Protocol of the Session on May 24, 2007

Wir verbessern die Rahmenbedingungen der Menschen in Nordrhein-Westfalen durch bessere Bildung, mehr Arbeit und bessere Gesundheit. Wir schaffen die Erneuerung der sozialen Marktwirtschaft und damit die Voraussetzungen, die Armut Schritt für Schritt wirklich abzubauen.

(Beifall von der FDP)

Der Sozialbericht NRW hat in der Medienberichterstattung einen breiten Niederschlag gefunden und insgesamt für viel Aufsehen gesorgt. Das halten wir zunächst einmal für ein positives Zeichen; denn diese gesellschaftliche Debatte ist wichtig.

Minister Laumann hat angekündigt, dass diese sozialpolitische Diskussion im ganzen Land zu führen ist – nicht nur in diesem Parlament. Auch das ist wichtig.

Es reicht eben nicht aus, hier nur Befunde zu diskutieren. Wir müssen über den parlamentarischen Tellerrand schauen und möglichst weite Teile der Gesellschaft auf bestimmte Problemlagen aufmerksam machen und auch gemeinsam Lösungen erarbeiten.

Die zum Teil dramatischen Zahlen wurden mehrfach von den Vorrednern angesprochen. Ich möchte nicht näher darauf eingehen. Besorgniserregend ist sicher die Tatsache, dass sich die Lebenssituation bestimmter Zielgruppen weiter verschlechtert hat: die Langzeitarbeitslosen, die Alleinerziehenden, die Migrantinnen und Migranten, die Familien mit den vielen Kindern.

Die Brisanz wird deutlich, wenn man sich die Daten genauer ansieht. Bei den Familien mit einem Kind unter 14 Jahren beträgt die Armutsquote 14,7 %, bei einer kinderreichen Familie mit vier Kindern beträgt die Armutsquote 59,7 %. Solange solche Zahlen da sind, können wir noch so viel diskutieren, dass NRW, dass Deutschland kinderfreundlicher werden soll; wir müssen gerade für die Familien die Rahmenbedingungen auf Bundesebene weiter verbessern, damit wir auch wieder Nachwuchs bekommen. Der Baby-Boom im Zusammenhang mit der WM ist ein erster Schritt; aber die Rahmenbedingungen müssen besser werden. Kinderreichtum darf kein Armutsrisiko mehr sein. Dann geht NRW wieder in die richtige Zukunft.

Der Handlungsbedarf gerade bei Kindern aus Migrantenfamilien ist besonders hoch. Das Risiko, dass diese Kinder in Armut aufwachsen, beträgt 43 %. Der Grund dafür liegt vor allem in der hohen Erwerbslosenquote gerade in Haushalten mit Migrationshintergrund. Für diese Gruppe beträgt die Quote 19 %, bei den türkischen Mitbürgern

sogar über 25 %. Insgesamt sind 44 % der türkischen Haushalte von Armut bedroht. Das sind Zahlen, die uns hier wirklich nicht kalt lassen sollten.

Die Kinder, die in einem solchen Elternhaus aufwachsen, haben es besonders schwer, die notwendigen Voraussetzungen zu erwerben, die sie für eine erfolgreiche Schullaufbahn und damit für eine erfolgreiche Ausbildung brauchen. Es ist allgemein bekannt, dass schulische und berufliche Bildung die entscheidenden Faktoren sind, wenn es gilt, Armut zu verhindern und Wohlstand durch persönliche Leistungsfähigkeit zu ermöglichen.

Gerade Kindern aus Migrationsfamilien fehlen aber oft bereits diese sprachlichen Fähigkeiten, um dem Schulunterricht folgen zu können. Aus gutem Grund ist die Landesregierung in diesem Bereich tätig geworden. Wir haben eben das Kinderbildungsgesetz mit der Sprachförderung im Kindergarten schon angesprochen, die jetzt erst ansetzt, die noch keine Ergebnisse produzieren kann, die aber Ergebnisse in fünf und in zehn Jahren produzieren wird. Das ist der Bereich, in dem wir Stück für Stück die Misere aufarbeiten.

(Beifall von der FDP)

Hinzuweisen ist auf die deutliche Verbesserung im schulischen Bereich, auch wenn die Grünen das wieder moniert haben. Die Verbesserungen sind wirklich vorhanden. Wenn man an die Schulen in Nordrhein-Westfalen kommt, sieht man, dass etwa der Unterrichtsausfall deutlich vermindert wurde. Das bestätigen nicht nur viele Lehrer, sondern auch viele Eltern. Das ist das, was wir mitbekommen, wenn wir im Land unterwegs sind.

Ein wichtiges Element unseres Verständnisses von Sozialstaatlichkeit besteht darin, aktiv dazu beizutragen, dass Missstände erst gar nicht entstehen: Prävention, der präventive soziale Staat. Wir wollen in erster Linie eine Hilfe zur Selbsthilfe in Form einer echten Chancengleichheit, die es allen Kindern ermöglicht, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen.

Wir müssen ihnen auch wieder Mut machen und ihr Leben mit Bildung, mit Ausbildung, mit Arbeit interessant machen. Es gibt doch heute auch in Nordrhein-Westfalen, selbst an Realschulen, Schüler, die, wenn man sie fragt: „Wie sieht deine berufliche Zukunft aus?“, sagen: „Ja, ich gehe auf Hartz IV.“ Sie sehen überhaupt keine Perspektive für sich und sehen nicht, dass das andere Leben ein besseres sein kann. Sie sagen: Ich bin doch nicht blöd, ich mache Hartz IV und gehe nebenbei schrauben.

Es ist bedrohlich, wenn solche Einstellungen bei Schülern sogar in Realschulen vorhanden sind. Wir brauchen eine Debatte, wie wir den Menschen ihre Perspektive mit Bildung, mit Ausbildung, mit Arbeit wieder interessanter machen, als es bisher geschehen ist.

(Beifall von der FDP)

Es ist ungerecht, wenn Kinder aus sogenannten bildungsfernen Elternhäusern von vornherein in der Entfaltung ihrer individuellen Fähigkeiten und Ressourcen behindert werden. Hier werden schon die Weichen gestellt werden, dass Bildungsmängel, Erwerbslosigkeit mit späterer Armut nahtlos von der einen in die andere Generation übergehen.

Verschärft wird diese Tatsache dadurch, dass wir uns seit geraumer Zeit auf dem Weg von der alten Industriegesellschaft in die Wissensgesellschaft entwickeln. Auch der Sozialbericht weist darauf hin und betont, dass vermehrt hochqualifizierte Fachkräfte mit anspruchsvollen Tätigkeiten gesucht werden und gleichzeitig einfache Tätigkeiten wegfallen, die in der Vergangenheit dafür gesorgt haben, dass auch Menschen ohne einen Schulabschluss und ohne eine Ausbildung ihren Unterhalt verdienen konnten.

Die verstärkte Automatisierung in vielen Bereichen ist ein wichtiger Grund für diese Entwicklung ebenso wie die Konkurrenzbetriebe im Ausland, die häufig zu viel geringeren Kosten produzieren können.

Diese Tendenz erschwert beispielsweise auch die Auftragslage in den Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Auch für diese Personengruppe gibt es weiterhin einen großen Handlungsbedarf. Noch gestern hat Minister Laumann betont, dass die Arbeitswelt von einer echten Integration von Menschen mit Behinderung noch weit entfernt ist – und das, obwohl sich die Lage am Arbeitsmarkt zum Glück allmählich entspannt. Wir denken aber, dass das Programm „Teilhabe für alle“ dazu beitragen wird, auch die Situation der behinderten Menschen Stück für Stück zu verbessern.

Ein wichtiges Handlungsfeld des schwarz-gelben Bündnisses ist selbstverständlich der Bereich der beruflichen Aus-, Fort- und Weiterbildung, obwohl zu betonen ist, dass hier in erster Linie auch Betriebe, Unternehmen die Verantwortung für die Schaffung von Ausbildungsplätzen, von Arbeitsplätzen zu tragen haben. Aus Anlass des bundesweiten Tages der Ausbildung hat unser Arbeitsminister ja noch einmal einen Appell an die Wirtschaft gerichtet, die positiven Konjunkturdaten und Entwicklungen für Aktivitäten im Bereich der

Ausbildung zu nutzen. Dies ist gerade angesichts der gestiegenen Zahl von Schulabgängern von großer Bedeutung.

Die Landesregierung beschränkt sich natürlich nicht nur auf Appelle. Ich will beispielhaft einige Aktivitäten erwähnen. Wir haben das Werkstattjahr für Jugendliche auf den Weg gebracht, die ihre Zeit ergebnislos in schulischen Warteschleifen verbracht haben und für die es bisher gar kein Angebot gab. Auch das Landesprogramm zur Ausbildungsförderung ist zu nennen. Mit dessen Hilfe sind bis Ende Dezember rund 3.150 neue Ausbildungsplätze entstanden. Darüber hinaus ist auf die Entwicklung der dritten Säule der Berufsausbildung hinzuweisen. Sie soll es gerade Jugendlichen mit Schwächen in theoretischer Bildung ermöglichen, einen anschlussfähigen Abschluss zu erreichen. Minister Laumann hat als Beispiel auf die einjährige Ausbildung in der Altenpflegehilfe hingewiesen. Bei einem erfolgreichen Abschluss ist es dann möglich, darauf aufzubauen und eine reguläre Fachkraftausbildung anzuschließen.

Selbstverständlich bleibt noch viel zu tun, damit sich die Lage auf dem Ausbildungsmarkt weiter entspannt. Die aktuellen Meldungen geben jedoch Anlass zu weiterer Hoffnung. Von den Mitarbeitern der Bundesagentur für Arbeit wurde gemeldet, dass von mehr als 12.000 Betrieben in NRW bisher immerhin 3.110 Ausbildungsplätze zugesichert wurden. Das sind immerhin 370 Lehrstellen mehr, als 2006 zugesichert wurden. Das ist immer noch nicht genug, aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

(Beifall von der FDP)

Ein besonderes Armutsrisiko bleibt das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit. Wir haben erst gestern im Plenum darüber debattiert

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Haben wir gar nicht! Das ist zwei Wochen her!)

und um die effektivste Form der Unterstützung der betroffenen Menschen gerungen. Dabei geht es neben der Frage, wie man Langzeitarbeitslosigkeit verhindern kann, auch um die Frage, wie man die Ausgestaltung des Niedriglohnsektors aktivieren kann. Zu erwähnen ist das Kombilohnmodell der Landesregierung. Auch darauf ist schon hingewiesen worden.

Leider sind ältere Menschen in besonderer Weise von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Gerade mit Blick auf die Rente mit 67 muss sichergestellt werden, dass ältere Menschen die Möglichkeit erhalten, erneut erwerbstätig zu werden oder es zu

bleiben. Lebenslanges Lernen und betriebliche Gesundheitsförderung spielen hierbei eine Schlüsselrolle. Aber auch ein verändertes Verständnis von den Potentialen des Alters in den Köpfen aller Beteiligten ist unerlässlich. Es ist sicher auch eine wichtige präventive Maßnahme gegen die Langzeitarbeitslosigkeit gerade von älteren Menschen.

Heute wird der Landtag über einen Antrag der Koalitionsfraktionen beraten, der sich mit den Potentialen des Alters, aber auch mit den Problemen von Altersdiskriminierung auseinandersetzt. Dies ist wichtig, weil Schwerbehinderungen gerade in höherem Lebensalter auftreten. 55,8 % der Menschen mit einer Schwerbehinderung in NordrheinWestfalen sind 65 Jahre oder älter.

Der demografische Wandel und die damit verbundene Zunahme an älteren Menschen stellt auch das Gesundheitssystem vor Herausforderungen. Auch hier gibt es einen engen Zusammenhang zur Bildungsfrage. Es ist bekannt, dass weniger gebildete Menschen viel häufiger gesundheitliche Risiken aufweisen.

Wir haben morgen im Rahmen der Aktuellen Stunde Gelegenheit, uns näher mit der Kindergesundheit auseinanderzusetzen.

Wenn man sich mit Armut auseinandergesetzt hat, geht es auch um die Definition. Herr Minister Laumann hat es angesprochen. Der Begriff Einkommensarmut beschreibt immer nur einen relativen Armutsbegriff. Wenn der Wohlstand in einem Land gleichmäßig steigt, ist das Armutsrisiko immer noch gleich hoch, wenn der Abstand bleibt. Das ist in der Debatte wichtig, heißt aber nicht, dass wir die existierenden Probleme kleinreden wollen.

Vielmehr sollte uns diese Unterscheidung Anlass geben, über die Bedeutung und das Selbstverständnis nachzudenken, die wirklich hinter den Leistungen des Sozialstaates stehen. Ungeachtet der mitunter abweichenden Vorstellungen sind sich die Fraktionen über die Ausgestaltung in einem Punkt hoffentlich einig: Wenn Menschen in Not geraten und nicht in der Lage sind, sich selbst zu helfen, muss ihnen die Gesellschaft solidarisch beistehen und ihnen jede erdenkliche Hilfe zuteil werden lassen.

Dass dies nicht nur ein frommer Wunsch bleibt, ist bei uns aber nicht nur ein Verdienst der sozialen Sicherungssysteme, die dringend modernisiert werden müssen, damit sie zukunftsfähig sind. Auch viele ehrenamtliche Helferinnen und Helfer tragen dazu bei. Daran sollte man bei diesem Armutsbericht erinnern. Wenn es diese freiwillig er

brachten Leistungen nicht gäbe, wäre unsere Gesellschaft sehr viel ärmer, und zwar nicht nur in finanzieller Hinsicht.

(Beifall von der FDP)

Die Notwendigkeit, diese sozialen Sicherungssysteme gerade aufgrund des demografischen Wandels, aber auch mit Blick auf die arbeitsmarktpolitischen Realitäten zu reformieren und zukunftssicher zu machen, ist ohne Alternative und allgemeingesellschaftliche Aufgabe. Darauf will ich ausdrücklich hinweisen. Nur so kann es gelingen, dass auch künftige Generationen auf schnelle und unbürokratische Hilfe vertrauen können, wenn sie in Not sind. Wir benötigen dort einen Systemwechsel.

Aus landespolitischer Sicht ist natürlich auch ein ausgeglichener Haushalt eine Form von nachhaltiger Sozialpolitik. Herr Henke hat es schon angesprochen. Es ist unsozial, aus dem Vollen zu schöpfen und die Schulden einfach an die nächste Generation weiterzugeben. Hinzu kommt, dass es irgendwann kaum noch Spielräume für sozialpolitische Weichenstellungen gibt, die eine Landesregierung vornehmen kann, wenn die Ausgaben nicht deutlich zurückgefahren werden.

Dieser Sozialbericht mit den Daten aus dem Jahre 2005 ist ein Armutsabschlusszeugnis von zehn Jahren rot-grüner Sozialpolitik. An diesen Daten werden wir uns in den nächsten Jahren messen lassen. Schwarz-Gelb will aus NordrheinWestfalen wieder ein Wohlstandsland machen. Fehlende Bildung, fehlende Arbeit und fehlende Gesundheit sind die größten Armutsrisiken, die wir Schritt für Schritt gemeinsam reduzieren werden. – Danke sehr.

(Beifall von FDP und CDU – Heike Gebhard [SPD]: Ja, ja!)

Vielen Dank, Herr Dr. Romberg. – Als nächster Redner hat für die Fraktion der SPD der Kollege Garbrecht das Wort.

(Zuruf von der SPD: Der Minister ist jetzt sprachlos!)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will zu Anfang sagen: Als Sozialpolitiker begrüße ich jede Gelegenheit, über die soziale Lage der Menschen im Land zu reden. Ich bedaure jede Chance, die in früherer Zeit nicht wahrgenommen worden ist. Aber ich will den Blick nicht rückwärts wenden.

Es gibt eine selektive Wahrnehmung. Seit 1992 machen wir im Land eine Sozial- und Armutsberichterstattung. Kein anderes Bundesland

(Wolfram Kuschke [SPD]: Richtig!)

hat dies seitdem getan. Wir haben aus jedem Bericht, Herr Minister, Konsequenzen gezogen, Schwerpunkte gesetzt und diese auch abgearbeitet. Einige Beispiele:

1995 war die Wohnungsnot, die Frage der Wohnberatung ein dringendes Thema. Wenn Sie sich den heutigen Bericht angucken – es gibt wohl nur wenige, die ihn in Gänze gelesen haben –, werden Sie feststellen, dass sich die Situation der obdachlosen, der wohnungslosen Menschen, die medizinische Versorgung gerade dieser Personengruppe deutlich verbessert hat.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)