen, meine Damen und Herren. Heute und zukünftig ist es für Sie einfacher, was den Gymnasialbesuch angeht. Wenn Sie das Gymnasium abschaffen, gibt es auch die Probleme nicht mehr. In diesem Punkt hat sich auch Ihr Bewusstsein verändert. Jahrzehntelang war es das Ziel der SPD, dafür zu sorgen, dass mehr Kinder die Chance bekommen, das Gymnasium zu besuchen. Zukünftig wollen Sie die Schulform als solche gar nicht mehr, damit sie niemand mehr besuchen kann. Das ist in Ihrer Entwicklung bemerkenswert.

Sie haben sich die Finger doch schon verbrannt. Fragen Sie einmal Ihre Kollegen in Niedersachsen. Dazu müsste gerade Frau Kollegin Hendricks einiges sagen können, die sich gedanklich doch schon auf dem Absprung in die niedersächsische Bildungspolitik befindet.

Die SPD ist doch schon vor einigen Jahren diesen Irrweg gegangen und hat die sechsjährige Grundschulzeit eingeführt. Sie hat dann evaluiert, wie die Leistungsergebnisse der Schüler bei einem längeren gemeinsamen Lernen geworden sind. Sie hat festgestellt, das System geht den Bach herunter, es hat keine Akzeptanz, die Leistungen sind schlechter geworden, es ist für die Schüler nicht länger verantwortbar, die sechsjährige Grundschulzeit als Flächenversuch irgendwo in Deutschland fortzusetzen, und sie hat sich deshalb von dem System verabschiedet. Sie können doch wirklich einmal von anderen Ländern lernen, die an der nordrhein-westfälischen Grenze liegen.

(Beifall von der FDP)

Herr Witzel, erlauben Sie eine Zwischenfrage von Frau Schäfer?

Aber gerne.

Bitte, Frau Schäfer.

Herr Witzel, wenn Sie die einschlägige Literatur studiert haben, dürfte Ihnen das Buch „Letzte Chance für gute Schulen“ von Ludger Wößmann nicht entgangen sein. In diesem Buch schreibt der Bildungsforscher eines Wirtschaftsinstitutes – des Ifo-Instituts – ganz klar und deutlich, dass die Tatsache, dass Schülerinnen und Schüler länger gemeinsam lernen, für den Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft von Bedeutung ist. Mit anderen Worten: Je länger Kinder gemeinsam lernen, desto weniger geht die Schere auseinander.

Ist Ihnen dieses Buch bekannt? Diese Aussage gilt unter anderem auch für Herrn Baumert, der PISA-Auswertungen gemacht hat. Wissen Sie das?

Frau Kollegin Schäfer, mir sind Veröffentlichungen von Herrn Wößmann und von anderen Wissenschaftlern bekannt. Sie wissen, dass es auch in der Wissenschaft einen Diskurs gibt. Deswegen bin ich Ihnen sehr dankbar, dass Sie gerade Jürgen Baumert angesprochen haben.

Ich verweise Sie auf dessen sehr interessanten Beitrag in der Fachzeitschrift „Pädagogische Führung“, Ausgabe 4/2003. Ich darf Ihnen die relevanten zwei oder drei Sätze zu der von Ihnen angesprochenen Fragestellung vortragen:

„Schon Fend konnte in seinen hessischen und nordrhein-westfälischen Gesamtschuluntersuchungen zeigen, dass die Leistungsergebnisse der Gesamtschule in der Tendenz suboptimal sind und sich keine Fördereffekte für leistungsschwächere Schüler nachweisen lassen. Verbesserte Abschlussquoten wurden wesentlich durch Senkung der Vergabestandards erreicht. Diese Befunde wurden im Wesentlichen zehn Jahre später durch die Längsschnittstudie ‚Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugend- und jungen Erwachsenenalter’ (BI- JU) und 20 Jahre später im Querschnitt durch PISA für die Bundesrepublik insgesamt repliziert.“

So äußert sich PISA-Forscher Jürgen Baumert, „Pädagogische Führung“, Ausgabe 4/2003. Das wäre meine Antwort auf Ihre Frage.

(Svenja Schulze [SPD]: 2003? Weiterlesen!)

Herr Witzel, es gibt schon wieder eine Zwischenfrage von Frau Schäfer. Möchten Sie diese auch zulassen?

Aber gerne, Frau Kollegin.

Bitte schön, Frau Schäfer.

Herr Witzel, es dürfte Ihnen auch aufgefallen sein, dass ich nicht über die Gesamtschule und über ein integriertes System gesprochen habe. Ich habe schlicht und einfach über die Tatsache der längeren gemeinsamen Lernzeiten gesprochen. Herr Wößmann hat deutlich gemacht, dass jedes zusätzliche Jahr gemeinsamer Lernzeit – ob es nun fünf, sechs oder sieben Jahre sind – einen deutlichen Sprung nach vorne bedeutet, um den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Bildungserfolg schwächer werden zu lassen. Sie reden gerade über zwei völlig unterschiedliche Tatbestände und zitieren aus 2003. Lesen Sie einmal die Ausführungen von Herrn Baumert aus dem Jahre 2006!

(Zuruf von der FDP: Das war eine ganz tolle Frage!)

Frau Kollegin Schäfer, ich nehme Ihren Impuls gerne auf. Mir geht es um die Diskussion, die Sie sehr gerne unter dem Stichwort „Länger gemeinsam lernen“ führen. Ich möchte Sie ausdrücklich darauf hinweisen: Wissenschaft ist auch in ihrer Empirie heterogen. Aber es gibt neben der Wissenschaft

(Zurufe von der SPD)

die politische Bewertung gibt es sowieso, Frau Schäfer – auch die Schulpraxis. Ich würde Sie bitten, sich einmal mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung von Praxis auseinanderzusetzen. Wie hat sich die sechsjährige Grundschulzeit in Berlin ausgewirkt?

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Wößmann lesen! Le- sen bildet! – Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Die Erde ist eine Scheibe!)

Dazu ergeben die entsprechenden Begleituntersuchungen eine Verschlechterung der Chancen jener Schüler im Vergleich zu den Schülern, die nach Klasse 4 differenziert worden sind.

Fragen Sie am besten Ihre Kollegen in Niedersachsen, wie die dortigen Erfahrungen ausgefallen sind! Die haben bemerkenswerte Erkenntnisse aus der Schulpraxis, nicht aus irgendeinem Labor, sondern aus der Praxis gewonnen, die für sie auch politisch entscheidungsrelevant sind.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Jetzt mal zur schwedischen Praxis!)

Frau Schäfer, ich möchte Ihre Frage an dieser Stelle mit dem Hinweis beantworten: Wenn man – das wird ja nicht die freiwillige Entscheidung der SPD Niedersachsen gewesen sein; denn jede Partei, die in Regierungsverantwortung steht und etwas Neues einführt, hat es am liebsten, nach der Einführung sagen zu können: Es war ein Erfolg; alle Evaluationen bestätigen das; das setzen wir fort – in der Situation ist, auch in einer schwierigen öffentlichen Kommunikationslage das, was man probiert hat, zurückzunehmen, weil es in der Praxis gescheitert ist, sollte einem das zu denken geben. Ich würde mich freuen, wenn das auch für Ihre Handlungen und Aussagen in der Landesbildungspolitik von Nordrhein-Westfalen relevant wäre.

Ich möchte aber gerne auch auf die Ergebnisse der OECD-Bildungsstudie PISA eingehen, die uns alle für die zukünftige Ausrichtung beschäftigen sollten. Die Ergebnisse von PISA haben uns für Nordrhein-Westfalen gezeigt – als Abschlussbilanz Ihrer Arbeit –:

(Carina Gödecke [SPD]: Das sagten Sie schon fünf Mal!)

erstens dass wir in allen untersuchten Basiskompetenzen – Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften – sowohl unterhalb des internationalen OECD-Durchschnitts als auch unter dem Bundesmittel gelandet sind; zweitens dass NRW unter den vergleichbaren westlichen Flächenländern in Deutschland in der Summe aller drei Kompetenzmerkmale den vorletzten Platz einnimmt; drittens dass 25 bis 30 % aller Schüler in NordrheinWestfalen die sogenannte Risikogruppe bilden, die aufgrund ihrer gravierenden Kenntnismängel im Beruf sowie im späteren Leben überhaupt zu scheitern droht. Das finde ich sozial problematisch.

Deshalb haben wir uns als Koalition der Erneuerung aufgemacht und gesagt: Die Verläufe im Bildungsbereich müssen von der Kompetenz junger Menschen abhängig sein. Sie müssen gefördert werden; da müssen wir auch Leistung einfordern. Aber soziale Herkunft darf keine Bestimmungsvariable für Schulerfolg mehr sein – nie wieder für zukünftige Ergebnisse hier in NordrheinWestfalen.

Deshalb ist es uns sehr wichtig, die individuelle Förderung auszubauen. Wenn Sie sich die letzte Studie am Ende Ihrer Regierungszeit, also Ende 2004, von Infratest anschauen: Demnach hat fast jeder dritte Schüler an Haupt- und Realschulen sowie in der gymnasialen Oberstufe kommerzielle Nachhilfeleistungen in Anspruch genommen. Der

Bielefelder Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann hat errechnet, dass Eltern in NordrheinWestfalen jedes Jahr für ihre Schüler über 500 Millionen € an Nachhilfekosten zahlen. Fast ein Viertel der Eltern, deren Kinder Nachhilfe erhalten, bezahlen dafür monatlich mehr als 100 €. Die wichtigsten Nachhilfefächer sind dabei Deutsch, Englisch und Mathematik gewesen. So groß ist das Problemausmaß für Nordrhein-Westfalen: geschätzte über 500 Millionen € kommerzielle Nachhilfeleistungen.

Deshalb sind wir der Auffassung: Auch das ist eine Frage sozialer Chancen, dass öffentliche Schulen zukünftig ganz klar den Auftrag zur individuellen Förderung bekommen und hierfür über die Stundentafeln Kontingente zur Verfügung gestellt werden, die im Haushalt wiederum durch zusätzliche Stellen abgesichert sind.

Wir sind stolz darauf – wir ziehen ja eine Halbzeitbilanz –, dass wir den Unterrichtsausfall gesenkt haben. Ich sage hier ganz klar: Selbstverständlich sind wir noch nicht am Ende unserer Träume.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Dass Sie Träu- me haben, das glaube ich nicht!)

Wir haben noch Arbeit vor uns. Wir haben ja auch noch eine halbe Legislatur vor uns. Wir haben das Problem des Unterrichtsausfalls noch nicht komplett im Griff. Aber wir haben einen riesigen Schritt gemacht, indem wir ihn nahezu hälftig abgesenkt haben.

Insbesondere ist mir das ein Anliegen im Bereich der Förderschulen. Die alte Landesregierung hat bei ihrer letzten Stichprobe, veröffentlicht vom Landespresseamt am 17. November 2003, als Schule mit dem höchsten Unterrichtsausfall in der Sekundarstufe I die Schule für Lernbehinderte ausgewiesen. Ich glaube, gerade dort ist hoher Stundenausfall in ganz besonderer Weise sensibel. Deshalb freue ich mich, dass es uns geglückt ist, hier entsprechend nachzusteuern.

Wir haben die Schüler-Lehrer-Relation verbessert. Die ist nämlich zu Zeiten von Rot-Grün gestiegen. Sie haben uns dankenswerterweise in Landtagsdrucksache 13/190 und zum Ende der Periode in Landtagsdrucksache 13/6085 Zahlen hierzu geliefert. Sie können dort über alle Schulformen jeweils in Fünf-Jahres-Abschnitten nachvollziehen – Ausgangsbilanz von Rot-Grün 1995 zu Beginn ihrer zehnjährigen Regierungszeit, Zwischenstand 2000, Ende 2005 –, wie die Schüler-LehrerRelation gestiegen ist. Es freut uns, Ihnen heute mitteilen zu können, dass sich die Schüler-LehrerRelation verbessert hat, dass Klassen und Lern

gruppen in Nordrhein-Westfalen kleiner geworden sind.

(Beifall von FDP und CDU)

Wir sind noch nicht am Ende der Ziele, aber die Trendwende ist klar eingeleitet.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Das ist eine sta- tistische Größe!)

Wir werden diesen Kurs zur Verbesserung der Bildungschancen junger Menschen in NordrheinWestfalen fortsetzen. Sie haben in den zehn Jahren von Rot-Grün de facto eine Nichteinstellungspolitik für Junglehrer betrieben.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Hä?)

Sie haben deshalb einen so hohen Alterskegel hinterlassen. Wir machen uns jetzt auf den Weg – müssen es aufgrund der Altersjahrgänge auch –, hier erheblich einzustellen. Ohnehin wird jede Kraft, die aus Altersgründen ausscheidet, durch Neueinstellung ersetzt, und die 6.400 Stellen kommen künftig obendrauf.

Ich frage Sie allen Ernstes, Frau Löhrmann: Ist es nicht sinnvoller, dass wir über diese pragmatischen Verbesserungen im Bildungswesen sprechen,

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Horstmar, Schöppingen!)